Zwang durch Gewalt und Willkür – Kriminalisierung der Vertragsbrüche und Sanktionspraxis unter nationalsozialistischer Herrschaft
Zwang durch Gewalt und Willkür – Kriminalisierung der Vertragsbrüche und Sanktionspraxis unter nationalsozialistischer Herrschaft
Während der nationalsozialistischen Herrschaft leitete die deutsche Reichsregierung gegenüber der liberalen Tradition des Arbeitsrechts einen Paradigmenwechsel ein. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete nicht mehr das rechtlich freie und gleiche Individuum, sondern die rassistisch definierte „Volksgemeinschaft“. Aus ihrer Sicht hatte das Individuum seine Interessen zugunsten jener des deutschen „Volks“ zurückstellen.* In den betrieblichen Arbeitsbeziehungen führte die NS-Regierung dieses Prinzip ein, indem sie am 20. Januar 1934 mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG), der Arbeitsverfassung des Deutschen Reichs zwischen 1933 und 1945, AN und AG dazu verpflichteten, zugunsten der „Betriebsgemeinschaft“ und zum Nutzen des „Volkes“ zu handeln.*) Was das konkret bedeutete, ließ das Gesetz jedoch offen. Von unmittelbaren Zwangsbestimmungen für die Arbeitsverhältnisse sah die NS-Reichsregierung zunächst ab. Das änderte sich jedoch mit zunehmender Herrschaftsdauer der Nationalsozialisten. Die NS-Reichsregierung griff tief in die Arbeitsmarktfreiheit ein. Die Forschungen zum Arbeitsrecht haben präzise elaboriert, in welchem Ausmaß die Aufnahme und Beendigung von Arbeitsverhältnissen immer stärker von der Arbeitsverwaltung kontrolliert wurde.*
Ein spezifischer arbeitsrechtlicher Fall bleibt dagegen aus rechtsgeschichtlicher Perspektive weitgehend unberücksichtigt: Die Frage nach dem Grad an Zwang, der auf der Erfüllung von Arbeitsverhältnissen wirkte. Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Anknüpfend an die Forschungen von Robert J. Steinfeld und Thorsten Keiser wird der rechtliche Umgang mit Vertragsbrüchen als ein Kriterium für die Freiheit oder Unfreiheit von Arbeitsverhältnissen betrachtet.* Wie wandelte sich die rechtliche Lage für das Regelungsproblem nichterfüllter Arbeitsverträge? Wie wurde diese in der Praxis ausgeschöpft?
Als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 1933 ihre Herrschaft antrat, verfolgte sie im Bereich der Arbeitsbeziehungen neben dem Ziel, die potenziell oppositionelle Arbeiterbewegung auszuschalten auch die Absicht, den „Klassenkampf“ zu überwinden und an seine Stelle die „Volksgemeinschaft“ zu rücken. Unverrückbare Vorgabe der83NSDAP war es dabei insb, den immer wieder aufbrandenden Tarifkonflikten ein Ende zu bereiten. Entsprechend hob die NS-Reichsregierung die Tarifautonomie auf und löste die ehemaligen Tarifparteien auf. An deren Stelle befugte die Reichsregierung die „Treuhänder der Arbeit“, eine im Mai 1933 gegründete und regional verankerte Behörde, überbetriebliche Regelungen festzulegen. Das Erlassen solcher „Tarifordnungen“ sollte aber dezidiert die Ausnahme sein. Die Regelung der Arbeit hatte sich in die einzelnen Betriebe zu verlagern. AG und AN sollten eine neue Form „gemeinschaftlichen“ wirtschaftlichen Handelns entwickeln. In den kleinen sozialen Einheiten der Betriebe (und Betriebsabteilungen) wurde ein Kommunikationsraum gesehen, in dem „Betriebsführer“ und „Gefolgschaft“ eher Verständnis für die individuellen Bedürfnis- und Problemlagen entwickeln würden als dies in kollektiven Verhandlungen mit akkumulierten Interessen möglich sei. Ziel war es, dass auf diese Weise Konflikte gar nicht erst entstehen würden oder sich zumindest schnell auflösen ließen.
