ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit und Arbeitsmarkt

JOHANNESPEYRL (WIEN)
Die erste VO, mit der (sekundärrechtlich) AN-Freizügigkeit verwirklicht wurde, jährte sich 2018 zum 50. Mal.* Bei einem solch runden Geburtstag ist es üblich, eine Bestandsaufnahme zu machen. Klarerweise kann und muss AN-Freizügigkeit aus vielen Perspektiven betrachtet werden (siehe dazu alle anderen Abhandlungen in diesem Heft). In diesem Beitrag sollen einige Aspekte der AN-Freizügigkeit beleuchtet werden, die (idR) unmittelbar relevant für den Arbeitsmarkt sind bzw waren oder auch sein werden. Es soll untersucht werden, welche Aspekte der AN-Freizügigkeit, die primär den österreichischen Arbeitsmarkt betreffen, rechtlich relevant und (politisch) bedeutsam sind.
  1. Einleitung

  2. Übergangsfristen für kroatische StaatsbürgerInnen

  3. Brexit

  4. Soziale Rechte für ökonomisch nicht aktive, aber arbeitsuchende UnionsbürgerInnen

  5. Weitgehende Rechte von Familienangehörigen von UnionsbürgerInnen

  6. Die Kernbestandsdoktrin: Recht auf Aufenthalt und Erwerbstätigkeit, wenn UnionsbürgerInnen sonst die EU verlassen müssten

  7. Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund des Assoziationsabkommens EWG-Türkei

  8. Schlussbemerkung

1.
Einleitung

Klar ist, dass AN-Freizügigkeit Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten hat. Auch Österreich ist hier natürlich keine Ausnahme: Dazu genügt ein Blick auf die Entwicklung der Zahlen der unselbständig Beschäftigten: In Österreich hat etwa nach dem Auslaufen der Übergangfristen* die Beschäftigung von BürgerInnen aus den EU-8 sowie EU-2 Staaten* stark zugenommen (zB exemplarisch ungarische StaatsbürgerInnen*).

Zunächst werden Themen erörtert, die grundsätzlich Einschränkungen der AN-Freizügigkeit bewirken können: Übergangsfristen für den Zugang zu unselbständiger Erwerbstätigkeit, Brexit bzw Ausübung sozialer Rechte. Danach werden Entwicklungen beleuchtet, die (oft an den „Rändern“) grundsätzlich AN-Freizügigkeit begünstigen (Rechte von Familienangehörigen, sogenannte „Kernbestandsdoktrin“ des EuGH und assoziationsberechtigte TürkInnen). Vorausgesetzt (und nicht näher erörtert) wird, dass AN-Freizügigkeit grundsätzlich existiert. Das betrifft auch die „gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen“ des Art 7 Abs 2 VO 492/2011.*

2.
Übergangsfristen für kroatische StaatsbürgerInnen

Übergangsregelungen sind grundsätzlich Teil eines jeden EU-Beitritts* und daher per se nicht außergewöhnlich. In den Beitrittsverträgen der Staaten, die 2004, 2007 bzw 2013 der EU beigetreten sind, waren (bzw im Fall von Kroatien sind) Übergangsfristen für den idR erstmaligen Eintritt in den Arbeitsmarkt vorgesehen. Es darf nicht übersehen werden, dass zwar Übergangsfristen einerseits AN-Freizügigkeit einschränken, andererseits aber durch die EU-Beitritte der letzten Jahre natürlich viele Drittstaatsangehörige zu UnionsbürgerInnen wurden und – spätestens nach Ende der Übergangsfristen – AN-Freizügigkeit genießen. Aktuell sind nur noch die Übergangsfristen für Kroatien in Geltung, Österreich ist der einzige Mitglied-104staat, der von dieser Möglichkeit noch Gebrauch macht.*

