DimmelDer gute Wohlfahrtsstaat – Zur Qualität von Sozialdienstleistungen
pro mente edition, Linz 2017, 316 Seiten, broschiert, € 39,90
DimmelDer gute Wohlfahrtsstaat – Zur Qualität von Sozialdienstleistungen
In seinem Vorwort beschreibt Nikolaus Dimmel, der als Rechtssoziologe an der Universität Salzburg lehrt und forscht, sein Buch sehr treffend als einen Versuch einer Soziologie der Sozialdienstleistungen und einer „politischen Ökonomie“ der Qualität soziotechnischer Interventionen. Damit ist die Spannweite dieses Werkes sehr gut umschrieben, nämlich eine theoretische Grundlage für die Behandlung von Sozialdienstleistungen iSv Leistungen, die auf die Vermittlung und Aufrechterhaltung anerkannter sozialer Standards im jeweiligen Gemeinwesenkontext abzielen (S 31), ebenso zu bieten wie eine kritische Auseinandersetzung mit den diese betreffenden Qualitätskriterien und deren Messung. Dass eine Befassung damit überaus relevant ist, zeigen die aktuellen Diskussionen um die „Redimensionierung“ des Wohlfahrtsstaates, die zwar vordringlich mehr „Treffsicherheit“ und Sicherstellung der nachhaltigen Finanzierung bezweckt, dabei aber auf eine Abwertung der sie Empfangenden (insb Schutzsuchende, AusländerInnen und Arbeitslose) ebenso abzielt wie deren Disziplinierung. Das Buch ist so dicht und in vieler Hinsicht kenntnisreich geschrieben, dass im Rahmen dieser Besprechung nur einige wenige Aspekte betont werden können, die den Rezensenten bei der Lektüre besonders angesprochen haben.
Dabei ist vor allem das zweite Kapitel, das der Rolle von sozialen Diensten im Kapitalismus gewidmet ist, hervorzuheben. Dieses macht viele Dynamiken sichtbar, die hinter der staatlichen Organisation sozialer Dienste oft im Verborgenen wirksam werden und die gerade für JuristInnen von besonderem Interesse sein können. Theoretische Fundierung dieser Analyse ist offensichtlich die sich in letzter Zeit mE zu Recht wieder größerer Beliebtheit erfreuende Regulationstheorie, die versucht zu erklären, warum kapitalistische Systeme trotz ihrer Krisenanfälligkeit dennoch – zumindest für gewisse Zeit – stabil bleiben. Hier kommt der Verinnerlichung von Herrschaftsverhältnissen eine wesentliche Rolle zu. Soziale Dienste bearbeiten in diesem Sinne als soziale Probleme etikettierte Lebenslagen und wollen so die soziale Integration und Inklusion der davon betroffenen Personen sicherstellen. Damit soll eine Maximierung der ökonomischen Produktions- und Transaktionsleistungen und eine Minimierung sozialer Probleme ermöglicht werden (S 29). Seit der „neoliberalen Gegenreformation“ (S 31) geht es bei der Erbringung von Sozialen Diensten aber nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards, sondern es wird nunmehr die aktivierende, sozialkontrollierende und sozialdisziplinierende Funktion verstärkt betont. Diese nehmen damit eine so wichtige Funktion zur Stabilisierung des Systems ein, dass eine Produktion und Reproduktion ohne Sozialpolitik nicht mehr möglich ist. Es geht dabei um die Internalisierung von Produktionsimperativen und der Selbststeuerung, die nicht zuletzt auch durch Sozialdienstleistungen vermittelt wird, da diese entsprechende Fähigkeiten aktivieren und zu einer Voraussetzung für den Leistungsempfang machen (S 33). Der Wohlfahrts-176staat ergreift nämlich nicht nur Maßnahmen zur Steigerung der sozialen, materiellen und kulturellen Wohlfahrt seiner BürgerInnen, sondern auch zur Sicherstellung der systembedingt abgeforderten konformen Verhaltensformen durch Maßnahmen der sozialen Disziplinierung (S 38). Damit wird er auch zu einem Instrument bürgerlicher Herrschaft, die eine bestimmte Lebensform denen aufzwingt, die keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung haben – ganz in dem Sinne, dass jene, die über ausreichende Mittel verfügen, die Freiheit haben, so leben zu können, wie sie möchten. Jene aber, bei denen das nicht der Fall ist, bekommen hingegen vom Staat vorgeschrieben, wie sie sich zu verhalten und somit auch, wie sie zu leben haben. Damit stellen soziale Dienste gerade keine „soziale Hängematte“ dar, sondern sind Teil der staatlichen Regulationsweise kapitalistischer Produktion (S 42).
