DimmelSocial Familyship

Pro mente Verlag, Linz 2017, 314 Seiten, € 29,90

MONIKAWEISSENSTEINER (WIEN)

Der Autor des vorliegenden Werks ist Jurist, Soziologe und Politikwissenschafter. Er beschreibt mit dem in den Sozialwissenschaften bislang nicht eingeführten Begriff „Social Familyship“ Situationen, in denen fremde Personen, die einer Familie weder im rechtlichen noch im familiensoziologischen Sinn (Beziehungsfamilie) angehören, trotzdem für eine gewisse Zeit in der fremden Familie leben. Diese Konstellationen entstehen vor allem im Kontext der Care-Arbeit – zwischen professioneller Pflege und informeller familiärer Pflege.

Hauptinhalt des Buchs sind im Ergebnis die 24-Stunden-Betreuung in Österreich und in wesentlich geringerem Ausmaß Betreuungsverhältnisse durch Au-Pairs. 38 narrative Interviews mit Betroffenen und zwölf ExpertInnen-Interviews werden analysiert. Auf diese Weise sollen Beziehungsstrukturen sichtbar gemacht und kategorisiert werden. In einem sehr umfangreichen Abschnitt werden aber auch die „Herausforderungen der Altenpflege“ vom demographischen Wandel über Varianten der Erbringung der Pflege bis zu den öffentlichen Leistungen bei Pflegebedürftigkeit beschrieben.

Zwei Hypothesen stellen den Ausgangspunkt dar: Die erste Hypothese des Autors ist, dass in den beschriebenen Situationen der „Social Familyship“ Bindungen entstehen, die stärker sind als in der biologischen bzw rechtlichen Familie und sich daraus eine Reihe von Konfliktsituationen bilden. Daran anschließend wird als zweite, rechtspolitische Hypothese abgeleitet, dass die Rechtslage dem Geschehen nicht angemessen Rechnung trägt.

Beim Lesen einiger Abschnitte des Werks stellt sich die Frage, ob die gewählte Methodik einen Erkenntnisgewinn bringt bzw ob durch die Begrifflichkeit „Social Familyship“ nicht Verwirrung entsteht oder geradezu die Gefahr besteht, Arbeitsbeziehungen „aufzulösen“.

Das Einleitungskapitel lässt die Leserin etwas ratlos zurück, was die Zielsetzung des Buchs sein soll. Man findet eine Beschreibung der 24-Stunden-Regelung (beispielsweise Höhe der Förderung), vermischt mit einer zum Teil verkürzten Darstellung der „Unleistbarkeit“ der Beschäftigung von unselbständigen Betreuungskräften und der Aussage, dass professionelle Pflege weithin unleistbar sei. Eine beispielhafte Berechnung der Anstellung von zwei Betreuungskräften und der Entlohnung nach Mindestlohntarif in Verbindung mit der höheren Förderung gegenüber der Variante der selbständigen Personenbetreuung fehlt. Anschließend wird festgestellt (unterstellt), dass die Diskussionen bisher zwar aus der Sicht des Fiskus, der professionell Pflegenden, der institutionellen Akteure und öffentlichen Co-Financiers, aber kaum aus der Sicht der zu Pflegenden geführt worden sei. Dabei widerlegt Nikolaus Dimmel sich immer wieder selbst, wenn er in späteren Kapiteln zahleiche AutorInnen, die in den letzten Jahren zum Thema Pflege und Betreuung publiziert haben und aus vielen durchgeführten Studien zitiert. Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass zahlreiche der zitierten Werke schon Jahre alt und manche vom Autor angeführten Zahlen und Werte nicht aktuell sind.

Im zweiten Kapitel versucht Dimmel der Dynamik der Entwicklung der Familie als sozialer Institution nachzugehen. In dieser sozialwissenschaftlich ausgerichteten Diskussion wäre im Hinblick auf den angesprochenen Strukturwandel und die beschriebene Fragmentierung von Zeitressourcen eine tiefergehende Analyse spannend. Gerade im Zusammenhang mit der zitierten Erosion von Normalarbeitsverhältnissen ist98ein Blick auf die Gender Perspektive geboten. Eine bloße Statistik zur Erwerbsbeteiligung von Frauen mit nicht ganz aktuellen Zahlen wird dem nicht gerecht. Auch das Thema Gewalt gegen ältere Menschen wird nur sehr kurz angerissen und im Abschnitt Scheidung und Trennung findet man neben Datenmaterial zu Scheidungen einen rechtlichen Einschub zur Beistandspflicht, den man an dieser Stelle nicht erwartet.