Obwohl Kroatien am 1.7.2013 der EU beigetreten ist, ist die AN-Freizügigkeit wie eben ausgeführt nicht für alle KroatInnen voll verwirklicht. Die Mitgliedstaaten können nach den Bestimmungen des Beitrittsvertrags* bezüglich des Zugangs zum Arbeitsmarkt für bis zu sieben Jahre Übergangsfristen aufrecht halten und „nationale Maßnahmen anwenden“ (Anhang V, Pkt 2). Österreich macht von dieser Möglichkeit Gebrauch: Kroatische StaatsbürgerInnen benötigen gem § 32a AuslBG idR eine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung, um unselbständig erwerbstätig sein zu können; daher dürfen kroatische Staatsangehörige grundsätzlich nur dann in Österreich arbeiten, wenn dem/der AG entweder vom Arbeitsmarktservice gem § 4 ff AuslBG eine Beschäftigungsbewilligung erteilt wurde oder die betreffenden Personen bereits Freizügigkeit auf dem österreichischen Arbeitsmarkt erlangt haben: Vor Auslaufen der Übergangsfristen (spätestens am 30.6.2020) genießen KroatInnen AN-Freizügigkeit, wenn sie zumindest einen Tag in Österreich rechtmäßig unselbständig beschäftigt waren und davor für einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten zum österreichischen Arbeitsmarkt zugelassen waren, weiters wenn sie seit fünf Jahren in Österreich niedergelassen sind und über ein regelmäßiges Einkommen aus erlaubter Erwerbstätigkeit verfügen oder wenn sie seit zwei Jahren in Österreich niedergelassen und fortgeschritten integriert sind.* Wenn kroatische StaatsbürgerInnen noch nicht wie beschrieben in Österreich freizügigkeitsberechtigt sind, haben auch die Angehörigen keinen unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt gem § 1 Abs 2 lit l AuslBG.

Die letzten beiden Jahre dürfen die Übergangsfristen nur bei einer zumindest drohenden schwerwiegenden Störung des Arbeitsmarktes aufrechterhalten werden. Da Österreich nach wie vor (als nunmehr einziger EU-Mitgliedstaat) von der im Beitrittsvertrag vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, geht Österreich von einer solchen drohenden Störung aus: In der Vergangenheit (dh bei Aufrechterhaltung der Übergangsfristen während dieser letzten Phase für EU-8 und EU-2 BürgerInnen) wurde weder von der Europäischen Kommission noch von einem betroffenen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Auch der VwGH hegte keine Zweifel daran, dass (hinsichtlich der am 1.5.2004 beigetretenen Mitgliedstaaten) die in der Mitteilung Österreichs an die Europäische Kommission enthaltenen Gründe die Gefahr einer drohenden schwerwiegenden Störung des Arbeitsmarktes in realistischer Form aufzeigten und deshalb die Übergangsregelungen weiterhin (bis zum deren Ablauf am 30.4.2011) in Geltung standen.* Es gibt daher mE keinen Grund anzunehmen, dass beim Ausnützen der letzten Phase bezüglich Kroatien nicht Gleiches gilt.

In den Übergangsbestimmungen bezüglich AN-Freizügigkeit in den betreffenden Beitrittsverträgen wurde sowohl das Prinzip der Gemeinschaftspräferenz* als auch ein Schlechterstellungsverbot zu drittstaatsangehörigen AN verankert,* sodass sichergestellt ist, dass kroatische AN Vorrang vor Drittstaatsangehörigen genießen, die noch keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben.

Eine Verlängerung der Übergangsfristen – wie in der politischen Diskussion zT gefordert wird – ist europarechtlich ausgeschlossen, da die oben angeführten Beitrittsakte lediglich für längstens sieben Jahre ab dem Beitritt nationale Maßnahmen zugelassen haben. Selbst wenn Österreich (EU-rechtswidrig) die Übergangsfristen verlängern würde, wäre eine solche Verlängerung für Unternehmen und AN unwirksam, da in einem solchen Fall die AN-Freizügigkeit gem Art 45 AEUV unmittelbar anwendbar wäre und eine entgegenstehende österreichische Norm nicht angewendet werden dürfte. Das würde ebenso gelten, wenn Österreich (wiewohl dies in der Praxis nicht zu erwarten ist) mit Kroatien ein bilaterales Abkommen bezüglich Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt schließen würde. Einzige theoretisch denkbare, aber wenig realistische Möglichkeit einer weiteren Einschränkung über 2020 hinaus wäre, eine primärrechtliche Grundlage dafür zu schaffen.