Allerdings situierte die Reichsregierung die innerbetriebliche Kommunikation durch die Einführung des „Führerprinzips“ ausgesprochen hierarchisch. Die AN verloren nicht nur ihre kollektiven Interessenvertretungen und überbetrieblichen Mitspracherechte, sondern partizipierten ebenso wenig an innerbetrieblichen Entscheidungen über die Arbeitsbedingungen. An die Stelle des BR rückte die NS-Reichsregierung den „Vertrauensrat“, der jedoch nur noch beratende Funktion hatte.* In der Folge führte der „Vertrauensrat“ in vielen Unternehmen ein Schattendasein.* In vielen Betrieben stellten sich weder die intendierten „betriebsgemeinschaftlichen“ Beziehungen ein, noch waren die Beschäftigten dazu in der Lage, ihre Interessen geltend zu machen.
Die Abkehr von kollektiven Verhandlungsmodi führte dazu, dass sich die Arbeitsbeziehungen individualisierten. Die einzelnen AN waren oftmals auf sich allein gestellt und mehr denn je vom Arbeitsmarkt und ihrer innerbetrieblichen Machtstellung abhängig. Ihre Möglichkeiten, die eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern, beschränkten sich im Kern auf individuelle Vertragsverhandlungen und den Wechsel des Arbeitsplatzes. Je stärker sich der Arbeitsmarkt seit Mitte der 1930er-Jahre zu Gunsten der Beschäftigten wandelte, desto häufiger nutzten sie die Chance, ihren Betrieb zu wechseln – zumal sich ihre Löhne 1933 noch auf dem niedrigen Niveau der Weltwirtschaftskrise bewegten. Um möglichst schnell von den besseren Arbeitsbedingungen zu profitieren, beendete eine zunehmende Anzahl an Arbeitskräften ihre Arbeitsverhältnisse ohne die Kündigungsbestimmungen einzuhalten. Die Individualisierung der Arbeitsbeziehungen korrespondierte mit einer Individualisierung der Arbeitskonfliktformen.
Damit entwickelten sich die Vertragsbrüche für die Treuhänder der Arbeit zum Problem. Diese waren von der NS-Reichsregierung beauftragt, zum einen den „Arbeitsfrieden“ zu wahren und zum anderen einen Anstieg der Stundenlöhne möglichst zu verhindern. Die Vertragsbrüche standen beidem entgegen. Je mehr AN ihre Verträge brachen, desto ersichtlicher markierten sie das Scheitern der Treuhänder, den „Arbeitsfrieden“ zu wahren. Und ebenso erhöhten die unrechtmäßigen Stellenwechsel den Druck auf die Löhne. In dem Maße, in dem die Anzahl der Kontraktbrüche anstieg, delegitimierten diese die Treuhänder-Verwaltung, weil diese ihre Zwecke zunehmend schlechter erfüllen konnte. Die Behörde stand dabei vor dem Problem, dass sie die Situation nicht auflösen konnte. Tarifliche Verbesserungen hätten die Arbeitskonflikte zwar entschärfen können, aber das Lohnniveau angehoben. Die Fortsetzung der Niedriglohnpolitik hingegen machte wahrscheinlicher, dass weitere individuelle Konflikte aufbrachen. Nachdem die Reichsregierung 1935 unmissverständlich klarstellte, am bisherigen Lohnkurs festzuhalten,* konnten die Treuhänder kaum Einfluss darauf nehmen, dass die Anzahl der Vertragsbrüche von Jahr zu Jahr anstieg und in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre auch rüstungsrelevante Branchen wie den Bergbau betraf. Allein in Westfalen verließen 1941 rund 25.000 Arbeitskräfte ihre Zechen, ohne die Kündigungsfristen zu beachten.*
Die Treuhänder der Arbeit reagierten darauf, indem sie mittels hochumstrittener Auslegungen zuerst des Arbeitsordnungsgesetzes (AOG) und 1938 der Lohngestaltungsverordnung, die Nichterfüllung von Verträgen schrittweise kriminalisierten.* Den Anfang machten die brandenburgischen und ostpreußischen Treuhänder-Behörden. Verstöße gegen vertraglich geregelte Kündigungsfristen interpretierten sie nicht nur als Vertragsbruch, sondern, sofern diese Fristen auch tariflich festgelegt waren, als Verstoß gegen ihre Tarifordnungen. Indem sie diese wiederum als Anordnung auslegten, würden Verstöße gegen die Kündigungsfristen aus ihrer Sicht als wiederholt vorsätzliche Zuwiderhandlung gegen ihre Anordnungen nach § 22 des AOG mit Geld- oder Gefängnisstrafen sanktioniert werden können. Alternativ würden diese gem § 36 auch als hartnäckige Zuwiderhandlung gegen schriftliche Anordnungen der Treuhänder vor die Sozialen Ehrengerichte gebracht werden können.*84
