KowatschRadenthein. Arbeiterleben und Wirtschaftswandel – Zur Entstehung eines Weltkonzerns

Verlag des ÖGB, Wien 2018, 320 Seiten, € 19,90

BARBARATROST (LINZ)

Das Urteil über ein Buch hängt meist mindestens auch an der Perspektive und diese ist mit auch Ergebnis der äußeren Umstände, welche die Lektüre begleiten. So habe ich also rechtzeitig zu Sommerbeginn dieses Buch erhalten, welches mir gleich auf den ersten Blick nach Titel und Cover als Urlaubslektüre recht verlockend erschien. Ich will es daher als solches betrachten – und beschließe, den wissenschaftlich-kritischen Blick auszublenden. Rasch gewöhnt an die mitunter kreative Interpretation manch kleinlicher Grammatikregeln genieße ich von der ersten Seite weg Geschichte und Geschichten. Erinnerungen greifen Raum, lassen mich von längst vergangenen Urlauben in Kärnten träumen, von Radenthein und den freundlichen Hütten auf der Millstätter Alpe, den Kaninger Mühlen und den Wäldern mit Eierschwammerln Sonderzahl. Dorthin entführt Martin Kowatsch mit seiner Schilderung des ersten Auffindens von Magnesit-Vorkommen in der Gegend von Radenthein. Was das alte Radentheiner Hammerwerk betrifft, wird auf S 13 auf Quellen unterschiedlichen Inhalts bezüglich dessen Schließung verwiesen. Hier stolpere ich auch das erste Mal über die vermutlich der Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ entspringenden Direktzitate (unter Anführungszeichen), offenbar Auszüge aus Interviews, ohne Nennung von Quellen. Zusammen mit den divergierenden belegten Quellen stoßen wir hier für ein einziges Ereignis auf drei Daten, welche insgesamt einen Zeitraum von dreißig Jahren umspannen. Das verwirrt! Rasch entsinne ich mich aber meiner beabsichtigten Perspektive, ohne wissenschaftliche Kritiksucht eine spannende Urlaubslektüre zu konsumieren, und weil selbst den Autor die Divergenzen auch auf den folgenden Seiten (wie zB S 19) nicht mehr zu stören scheinen, meine ich, sollten sie auch die Stimmung der Leserin nicht trüben. Etwas mehr stört mich, dass mir an dieser Stelle etwas fehlt: Ein gewisser „Eisengewerke Rudolf Sprung“ steht hier ohne Zusammenhang, und wir erfahren weder, wer er war noch – und das wäre vor allem aus der Sicht der Arbeitsrechtsgeschichte hoch interessant gewesen – was ein „Gewerke“ zu jener Zeit war, nämlich nicht, wie man meinen möchte, ein AN mit Gewerkschaftsambitionen, sondern vielmehr ein Anteilseigner, der mitunter arbeitgebergleiche Funktion erfüllte – eine Klärung, welche uns Kowatsch hier und auch in weiterer Folge leider schuldig bleibt.

Ordnungsliebende LeserInnen, zu denen ich mich leider zählen muss, erleben bei der Lektüre des – übrigens wirklich an äußerst interessanten Geschichten reichen – Buches eine schweißtreibende Herausforderung: Der Autor hat die Eigenheit, irritierende Aussagen allem weiteren voran zu stellen, deren Aufklärung dann aber Zeit und Raum braucht. „Weiterlesen“ heißt also die Devise! Andernfalls geben manch lose dahingeworfene Statements Rätsel auf. Eines dieser Beispiele finden wir auf S 28 mit dem Satz: „Die günstige Wirtschaftslage führte 1929 zu einem Höhepunkt der Magnesitgewinnung.“ Wer hier nicht glauben kann, dass das Jahr 1929 von einer „günstigen Wirtschaftslage“ geprägt war, erfährt beim Weiterlesen erst auf S 33, dass hier die konkrete wirtschaftliche Situation des Unternehmens in Abhängigkeit von den Entwicklungen in der Branche gemeint war. Ähnlich wirkt auch der Satz: „Das Kriegsende beeinträchtigte auch die schulische Situation.“ (S 50). Laienhaft wäre man doch geneigt, das Ende des Krieges mit Befreiung aus der Katastrophe und damit auch zB neuen Chancen für Bildung zu verbinden. Auch hier verrät Kowatsch später wieder regionale Besonderheiten, und so gewinnt mit etwas Geduld nach und nach so mancher anfangs kryptisch klingende Satz Kontur.

Fast schon kurios, aber jedenfalls erheiternd, ist die Idee, das große Thema „Die neue Industrie“ (S 29) in lediglich zwei kurzen Absätzen sachlich zu bearbeiten, um alles weitere dann auf immerhin drei Seiten dem balladenhaften Gedicht eines gewissen Josef Huber (von dem wir leider weder erfahren, wer er war, noch wann er gelebt hat, noch wo dieses Gedicht im Original aufzufinden ist) zu überantworten, welches bar eines jeden Versmaßes die Entwicklung der Radentheiner Industrie aus der Sicht des Volkes erzählt.