Nicht nur die AN-Freizügigkeit für kroatische StaatsbürgerInnen ist Beschränkungen unterworfen, Gleiches gilt auch für die Dienstleistungsfreiheit, allerdings nur in einem engen Anwendungsbereich: Für die Entsendung von AN dürfen in bestimmten sensiblen Bereichen bis Ende der Übergangsfristen nationale Maßnahmen angewendet werden (vgl § 18 iVm § 32a AuslBG).*

3.
Brexit

Im März 2019 wird aller Voraussicht nach das Vereinigte Königreich (UK) aus der EU austreten. Dies ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass ein Mitgliedstaat die Union verlässt. Tatsächlich scheint die Mobilität von BürgerInnen anderer Mitgliedstaaten nach UK ein starkes Motiv gewesen zu sein, für den Brexit (dh gegen den Verbleib von UK in der EU) zu stimmen.* Es ist natürlich ein radikales Mittel, AN-Freizügigkeit (in beide Richtungen) abzuschaffen, wenn sich ein Mitgliedstaat entschließt, aus diesem Grund aus105der Union auszutreten. Nach Ende der „Übergangsfrist“ (soweit überhaupt ein Austrittsabkommen geschlossen wird) wird es wohl von und nach UK keine AN-Freizügigkeit mehr geben. Damit ergeben sich natürlich auch Änderungen für britische StaatsbürgerInnen, die sich bereits in Österreich befinden oder zu Arbeitszwecken nach Österreich zuwandern wollen. Derzeit (Stand: Jänner 2019) ist noch immer nicht klar, welche Regelungen nach dem Austritt gelten werden. Alle Informationen, die hier gegeben werden, stehen daher unter diesem Vorbehalt. Dies gilt umso mehr nach der (zumindest derzeitigen) Ablehnung des Verhandlungsergebnisses durch das Unterhaus in London.

Folgendes wird – in der durch die Unsicherheiten gebotenen Kürze – dann gelten, wenn der Austrittsvertrag wie dieser verhandelt wurde in Kraft tritt:* In diesem Fall wird es eine Übergangsfrist bis 31.12.2020 geben: Bis zu diesem Datum ist im Ergebnis für UK-BürgerInnen weiterhin AN-Freizügigkeit gegeben (Art 6 und 7 RL 2004/38/EG sind weiterhin anwendbar). Sind StaatsbürgerInnen des Vereinigten Königreichs zumindest am letzten Tag dieser Übergangsfrist rechtmäßig niedergelassen, ändert sich auch danach für diese Personen nichts an ihrer Rechtsposition. Sie können weiterhin in Österreich arbeiten, ohne einen Aufenthaltstitel oder eine Berechtigung zur Arbeitsaufnahme zu benötigen. UK-StaatsbürgerInnen erwerben auch nach fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht, selbst wenn sie das Kriterium der fünfjährigen Niederlassung erst nach Ende der Übergangfrist (dh nach dem 31.12.2020) erfüllen. Selbst ein sogenannter „Statuswechsel“ (zB von Erwerbstätigkeit zu Studium) ist während dieses Übergangszeitraumes kein Problem. Im schlimmsten Fall („No Deal Szenario“) sind BürgerInnen aus UK ab 29.3.2019 wie alle anderen Drittstaatsangehörigen zu behandeln; besondere Probleme macht dies insb bei jenen BritInnen bzw NordirInnen, die zum Austrittszeitpunkt weniger als fünf Jahre in Österreich niedergelassen waren.*

Zumindest derzeit ist aber gänzlich unklar, welche Regelungen für BürgerInnen aus UK gelten werden, die nach Ende dieser Übergangsfrist zum Zweck der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach Österreich zuwandern wollen. Gibt es keine weitere Regelung (dies ist derzeit völlig unabsehbar), sind ab diesem Zeitpunkt neu zuwandernde UK-StaatsbürgerInnen schlicht Drittstaatsangehörige und es kommen die entsprechenden Regeln zur Anwendung (insb „Rot-Weiß-Rot-Karte“ gem § 41 ff NAG (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz), falls dieses Modell 2021 noch in Kraft sein sollte). Ob das wirklich so kommt oder ob andere (bessere) Lösungen gefunden werden, steht derzeit in den Sternen.

