Attac (Hrsg)Entzauberte Union – Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist
Mandelbaum Verlag, Wien 2017, 272 Seiten, € 15,–
Attac (Hrsg)Entzauberte Union – Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist
Die Union ist nicht nur Zielscheibe rechtsnationalistischer und rechtspopulistischer Strömungen, sondern fundamental(istisch)e EU-Kritik ist inzwischen auch zu einer bevorzugten intellektuellen Spielwiese eines keineswegs bedeutungslosen Teiles von Organisationen, Denkschulen und Publizisten avanciert, die sich als „links“ verstehen. Ihnen gilt die EU grundsätzlich als neoliberales Projekt par excellence. Sie treibt dabei die Frage um, ob die EU überhaupt „reformierbar“ ist. Wenn dazu Attac – als eine der prominentesten systemkritischen Plattformen in Österreich – eine Publikation vorlegt, verdient schon das alleine Aufmerksamkeit.
Der Titel des hier besprochenen Bandes grenzt an Genialität, er ist rätselhaft und man kann ihn als Ausdruck der verdichteten Dilemmata und Paradoxien der EU-Frage begreifen. Einerseits soll die EU nicht zu retten sein, aber auch ein Austritt ist keine Lösung. Fragen wir uns im Folgenden, ob das eine intelligente Beschreibung der Situation darstellt, die allenfalls sogar dazu in der Lage ist, die vielfach völlig verfestigten Positionen in Diskursen zu verflüssigen. So viel sei vorweggenommen: Im Laufe der Lektüre löst sich das Rätsel, allerdings, wie ich nachfolgend darlegen möchte, in einer eher unerfreulichen Weise.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Einem Analyseteil, der eine Vielzahl von Politikbereichen und Problemfeldern betrifft, folgt ein Abschnitt über „Konsequenzen“, in dem sich ua drei Interviews mit Kennern und Analytikern der EU finden. Im abschließenden Teil werden Strategien vorgestellt.
Die Analysen enttäuschen nicht nur deswegen, weil der zur Verfügung gestellte Platz für ganze zwölf (!) Handlungsfelder (etwas mehr als 80 Seiten) viel zu knapp bemessen ist, um mehr zu bieten als plakative und nicht selten ermüdend oft gehörte Kritik. Leider sind Auswahl und Deutung der Befunde durchwegs von problematischen Vorverständnissen geprägt. So wird die Union durchgängig als „neoliberal“ gekennzeichnet. Das entspricht zwar dem Grundkonsens im linken Spektrum, ist aber einseitig und ungenau. Zum einen steht diese Diagnose für die Unterscheidung zwischen einem guten (dem fordistischen) und einem schlechten neoliberalen (Finanzmarkt-)Kapitalismus – nach dem Motto: Keynesianismus, Sozialpartnerschaft und Umverteilung, mehr brauchen wir nicht. Kapitalismuskritik wird abseits jeder halbwegs konsistenten Kapitalismustheorie vor allem an der „neoliberalen“ Variante festgemacht. Dass Kapitalismus per se krisenhaft ist und systemimmanent zu prekären Lösungen tendiert, daher auch die „neoliberale Wende“ kein Zufall ist, sondern ein systemnotwendiger Reorganisationsprozess, wird dabei völlig übersehen. Vielleicht sollte man doch mal einen Blick auf das „Kapital“ (MEW 23-25) riskieren.
Das Etikett „neoliberal“ verkennt aber auch, dass der EU, so wie sie heute ist, Potenziale inhärent sind, die gegenüber der in den Nationalstaaten massiv gesunkenen Gestaltungsmacht ein Gegengewicht bilden. Ebenso verkannt wird, dass der soziale und ökologische Fortschritt ein Kernelement der EU ist und diese von ihrer Konzeption her eine dem Europäischen Sozialmodell und dem Ziel der Nachhaltigkeit verpflichtete Rechtsgemeinschaft ist. Es wäre daher zu untersuchen, warum sich in diesem ausdifferenzierten System diese Ziele nicht durchzusetzen vermögen. Aber derlei Feinarbeit ist nicht das Anliegen der Autoren dieses Bandes. Gröber formuliert: „die EU“ gibt es nicht. Man muss sich die komplizierte Gemengelage aus progressiven, aufklärerischen, deregulierenden und wirtschaftsliberalen Elementen schon genauer ansehen. Der Band zielt93über weite Strecken daher auf einen selbst gebastelten Pappkameraden.