Dimmel stellt klar, dass ein kapitalistischer, in der Standortkonkurrenz wettbewerbsfähiger Produktionsprozess zwingend auf derartigen Vor- und Reparaturleistungen beruht. Damit kann die Gewinnwirtschaft Profite schreiben, während soziale, vergesellschaftete Folgekosten vermieden werden. Der Wohlfahrtsstaat übernimmt sohin die Sanierung der destruktiven sozialen und gesundheitlichen Folgen der Konkurrenzgesellschaft (S 44) und ist damit auch die „Reparaturanstalt des Marktes“ (S 47 und dann auch 67). Es sind Ausführungen wie diese, die das Buch lesenswert und erhellend machen, da sie ein Gegennarrativ zur vorherrschenden Erzählung aufbauen und – mit beeindruckend vielen Referenzen und Literaturnachweisen gespickt – gute Argumente für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat und dessen Transformation bieten. Und Dimmel legt klar die Richtung dar, die die Erbringung sozialer Leistungen derzeit nimmt: Zuerst wird unbeirrt von aller Empirie der Sozial- und Wohlfahrtsstaat als Belastung eines globalisiert konkurrenzfähigen Wirtschaftsstandortes denunziert. Dann wird behauptet, dass die bislang öffentlich organisierte und gesteuerte soziale Daseinsvorsorge als Feld der kapitalistischen Landnahme durch profitorientierte Pflegekonzerne und social entrepreneurs erschlossen werden könnte. Drittens soll die Vermarktlichung der Sozialwirtschaft für jene Innovationen sorgen, welche die Wirtschaftlichkeit der Sozialwirtschaft sicherstellen. Und zuletzt wird Hilfe nur jenen gewährt, welche diese „wirklich“ benötigen, um Praktiken sozialer Ausgrenzung zu legitimieren (S 72).
In der Folge werden die Strategien im Um- und Rückbau der Sozialwirtschaft dargelegt und die Neukonfiguration der sozialen Arbeit als Regulationsarbeit zur Stabilisierung des bestehenden Systems skizziert, um dann äußerst kritisch auf die Produktion und Regulierung von Qualität einzugehen. Geschlossen wird mit einem ausführlichen Perspektivenkapitel, das die tiefe Paradoxie von sozialen Diensten in der derzeitigen Form offenlegt. Es geht dabei einerseits um eine Dialektik von individueller Lebensführung und Gemeinwesen, privatem und öffentlichem Nutzen und andererseits auch um Systemimperative der Verwertung von Arbeitsvermögen am Arbeitsmarkt, sozialer Kontrolle und Zwänge sozialer Konformität. Ergebnis einer Sozialdienstleistung in einem grundlegend transformierten System soll es nach Dimmel sein, dass die strukturelle Gewalt der neoliberalen Abstiegsgesellschaft nicht in Form von Delinquenz, sondern in Form kontrollierter Autoaggression, des Erwerbs von Identität simulierenden Konsum-Surrogaten und des Nachäffens von Praktiken der FinanzmarktkapitalistInnen im Lotto-Spiel verarbeitet wird (S 237). Und dagegen kämpft der Autor mit aller Kraft wortgewaltig vor allem damit an, dass die versteckten Dynamiken des Umbauprozesses offengelegt werden. Ich habe während der Lektüre viel darüber gelernt und kann das Buch, das wirklich grundlegende Fragen des Sozialstaates äußerst kundig aufarbeitet, wärmstens empfehlen.