In jedem Fall (wenn keine für UK-BürgerInnen vorteilhaftere Regelung getroffen werden sollte) gelten die migrationsrechtlichen Richtlinien, die Zuwanderungsvoraussetzungen regeln, auch für diese: Insb sind das die Blue Card-RL,* die ForscherInnen- und StudentInnenRL,* die Single Permit-RL,* die SaisonarbeitsRL,* die sogenannte KonzernentsendungsRL,* die Daueraufenthalts-RL* und die FamilienzusammenführungsRL.*

4.
Soziale Rechte für ökonomisch nicht aktive, aber arbeitsuchende UnionsbürgerInnen

Soziale Rechte für UnionsbürgerInnen in anderen Mitgliedstaaten sind mE ein wesentlicher Baustein der AN-Freizügigkeit, da sie diese oft überhaupt erst möglich machen; somit haben diese auch Bedeutung für den jeweiligen Arbeitsmarkt. Grundsätzlich scheint dies auch der Unionsgesetzgeber so zu sehen, bestimmt doch Art 7 Abs 2 VO 492/2011, dass AN aus anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen AN genießen. So haben auch tatsächlich AN aus anderen Mitgliedstaaten etwa Anspruch auf Mindestsicherung, wenn ihr Einkommen nicht die vorgesehenen Richtsätze erreicht.* Das gilt auch für Personen, die ihre Erwerbstätigeneigenschaft aufrechterhalten (siehe dazu gleich unten). Auch durch einige Judikate des EuGH (siehe zB das Urteil in der Rs Grzelcyk*) werden StaatsbürgerInnen anderer Mitgliedstaaten soziale Rechte in Bereichen zugestanden, die nicht in der Mitte der Freizügigkeit, sondern eher an deren Rändern angesiedelt sind. Damit ist auch bereits jener Bereich angesprochen, der für das hier zu besprechende Thema relevant ist: Soziale Rechte, die nicht unmittelbar für aktuell in Beschäftigung stehende AN gelten, sondern Rechte für UnionsbürgerInnen, die nicht oder nicht mehr als AN gelten, aber durchaus in der Zukunft (wieder) auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen.106

Die Urteile des EuGH in den Rs Brey, Dano, Alimanovic, Garcia Nieto und EK/UK* wurden in der Literatur bereits ausführlich besprochen,* letztlich ohne allerdings zu einer einhelligen Meinung zu gelangen. An dieser Stelle soll nur auf den arbeitsmarktbezogenen Aspekt dieser Urteile (insb Rs Alimanovic) eingegangen werden: Während das Ehepaar Brey (als PensionistInnen) nicht mehr vorhatte, auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu werden und Frau Dano (jedenfalls im Ausgangssachverhalt) zumindest nicht unmittelbar eine Arbeit suchte, war dies im Ausgangsachverhalt im Fall Alimanovic anders: Frau Alimanovic und eine ihrer Töchter waren in Deutschland erwerbstätig und arbeitsuchend, wenngleich die Frist zur Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gem Art 7 RL 2004/38/EG bereits abgelaufen war.* Nach der Rsp des EuGH in der Rs Alimanovic ist ein aus dem Unionsrecht ableitbarer Anspruch auf soziale Leistungen nur solange gegeben, solange gem Art 7 RL 2004/38/EG die Erwerbstätigeneigenschaft aufrechterhalten wurde; es ist unerheblich, dass ein Aufenthaltsrecht gem Art 14 Abs 4 lit b RL 2004/38/EG gegeben war, da gem Art 24 Abs 2 dieser RL in diesem Fall keine Verpflichtung besteht, Sozialhilfe zu gewähren.

Der EuGH hat sich – insb in diesem Judikat – für eine mE sehr technische Lösung der Rechtsfrage entschieden: Sind die Voraussetzungen des Art 7 RL 2004/38/EG nicht mehr erfüllt, sind die betroffenen Personen abgeschnitten von Rechten und es müssen im Ergebnis die „gleichen sozialen Vergünstigungen“ nicht mehr gewährt werden, da sie nicht als AN iSd VO 492/2011 anzusehen sind.* Dies wird noch mehr einzementiert, da in einem solchen Fall nicht einmal eine Einzelfallprüfung erforderlich ist.* Somit bleibt für eine Untersuchung, ob die betreffenden Personen Verbindungen zum Arbeitsmarkt vorweisen, wie es der EuGH in der Rs Collins ausgesprochen hat,* kein Raum. Das Erfordernis der gleichen sozialen Vergünstigungen iSd Art 7 Abs 2 VO 492/2011 gilt daher für arbeitsuchende Personen nicht, wenn Erwerbstätigeneigenschaft (durch Zeitablauf) nicht mehr vorliegt.