Ärgerlich ist auch, dass viele der oft richtigen Befunde mit „der EU“ kausal verknüpft sind. Die Beiträge unterliegen dem (gerade in Österreich sehr populären und politisch eifrig gefütterten) Denkfehler, unerfreuliche Tendenzen (ja möglichst alles Leid der Welt) monokausal der EU zuzuschreiben. Zu untersuchen, welchen Beitrag dazu aber die Nationalstaaten, die Wähler, die Konsumenten oder eben auch unter kapitalistischen Verhältnissen nicht beherrschbare „Bewegungsgesetze des Kapitals“ dazu leisten, würde der vorliegenden EU-Kritik ihre so ausgeprägte Aggressivität nehmen. Auf Grund dieser diagnostischen Ungenauigkeiten bei der Diagnose missraten in einer Zeit multipler Krisen ganz von selbst richtige Befunde zu einem veritablen Kesseltreiben gegen die Union.
Der Abschnitt „Analyse“ ist auch gespickt mit Phrasen und Gemeinplätzen. Es wird an die „internationale Solidarität“ appelliert, der EU müsse man etwas „entgegenstellen“, die Macht der Finanzmärkte müsste „gebrochen“ werden und es sollte „Sand ins Getriebe“ gestreut werden und subversiver Widerstand gegen die Rechtsakte der EU sei angebracht.
Der zentrale rote Faden des Buches ist das Dogma von der Unrettbarkeit und Reformunfähigkeit der EU. Damit verschüttet man aber die Chance einer differenzierten Analyse, woran sozialer, ökologischer und humanitärer Fortschritt in der EU eigentlich scheitert. Die widersprüchlichen Ansätze und Potenziale in der EU zu begreifen und dies zu einer Theorie fortschrittlicher, emanzipatorischer transnationaler Regulierung weiter zu entwickeln, wird in diesem Band nicht einmal in Ansätzen als Aufgabe erkannt.
Die Unverzichtbarkeit einer transnationalen staatlichen Struktur kommt für mich nur an einer Stelle zum Ausdruck, nämlich in den Aussagen von Lukas Oberndorfer, der einer der besten Kenner der Regulationsverhältnisse der EU ist. Ausgerechnet im Kapitel „Eine grundlegende EU-Reform ist de facto unmöglich“ (116 ff) hebt er hervor, dass die Frage der Mitgliedschaft angesichts der vorhandenen Integrationsdichte sekundär ist. Die daraus abgeleitete Forderung nach einer grundlegend neuen Unionsverfassung kann nur voll unterstützt werden. Dieser Denkschule, die den Fokus auf eine neue Unionsverfassung richtet, geht es gerade nicht um eine Propagierung und Erweiterung zivilgesellschaftlicher Spielwiesen, sondern um eine Neugründung der Union als Staat – mit allen Attributen und Funktionen.
Die durch monokausale Problembeschreibungen bedingte Unterkomplexität der Analysen zeigt sich ua im Kapitel „Lohnpolitik“. Ein Vorwurf lautet hier, dass die EU nicht auf die berechtigten Forderungen der Gewerkschaften reagiert. Dabei wird geflissentlich verschwiegen, wie gespalten die europäischen Gewerkschaften in vielen Fragen der AN-Politik sind. Sie setzen de facto keineswegs auf eine europäische Arbeits- und Sozialpolitik, sondern befürchten eher den Wegfall nationalstaatlicher Gestaltungsmöglichkeiten, wie sich am Beispiel der Entsendungen besonders deutlich zeigt.