Allerdings sind nur wenige Gerichtsverfahren überliefert, in denen sich diese Deutungen bestätigten. Viel zu umstritten war die rechtliche Grundlage dieser mittelbaren Kriminalisierung seitens der Treuhänder-Behörden.* Wenige Jahre später setzte sich der ostpreußische Treuhänder allerdings doch durch. Die im Juni 1938 erlassene Lohngestaltungsverordnung ermächtigte die Treuhänder der Arbeit, „die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu überwachen und alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um eine Beeinträchtigung der Wehrhaftmachung und der Durchführung des Vierjahresplans durch die Entwicklung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen zu verhindern
“.* Die Deutungsoffenheit dieser Verordnung machte sich der ostpreußische Treuhänder zunutze. Mit der Begründung, dass Vertragsbrüche die Aufrüstung gefährden würden, erließ er im Oktober 1938 eine Anordnung, die es AN verbot, ihre vertraglichen Kündigungsfristen zu missachten. Dadurch konnten AG künftig bei den Treuhändern der Arbeit eine Anzeige einreichen, welche die Behörde, sofern sie die beschuldigte Person nicht für unschuldig hielt, an die Strafgerichte weiterleitete.
Anders als wenige Jahre zuvor unterstützten die übrigen Treuhänder und das Reichsarbeitsministerium diese Ausdeutung der Gesetzeslage nachdrücklich. Die Treuhänder aller Wirtschaftsbezirke führten 1938/39 peu à peu und auch in der „Ostmark“ ähnliche Regelungen ein.* Der Lohnauftrieb und die Anzahl der individuellen Arbeitskonflikte hatte inzwischen auch für sie solche Ausmaße erreicht, dass sie ihre rechtlichen Bedenken zur Seite schoben. Weil sie keinen Einfluss auf die Ursachen der abnehmenden Geltung von Arbeitsverträgen nehmen konnten, versuchten sie stattessen, die Symptome zu bekämpfen. Für die Treuhänder ging es darum, durch die Androhung harter Strafen vor Vertragsbrüchen abzuschrecken. Die Schadensersatzzahlungen, die nach den zuvor geltenden privatrechtlichen Konfliktlösungsmechanismen fällig werden konnten, hatten sie als zu mild empfunden.*
Anders dagegen die Perspektive der Staatsanwälte und Richter. Ua aus Österreich meldeten sich kritische Stimmen, die den Treuhändern die Befugnis aberkannten, Vertragsbrüche zu kriminalisieren und Strafanträge zu stellen. Der Linzer Generalstaatsanwalt etwa kritisierte, dass die Anordnungen der Treuhänder sich „nur mit den Worten“ auf die Lohngestaltungsverordnung beziehen würde, „inhaltlich“ seien sie nicht von ihr „gedeckt“.* Für viele Gerichte stellten diese Fälle zudem eine so unbedeutende Angelegenheit dar, dass sie gem § 153 der Strafprozessordnung (StPO) keine Hauptverhandlung eröffneten. Hinzu kam, dass viele Gerichte mit den hohen Fallzahlen vollkommen überfordert waren. In der Folge mündeten einer statistischen Auswertung des Reichsarbeitsministeriums zufolge bis Juli 1939 lediglich knapp 20 % aller Strafanträge der Treuhänder-Behörden auch in einem rechtskräftigen Urteil.*
Bereits ein Jahr später zeigte sich Werner Mansfeld, Ministerialdirektor im Reichsarbeitsministerium, aber zufrieden mit der gerichtlichen Praxis.* Zwar ist nicht überliefert, wie die Treuhänder und das Ministerium vorgingen, aber im Ergebnis hatten sie mit Hilfe des Reichsjustizministeriums die Gerichte davon überzeugt, die Strafanträge der Treuhänder zu akzeptieren und Vertragsbrüche nicht mehr als Bagatellfälle zu behandeln, sondern mit Gefängnishaft schwer zu bestrafen. Die wenigen Staatsanwälte und Richter, die sich diesem Trend nicht anschlossen, überzeugte schließlich eine reichsweit geltende Anordnung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) am 20. Juli 1942, welche die verschiedenen regionalen Anordnungen vereinheitlichte und auf eine neue Rechtsgrundlage mit reichsweiter Geltung stellte.* Anders als die Treuhänder-Behörden war der GBA befugt, Verordnungen zu erlassen.*