Mit großem Interesse habe ich mich den Kapiteln über Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Entnazifizierung gewidmet (S 43 ff). Ab dem Jahr 1934 wird die Methode der teilnehmenden Beobachtung wieder zur LeserInnenherausforderung. Es gilt hier, die einzelnen Statements in den Kontext zu fügen. Wer dies mit Fleiß tut, vermisst dann aber doch einiges: Wer ist hier konkret gemeint, wenn von „Staatsexekutive“ die Rede ist? Spielte dort auch die Heimwehr eine Rolle? Und welche Rolle spielten überhaupt in Kärnten zu jener Zeit die wohl zweifellos dort ansässig gewesenen adeligen Grundherren? Von „Aufständen“ ist hier die Rede, und ein wenig wirken die auf den Zeugenaussagen basierenden Aussagen wie Erinnerungsfetzen an eine Zeit, in der es „irgendwo irgendwie gewirbelt171 hat, und keiner wusste warum“. Jedenfalls erfährt man nach und nach, dass in der Gegend um Radenthein der Nationalsozialismus stark verbreitet war, auch unter den AN. Auch diesem Thema nähert sich der Autor auf eine eigenwillige Weise: Nach nur sechs Zeilen (!) zur „größten menschlichen Katastrophe im 20. Jahrhundert“ (S 43) kommt er zu dem Schluss: „Dieses Unheil kommt auf das Konto des eroberungswütigen deutschen Imperialismus.“ Freilich wird auch dieser Satz wieder erklärt. Es darf aber bezweifelt werden, dass eine derart monokausale Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus schlechthin wirklich historisch und gesellschaftswissenschaftlich gerecht wird.

Spannend wie ein Kriminalroman liest sich das Kriegsende in Radenthein (S 50 ff). Es sollte – warum auch immer; die Hintergründe blieben unklar – das Magnesitwerk durch die Schutzstaffel gesprengt werden. Im Zuge der Auseinandersetzungen um diesen Vorgang kam es zu einer Geiselnahme mit Mord.

Mindestens so interessant wie die Ausführungen über Kriegszeit und Kriegsende sind die unmittelbaren Nachkriegsgeschichten, welche eindrucksvoll das Dilemma um die kaum seriös mögliche Unterscheidung in mehr oder minder „belastete“ Nazis vor Augen führen. Es war dieses Thema wohl auch in den Aussagen der Befragten ein so selbstverständliches und gegenwärtiges, dass selbst dem Autor versehentlich ein Archivbeitrag über Nazis und „Mitläufer“ im (Entnazifizierungs-)Lager Wolfsberg unter eine Aussage über ins Konzentrationslager verschleppte Menschen und „Mitläufer“ gerutscht ist – ein allfälliger Zusammenhang bleibt unergründlich (S 64).

An dieser Stelle habe ich beschlossen, den Rest des Buches nun wirklich ohne wissenschaftlichen Fokus zu lesen und finde in der Nachkriegsgeschichte, und hier wiederum insb ab S 80 den Autor in seinem Element: Insiderwissen aus seiner Tätigkeit als langjähriger Betriebsratsvorsitzender macht das Werk über weite Strecken zu einem „Insiderbuch“, an dem sicher vor allem jene besonderen Gefallen finden, welche an den technischen und wirtschaftlichen Details der Magnesitindustrie interessiert sind. Ich selbst finde mich mit größerer Leidenschaft ab S 115 wieder, wo es um Verantwortung, Gesellschaft und Soziales geht, und wo man erfährt, dass sich der Betriebsratsvorsitzende und Autor selbst erfolgreich für eine Erweiterung des Kantinenangebots auf zwei Menüs mit Suppe und Salat eingesetzt hatte, nachdem sich der ehemalige Kantinenpächter Leopold Flaschberger (bei Kowatsch leider versehentlich „Falschberger“ genannt; S 126; richtig aber im Namensverzeichnis S 315) pensionsbedingt zurückgezogen hatte.

Bunt und kreativ wie der historische Teil sind auch die gesellschaftspolitischen Betrachtungen – basierend auf 18 Interviews – unter dem Titel „Arbeiterleben und Wirtschaftswandel“ (S 222 ff). Die Neugier, die der Autor hier mit seinem Hinweis auf das neue, Jahrzehnte anhaltende Konfliktthema „Umweltbelastung“ weckt, wird in diesem Buch nicht mehr befriedigt.

Geschichte und Geschichten, Erzählungen und ein paar verschiedene Wahrheiten – wenn man mit einer gewissen Großzügigkeit leicht und locker querliest, vermag dieses Buch recht tiefe Eindrücke über Menschen, Arbeiterleben, Zusammenleben in der Gesellschaft in einem eng umrissenen regionalen Umfeld, geprägt von einer wechselvoll gewachsenen, weltweit relevanten Industrie zu vermitteln. Und es soll nicht verschwiegen werden, dass manche Stellen durchaus geeignet sind, zu fesseln und den (Freizeit-)Leser in den Bann zu ziehen. Aus der – bei WissenschafterInnen bedauerlicherweise nicht ganz wegzuwischenden – wissenschaftlich kritischen Perspektive würde ich aus oben auszugsweise angerissenen Gründen das Buch im Diplomandenseminar nicht unbedingt als zwecks Faktennachweises vorzugsweise zitierbare Literatur empfehlen.