Insgesamt lassen sich die den Beiträgen zugrundeliegenden Prämissen und konzeptionellen Annahmen als eine Variante des im linken Lager nunmehr recht beliebt gewordenen Strategieansatzes einer „Globalisierung von unten“ subsumieren. IdS geht es darum „die EU-Maschinerie ins Stottern bringen“, „Widerstand von unten zusammenzudenken“, es geht um „strategischen Ungehorsam“, um Basisbewegungen in Lateinamerika, Initiativen für eine alternative Landwirtschaft oder um Städte als Orte des Experimentierens, ein bisschen nach dem Motto: Lasst tausend NGOs blühen und alles wird gut. Hingegen wird den europafreundlichen Teilen der Linken vorgeworfen, eine ideologisch geprägte falsche Verteidigung und Schönfärbung der EU zu vertreten. In einem weiteren Kapitel werden ausführlich die Versprechungen der Union dekonstruiert. Völlig jenseits jeglicher Nachvollziehbarkeit ist dabei der Vorwurf, dass die EU keine Antwort und kein Gegengewicht gegen die nationalistische Rechte ist und (sic!) auch kein Friedensprojekt darstellt.
Auf diese Weise entzaubert der vorliegende Sammelband weniger die EU als die Denkweisen hinter den hier versammelten Positionen, die sich der ambitionierten und theoretisch auf hohem Niveau geführten Debatte über eine neue Unionsverfassung, die in der Schaffung einer europäischen Republik bestehen müsste, völlig verschließen.
Die Verhältnisse sollen vor allem durch autonome zivilgesellschaftliche Initiativen geändert werden („um zwischen Linz und tschechischen Städten zusammenzuarbeiten, braucht man Brüssel nicht“). Es wird verkannt, dass dann, wenn der regulatorische Überbau fehlt, solche Initiativen, auch wenn sie stärker werden sollten, scheitern. Die angeführten Beispiele sind kein Gegenbeweis. TTIP und CETA scheitern sicher nicht am zivilen Widerstand. Die Gemeinsame Agrarpolitik wird nicht durch alternative Bewegungen, die (zu Recht) eine dezentrale und ökologische Landwirtschaft fordern (siehe das Kapitel Ernährungssouveränität 197 ff), geprägt werden, und die Bürger selbst sind maßgebliche treibende Kräfte der Klima- und Umweltkrise und eines „my country first“ Standort-, Steuer- und Verteilungschauvinismus.
Die fortschreitende Realintegration (die extreme Verdichtung realer Interdependenzen im internationalen Feld) erfordert einen funktionierenden transnationalen Staat. Das ist keine politische Forderung, sondern ein Imperativ. Hier wird aber behauptet, die Transformation zu einer sozialen EU sei illusionär, das Ziel einer politischen Neugründung sei nicht durchführbar, die dafür erforderliche politische Mobilisierung sei nicht denkbar. Das ist insofern schlitzohrig, als gleichzeitig proklamiert wird, „mehr EU bedeute immer mehr Neoliberalismus“. Die Grundierung des Bandes besteht zusammenfassend in einem Angriff auf das einzige „links“ argumentierbare Ziel einer Transformation der EU in einen Staat, in der ausreichend ausgebaute Staatsfunktionen verfügbar sind, um die Gewalt der kapitalistischen Dynamik wenigstens auf kontinentaler Ebene zu brechen. Zugegeben ist dies eine ungemein schwierige Aufgabe, die nach derzeitigem Stand der Dinge schlechte Aussichten auf Erfolg hat.
Wenn aber so wie hier eine Stärkung der EU als unausweichlich „neoliberal“ oder als „unmöglich“ bezeichnet wird, reiht man sich in die grauenhafte Prozession der zahlreichen Totengräber eines sozialen, ökologischen und lebenswerten Europas ein.94