Auch in einem weiteren Aspekt bezüglich AN-Freizügigkeit und Arbeitsmarkt hat der Gerichtshof in diesem Urteil eine restriktive Auslegung gewählt: Im Urteil Vatsouras und Koupatantze* hat der Gerichtshof ausgesprochen, dass Leistungen, die (primär) arbeitsmarktaktivierend wirken, nicht als Sozialhilfe, sondern als Leistungen der AN-Freizügigkeit zu betrachten seien.* Ist das der Fall, dürften sie nicht versagt werden, wenn eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaates besteht.* Im Urteil Alimanovic hat der EuGH aber klargestellt, dass Leistungen, die überwiegend die Funktion der Existenzsicherung zum Zweck haben, nicht als Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, angesehen werden können.* Damit ist aber auch klar, dass österreichische Sozialhilfeleistungen (Mindestsicherungen) der Bundesländer idR als (bloße) Sozialhilfeleistungen aufzufassen sein werden und nicht als arbeitsmarktaktivierend iSd Urteils Vatsouras anzusehen sind.

Unklar ist dann aber, wo der Anwendungsbereich des letztgenannten Urteils noch liegen soll, welche Leistungen also als solche anzusehen sind, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen und unionsrechtlich nicht als Sozialhilfe gelten. Das wird immer nur im Einzelfall (dh mit Blick auf die entsprechende Leistung) betrachtet werden können; neben arbeitsmarktbezogenen Leistungen (etwa die Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhalts*) könnten mE Sozialhilfeleistungen dann darunterfallen, wenn sie etwa zusätzlich zu einem Arbeitseinkommen gewährt werden und die AN-Freizügigkeit ohne diese Aufstockungsleistung nicht ausgeübt werden könnte.

Im Urteil in der Rs EK/UK schließlich hat der EuGH im Ergebnis judiziert, dass auch die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit, die in den Anwendungsbereich der VO 883/2004 fallen, von einem Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat abhängig gemacht werden kann,* wodurch ua letztlich der Fall eintreten kann, dass aktuell ökonomisch inaktiven, aber zB noch arbeitsuchenden UnionsbürgerInnen, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, letztlich gar keine soziale Absicherung mehr zuteil wird.*

Als vorläufiges Fazit der Pkte 2-4 kann daher festgehalten werden, dass AN-Freizügigkeit zwar in ihrem Kernbereich außer Frage steht, aber es durchaus teils durch Primärrecht (Übergangsfristen, Austritt), teils durch Sekundärrecht bzw dazu ergangener Judikatur (arbeitsuchende UnionsbürgerInnen über die Beibehaltung der Erwerbstätigeneigenschaft hinaus) Beschränkungen dieser gibt, die geeignet sind, Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu haben.

5.
Weitgehende Rechte von Familienangehörigen von UnionsbürgerInnen

Bislang wurden einige Aspekte der AN-Freizügigkeit beleuchtet, die in materieller Hinsicht einschränkend wirken. Nun (Pkte 5-7) soll der Fokus auf gegenläufige Tendenzen gelegt werden, dh auf107Regelungen bzw Judikatur, durch die Freizügigkeit gleichsam erweitert sind.

Das Recht auf Familiennachzug von StaatsbürgerInnen anderer Mitgliedstaaten war von Beginn an eines der wesentlichen Elemente des Gemeinschaftsrechts.* Nehmen UnionsbürgerInnen ihr Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat wahr, haben auch EhegattInnen (eingetragene PartnerInnen) sowie Verwandte in ab- und aufsteigender Linie* gem Art 23 RL 2004/38/EG ungeachtet ihrer eigenen Staatsangehörigkeit ein Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit und damit Partizipation auf dem Arbeitsmarkt.* Das gilt auch dann, wenn die UnionsbürgerInnen selbst nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen.* Wenn die Angehörigen selbst UnionsbürgerInnen sind, genießen sie selbst AN-Freizügigkeit; relevant ist die Möglichkeit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit daher primär für Angehörige, die selbst Drittstaatsangehörige sind.* Das Recht auf Teilnahme am Arbeitsmarkt ist auch dann gegeben, wenn die UnionsbürgerInnen sich aus anderen Gründen als Erwerbstätigkeit (Ausbildung oder allgemeine Personenfreizügigkeit, vgl Art 7 Abs 1 lit b und c iVm lit d RL 2004/38/EG) im anderen Mitgliedstaat aufhalten, in diesen Fällen müssen aber idR ausreichende Existenzmittel vorliegen. Grund dafür ist, dass es für UnionsbürgerInnen weniger attraktiv wäre, ihr Recht auf Freizügigkeit auszunützen, wenn Familiennachzug bzw Herstellung der Familiengemeinschaft nicht möglich wäre.*