Allerdings rissen die Debatten nicht ab, auf welche Weise der Druck auf die AN erhöht werden könne, damit diese ihre Verträge erfüllten. Das hatte verschiedene Gründe. Zuerst zeigte sich, dass die Anzahl der Vertragsbrüche trotz der Kriminalisierung während des Kriegs in die Höhe schoss, da sich zum einen die Arbeitsbedingungen insb durch den Anstieg der Arbeitszeit noch einmal verschlechterten und zum anderen Millionen an ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern ins Reich geholt wurden. Diese reagierten auf ihre häufig unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen aber oftmals mit der Flucht, was ihnen als Vertragsbruch ausgelegt wurde.* Sowohl die Treuhänder-Behörden als auch die Gerichte zeigten sich indes zumindest noch in der ersten Kriegshälfte als vollkommen überfordert, die hohen Fallzahlen zu bewältigen. Beide Entwicklungen wiederum trafen auf neue wirtschaftliche Dringlichkeiten, die durch den Kriegsbeginn und -verlauf entstanden. Angesichts der wirtschaftlichen Unterlegenheit des Deutschen Reichs gegenüber den Alliierten lauteten die Vorgaben des NS-Regimes, das vorhandene Arbeitspotenzial so weit wie möglich auszureizen. Dadurch erhielt die Frage der Erfüllung von Arbeitsverträgen ungeahnte Relevanz. Weil es Konsens war, dass die Arbeits-85bedingungen angesichts des Krieges nicht verbessert werden konnten, wurde nur eine Möglichkeit gesehen, die Vertragsbrüche einzudämmen: Die Abschreckung musste mittels härterer Strafen und verkürzter Verfahren erhöht werden.*
Festhalten lassen sich fünf Entwicklungen, welche die Sanktionsverfahren und -praktiken künftig prägten.
Zu nennen ist die Ausweitung der Tatbestände. Die Anordnungen der Treuhänder stellten faktisch nicht nur die Nichterfüllung unter Strafe, sondern auch die Schlechterfüllung. Als Vertragsbruch galt nicht mehr nur die nicht fristgerechte Auflösung des Arbeitsverhältnisses, sondern auch einzelne Fehlzeiten, vermeintlich absichtlich langsames Arbeiten („Bummeln“) und der verspätete oder ausbleibende Arbeitsantritt. Aber auch AG konnten angezeigt werden, wenn sie Arbeitskräfte zum Vertragsbruch verleiteten oder wenn sie AN beschäftigten, die vertraglich noch an ein anderes Unternehmen gebunden waren.*
Zweitens sind Eingriffe in die gerichtliche Praxis zu erwähnen. Zuerst ist die Einführung „beschleunigter Verfahren“ vor den Gerichten anzuführen.* Mit Kriegsbeginn und spätestens seit dem Frühjahr 1941 konnten die Treuhänder einen Antrag auf ein Schnellverfahren stellen. Bei positivem Bescheid musste die Hauptverhandlung „sofort“ oder „mit kürzester Frist“* anberaumt werden. Doch auch abseits dieser Schnellverfahren drang das Justizressort auf einer Verkürzung der Sanktionsverfahren. Es erklärte 1943, dass Zeugen nur noch ausnahmsweise vorgeladen werden sollten und hielt die Staatsanwälte dazu an, ihre Anklage weitgehend auf die Ermittlungsergebnisse der Reichstreuhänder zu stützen.* Letztere waren allerdings aufgefordert, „ohne umständliche Verfahren und langwierige Vernehmungen“* ihre Ermittlungen auszuführen. Darüber hinaus wurden die Staatsanwälte und Richter sogar explizit dazu aufgefordert, ihre Anklagen und Urteile an den Interessen der Treuhänder- und Arbeitsverwaltung auszurichten.* Das Justizressort empfahl den Gerichten zudem, „empfindliche Strafen“* auszusprechen. Es verbot sogar, Geldstrafen zu verhängen, die Angeklagten freizusprechen oder die Gerichtsverfahren gem § 153 der StPO einzustellen. Milderungsgründe seien nicht mehr zu berücksichtigen.*) Seit 1942 weitete sich die Praxis aus, die Gerichtsverfahren aus den Gerichtsgebäuden in die Betriebe zu verlagern und als Schauprozesse vor den Belegschaften abzuhalten.*
Drittens ist eine Verschärfung der Strafmittel zu konstatieren. So traten neben die Geld- und Gefängnisstrafen der Gerichte noch in der ersten Kriegshälfte die Inhaftierung in Polizeigefängnissen, „Arbeitserziehungs- und Konzentrationslagern“ hinzu. Besonders im Fall der ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter konnten die Sondergerichte sogar die Todesstrafe verhängen.