Im umfangreichsten Kapitel des Buches mit dem Titel „Herausforderungen der Altenpflege“ findet man sehr unterschiedliche Abschnitte. Bedauerlich ist, dass hier zum Teil Zahlen aus 2011 zitiert werden (zB S 76), Pensionszahlen aus 2014 (S 91) oder die Zahl der PflegegeldbezieherInnen einmal aus 2013 (S 109) und dann wieder 2014 (S 100). Im Abschnitt Altersarmut, das im hier diskutierten Zusammenhang mit der Abdeckung des Pflegebedarfs durchaus relevant ist, wird fälschlicherweise für Österreich eine steigende Altersarmut prognostiziert bzw konstatiert. Die Quote armutsgefährdeter älterer Männer sank dagegen von 14,1 % (2007) auf 10,0 % (2015), bei den Frauen war im selben Zeitraum eine Verminderung von 22,4 % auf 15,7 % zu verzeichnen (Eurostat, EU-SILC). Im Abschnitt „Gesundheitszustand“ wird auf aus anderen Publikationen bekannte Befragungen zum Gesundheitszustand verwiesen und kurz auf die Herausforderung Demenzerkrankungen eingegangen – auf nicht ganz nachvollziehbare Weise: Während man einerseits eine Tabelle „Prävalenz von Demenz nach Alter in Prozent“ findet, liest man ein paar Seiten später, dass Prävalenz-Zahlen zur Demenz in Österreich nicht vorliegen. Dabei stellt diese Entwicklung die Pflege und Betreuung vor große Herausforderungen, auf die die Politik mit der Erarbeitung der Österreichischen Demenzstrategie reagiert hat. Insgesamt bietet dieses Kapitel neben einer wiederholten Darstellung der Daten zum Pflegegeld (in die sich Fehler eingeschlichen haben – so wurde die letzte Erhöhung 2016 übersehen) und der Erbringung der Leistungen (informelle Pflege, öffentliche Leistungen, wieder Pflegegeld, soziale Dienste, 24-Stunden-Betreuung) eine kurze Auseinandersetzung mit Herausforderungen und Handlungsspielräumen wie Qualitätssicherung in der informellen Pflege, Regulierung der Agenturen, die aber nur angerissen werden.

Im zentralen Kapitel „Social Familyship“, Care und Fürsorglichkeit werden Care-Konstellationen analysiert und mit zahlreichen anschaulichen Zitaten aus den narrativen Interviews 24-Stunden-Betreuungsverhältnisse aus der Sicht aller Beteiligten (BetreuerInnen, Pflegebedürftige, Angehörige) dargestellt und nachvollziehbar gemacht. Aus diesen Interviews werden sechs Typen von BetreuerInnen generiert (ua Systemerhalterin, graue Maus, Familienmitglied, Opfer). Beim Typus „Familienmitglied“ wird dennoch als zentral angesehen, dass „die/der Care-ArbeiterIn grundsätzlich versucht, sich an die Gegebenheiten der Familie anzupassen“. Kaum konkret eingegangen wird auf Au-Pairs; so findet man immer wieder Sätze wie „Ähnliches gilt in der Welt der Au Pair“, „Gleiches gilt für das Au-Pair-Verhältnis“, woraus der Eindruck entsteht, dass die Einbeziehung in die Untersuchung etwas halbherzig erfolgt ist. Aus der Typisierung der BetreuerInnen zieht Dimmel den Schluss, dass sich Care-Situationen sehr unterschiedlich darstellen und von „win-win“-Situationen bis zu „lose-lose“-Situationen reichen. Ob aus dieser Typisierung zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden können oder ob sich daraus differenzierte Konsequenzen ergeben, muss die Leserin selbst beurteilen. Seltsam mutet der mehrere Seiten lange Abschnitt über Erbschaftskonflikte inklusive einer Begriffserklärung zum Erbrecht an, wenn in einem Satz erklärt wird, dass es eher selten vorkommt, dass Pflegepersonen etwa im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung anstatt von Familienmitgliedern als ErbInnen eingesetzt werden.

Als Juristin wird man in diesem Buch mit vielen neuen Ansätzen und Gedanken konfrontiert. Der Autor als Soziologe und Jurist hat sich offenbar nicht immer ganz klar entscheiden können, in welche Richtung die Arbeit gehen soll. In der Reflexion am Ende des Buches muss er konstatieren, dass „die 24-Stunden-Betreuung weit davon entfernt ist, regelhaft familienähnliche Verhältnisse zu etablieren“.99