Dies gilt auch dann, wenn die UnionsbürgerInnen, die von ihrem Anspruch auf (insb) AN-Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ihr Recht auf Familiennachzug (inkl des Rechts der Familienangehörigen, erwerbstätig zu sein) auch dann weiter ausüben, wenn sie wieder in den „eigenen“ Mitgliedstaat zurückkehren. Nach der Judikatur des EuGH müssen diese – besseren – Rechte auch (hier) Angehörige von ÖsterreicherInnen erhalten, die nach Ausnützen eines Freizügigkeitssachverhalts wieder nach Österreich zurückkehren.* In diesem Fall kann nämlich von einem internen Sachverhalt, auf den die Bestimmungen des Unionsrechts nicht anwendbar sind,* nicht gesprochen werden. Eine andere Ansicht würde zu dem Ergebnis führen, dass Angehörige eines Mitgliedstaats (und ihre drittstaatszugehörigen Angehörigen) aus beruflichen Gründen ohne weiteres in einen dritten Mitgliedstaat umziehen könnten, nicht aber in den eigenen.* Das gilt selbst dann, wenn die UnionsbürgerInnen nach ihrer Rückkehr in den eigenen Mitgliedstaaten nicht mehr ökonomisch aktiv sein können.* Voraussetzung ist allerdings, dass die UnionsbürgerInnen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihr Recht ausgeübt haben, gem Art 7 und nicht bloß gem Art 6 RL 2004/38/EG* aufenthaltsberechtigt waren (dh insb die AN-Freizügigkeit über einer Bagatellgrenze ausgenützt haben*), unionsrechtlich ist aber ein zumindest kurzer gemeinsamer Aufenthalt im anderen Mitgliedstaat nötig.* Gemäß dem (innerstaatlichen) § 57 NAG sowie der dazu ergangenen Judikatur des VwGH ist ein solcher gemeinsamer Aufenthalt allerdings nicht nötig.*

6.
Die Kernbestandsdoktrin: Recht auf Aufenthalt und Erwerbstätigkeit, wenn UnionsbürgerInnen sonst die EU verlassen müssten

Grundsätzlich muss ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen, um Unionsrecht zur Anwendung zu bringen.* Im Urteil Ruiz Zambrano* ist der EuGH erstmals von dieser bis dahin universell geltenden Regel abgegangen und hat das Vorliegen eines aus dem Unionsrecht ableitbaren Aufenthaltsrechts von (nach innerstaatlichem Recht unrechtmäßig aufhältigen) drittstaatsangehörigen Eltern minderjähriger UnionsbürgerInnen bejaht, die selbst keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt verwirklicht hatten. Der EuGH betont in stRsp, dass der UnionsbürgerInnenstatus dazu bestimmt ist, „der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein“.* Im Urteil Ruiz Zambrano hat der EuGH die sogenannte Kernbestandsdoktrin entwickelt und ausgesprochen, dass Art 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegenstehen würde, die bewirken würden, dass „den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt“ würde. Das wäre dann der Fall, wenn den Eltern ein Aufenthaltsrecht verweigert würde, da in diesem Fall die genannten Kinder (UnionsbürgerInnen) gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten.* In den darauffolgenden Urteilen hat der EuGH die Kernbestandsdoktrin bestätigt und verfeinert, sodass diese mittlerweile zur gefestigten Rsp gezählt werden kann.* Im Ergebnis können sich volljährige Angehörige (insb EhegattInnen) kaum jemals auf diese Kernbestandsdoktrin berufen, da in seltenen Fällen ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis vorliegen wird;108im Fall von minderjährigen Kindern bzw anderen abhängigen Personen ist der Anwendungsbereich dieser Doktrin deutlich weiter.*

Auch wenn die Kernbestandsdoktrin nicht unmittelbar AN-Freizügigkeit berührt, gibt sie doch Angehörigen von UnionsbürgerInnen (idR Eltern) einen Anspruch auf Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund unionsrechtlicher Vorschriften und ist aus diesem Grund relevant für diesen Beitrag.