Viertens ist die Verlagerung der Sanktionierung aus den Gerichten hin zu den Treuhänder- und Polizeibehörden zu verzeichnen. So erhielten die Treuhänder der Arbeit kurz nach Kriegsbeginn die Befugnis, Ordnungsstrafen zu verhängen.* Zudem wurde seit 1938/39 in zunehmendem Maße auch die Gestapo mit der Verfolgung und Bestrafung von Vertragsbrüchen betraut. Faktisch etablierte sich dabei eine lose Arbeitsteilung zwischen den beiden Behörden. Die Fälle der ausländischen Arbeitskräfte übernahm zunehmend die Gestapo. Das bedeutete in den meisten Fällen, dass die Gerichte damit außen vor waren, da die Gestapo über eigene Strafmöglichkeiten verfügte. Die deutschen Fälle blieben dagegen weitgehend bei den Treuhänder-Behörden sowie ihren Beauftragten in den Arbeitsämtern. Diese hatten die Möglichkeit, die für schuldig Befundenen AN zu verwarnen, mit einer Geldstrafe zu belegen sowie einen Antrag auf „Schutzhaft“ oder „Arbeitserziehungs- und Konzentrationslager“ bei den Polizeibehörden zu stellen.
Fünftens schließlich muss die Verwaltungspraxis der Treuhänder- und Polizeibehörden sowie die Urteilspraxis der Gerichte genannt werden. Zwar liegen darüber nur regional begrenzte und bruchstückhafte Informationen vor. Die vorliegenden Daten legen aber nahe, dass alle drei Organisationen ihre Sanktionspraxis gravierend verschärften. Die Entscheidungen der Treuhänder-Verwaltung in Westfalen beispielsweise liefen darauf hinaus, dass 1939 noch 85 % aller von ihr für schuldig befundenen Arbeitskräfte mit einer Verwarnung oder einer Ordnungsstrafe davonkamen. Demgegenüber erhöhte sich der Anteil derjenigen, die sie in den Gefängnissen, „Arbeitserziehungs- und Konzentrationslagern“ inhaftieren ließen bis 1942 auf 40 %.* Die Gestapo, ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen, entschied in über 55 % der Fälle auf die Einweisung in ihre „Arbeitserziehungslager“, in weiteren 20 % übergab sie die ausländischen Arbeitskräfte den „Konzentrationslagern“.* Die Anzahl der Gerichtsverfahren stieg von 2.364 in861941 auf 15.527 allein in der ersten Hälfte des Jahres 1943.* Dabei ist besonders für Frauen eine Verschärfung der Urteilspraxis festzustellen. Die durchschnittliche Höhe der Gefängnisstrafe stieg zwischen 1940 und 1944 von 6,8 Wochen auf 10,6 Wochen an.* Die Sanktionen gegen Jugendliche verschärften sich insofern, als sie während des Krieges auch nach Erwachsenstrafrecht behandelt werden und in Jugenderziehungslager eingewiesen werden konnten.* Die Sanktionspraktiken verloren mit zunehmender Herrschaftsdauer ihre Schranken.