7.
Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund des Assoziationsabkommens EWG – Türkei

Türkische StaatsbürgerInnen haben, wenn sie zumindest die Absicht haben, in Österreich erwerbstätig sein zu wollen, durch das Assoziationsabkommen EWG – Türkei* eine zT deutlich bessere Rechtsposition als andere Drittstaatsangehörige. Aufgrund der in diesem Abkommen enthaltenen und nach der EuGH-Judikatur unmittelbar anwendbaren* stand-still-Klauseln* dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Die Rechtsposition von Personen, die Rechte aus diesem Abkommen ableiten können, darf sich daher seit dem Zeitpunkt nicht mehr verschlechtern, an dem das Abkommen im jeweiligen Mitgliedstaat in Geltung gesetzt wurde. Für Österreich ist das der 1.1.1995 (EU-Beitritt).*

Für Österreich bedeutet das, dass türkische StaatsbürgerInnen (die grundsätzlich Erwerbsabsicht haben müssen) nach den ab 1.1.1995 für sie günstigsten fremdenrechtlichen Normen zu behandeln sind. Im Ergebnis bewirkt die unmittelbare Anwendbarkeit des Assoziierungsabkommens EWG – Türkei und seiner Zusatzabkommen bzw der Beschluss Nr 1/80 des Assoziationsrates die (zumindest teilweise) Unanwendbarkeit des derzeit geltenden NAG auf diese Personengruppe.* In den meisten Anwendungsfällen erweisen sich die Bestimmungen des Fremdengesetz 1997 (FrG)* in ihrer Gesamtheit als günstigste Rechtslage im oben dargestellten Sinn.*

Auch wenn diese Bestimmungen des Assoziationsrechts EWG – Türkei natürlich nicht unmittelbar AN-Freizügigkeit betreffen, gewährt es doch zT sehr weitgehende Rechte auf dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten und ist aus diesem Grund mE sinnvoll, hier angeführt zu werden und ein Beispiel für eine durchaus extensive Interpretation des EuGH in Angelegenheiten, die unmittelbar Unionsrecht und Arbeitsmarkt betreffen.

8.
Schlussbemerkung

Es liegt natürlich in der Natur der Sache, dass AN-Freizügigkeit für die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten von Bedeutung ist. Daher war es mE sinnvoll, unter diesem Titel nicht generell Fragen der AN-Freizügigkeit* zu behandeln, sondern ausgesuchte Felder zu beleuchten.

Es hat sich gezeigt, dass AN-Freizügigkeit nicht generell in Frage steht; die Möglichkeit, in einem anderen Mitgliedstaat eine (existenzsichernde) Arbeit aufzunehmen, wird auch in Zukunft erhalten bleiben. Allerdings kommt es 2019 erstmals zu einer Verkleinerung der EU und damit zu einer Einschränkung der AN-Freizügigkeit („in- und outbound“), an einzelnen Rändern der AN-Freizügigkeit werden Restriktionen und Einschränkungen sichtbar: So wurden für den (nicht eingetretenen) Fall des Verbleibes von UK in der EU Einschränkungen der AN-Freizügigkeit in Aussicht gestellt, nach der Judikatur des EuGH ist eine (uU auch lange dauernde) tatsächliche Verbindung zum jeweiligen Arbeitsmarkt für den Bezug von Sozialleistungen irrelevant, wenn die Erwerbstätigeneigenschaft ausgelaufen ist. Auch § 4 des Entwurfs für ein Sozialhilfe-Grundsatzgesetz* ist extrem einschränkend formuliert: Unter der Überschrift „Ausschluss von der Bezugsberechtigung“ soll angeordnet werden, dass UnionsbürgerInnen nur dann Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben, wenn ein Ausschluss mit unionsrechtlichen Vorschriften unvereinbar wäre und dies die Fremdenbehörden in jedem Einzelfall (!) festgestellt haben. Selbst unabhängig davon, dass jedenfalls eine Prüfung in jedem Einzelfall mE unionsrechtswidrig wäre, ist die Zielrichtung klar: Einschränkung der sozialen Rechte von UnionsbürgerInnen, wo dies nach Meinung der österreichischen Bundesregierung möglich scheint. Gerade diese sind aber mE zentral für das Funktionieren der AN-Freizügigkeit und deshalb ein Kernthema beim Betrachten von deren arbeitsmarktrelevanten Aspekten. Liebe VO zur AN-Freizügigkeit, herzlichen Glückwunsch zum 50er! Mögest du (auch) in Zukunft zu einem guten Miteinander in der EU und zur Stärkung der sozialen Rechte beitragen!109