Mit zunehmender Herrschaftsdauer verstärkte das NS-Regime seinen Zugriff auf die Arbeitsverhältnisse erheblich. Die Arbeitsverwaltung konnte per Dienstverpflichtung seit 1938/39 Arbeitskräfte aus bestehenden Arbeitsverhältnissen lösen und zwangsweise in andere Unternehmen versetzen. 1939 verbot das Reichsarbeitsministerium einseitige Kündigungen und machte 1942 sogar einvernehmliche Kündigungen in kriegsrelevanten Branchen abhängig von der Zustimmung der lokalen Arbeitsämter. Selbst die Entscheidung über die Arbeitsentgelte wurde den AG und AN entzogen, als das Reichsarbeitsministerium in den ersten Kriegswochen das Lohnniveau einfror und Lohnerhöhungen verbot. Wer wann, wo, zu welchen Bedingungen und wie lange arbeitete, diese Entscheidungen traf zunehmend der Staat. Eine Verbesserung der Einkommen, sei es durch individuelle Vertragsverhandlungen, sei es mittels Arbeitsplatzwechsel, war fast nur noch möglich, wenn man gegen diese Normen verstieß und sich strafbar machte.
Besonders ausgeprägten Zwang übte der Staat auf die Erfüllung der Arbeitsverträge aus. Nicht nur weitete er die Handlungen, die als Vertragsbruch galten, immer weiter aus, sondern vor allem verschärfte er die Strafen gravierend. Besonders die unmenschlichen Bedingungen in den berüchtigten „Arbeitserziehungslagern“, in denen die Mortalitätsraten teilweise bei bis zu 60 % lagen,* erhöhten den Druck auf die AN erheblich. Zusätzlich verschärfte sich die Lage noch dadurch, dass die Verwaltungs- und Urteilspraxis sich immer weniger damit aufhielt, eine zweifelsfreie Beweislage herzustellen. Besonders in der zweiten Kriegshälfte trat die Frage nach der Schuld der angezeigten AN zusehends in den Hintergrund. Wichtiger wurde demgegenüber, dass die jeweiligen Fälle so schnell wie möglich bearbeitet wurden. Gerade im Fall der außergerichtlichen Bestrafung hatte das katastrophale Konsequenzen, denn die Entscheidungen der Treuhänder und Gestapo konnten gerichtlich nicht angefochten werden. Die einzig verbliebene Option der AN war es, eine Beschwerde einzureichen. Über die entschieden aber keine externen Instanzen, sondern die jeweiligen Behörden selbst. Strafen bis hin zum Tod und die Aufgabe jeglicher Rechtssicherheiten – das NS-Regime übte einen kaum mehr zu überbietenden Zwang auf die Erfüllung der Arbeitsverträge aus.
Vergleicht man diese Sanktionspraxis mit jener des 19. Jahrhunderts, als das Regelungsproblem nicht erfüllter Arbeitsverträge teilweise ebenfalls in die öffentliche Rechtssphäre fiel, fällt nicht nur die extreme Form der Gewalt und Willkür auf. Ebenso hatte sich die Funktion der Bestrafung von Vertragsbrüchen verändert. Ging es im 19. Jahrhundert noch darum, durch das Eingreifen der Polizei Streiks zu verhindern und die Machtstellung der AG im Betrieb zu sichern, spielte diese beiden Faktoren während der NS-Diktatur eine untergeordnete Rolle, auch wenn vom Zwang zur Erfüllung der Verträge angesichts des akuten Arbeitskräftemangels teils die AG profitierten. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass einige Strafbestimmungen auch die Unternehmer betrafen. Auch, wenn diese in der Praxis keine große Rolle spielten, war das eine neue Entwicklung. Zudem dürfte es vielfach kaum in ihrem Sinne gewesen sein, wenn sie diejenigen Arbeitskräfte behalten mussten, die nicht gewillt waren, im Betrieb zu bleiben. Es waren mit zunehmender Herrschaftsdauer also weniger die unternehmerischen Interessen, denen die Zwangsmaßnahmen dienten. Es waren in erster Linie die kriegswirtschaftlichen Interessen des NS-Regimes. Die Disziplinierung zur Arbeit verfolgte die Ziele, den Arbeitsmarkt besser kontrollieren und steuern zu können, den Lohndruck abzuschwächen und den Arbeitskräftemangel wenigstens teilweise zu kompensieren. Ihnen opferte das NS-Regime die Freiheitsrechte der AN und AG.87