Grenzüberschreitendes Arbeiten im virtuellen Raum – ein Fall für das europäische Arbeitsrecht?

MARTINRISAK (WIEN)
Durch die Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie verliert der physische Arbeitsort zunehmend an Bedeutung, da die Arbeit vermehrt in einem virtuellen Informationsraum stattfindet. AN müssen sich nicht mehr zwingend am selben Ort aufhalten, um zusammenzuarbeiten, sofern sie zumindest virtuell verbunden und so in die Organisation ihres/ihrer AG eingebunden sind. So kann es vermehrt zum Auseinanderfallen des physischen und des virtuellen Arbeitsortes kommen. Liegen diese außerdem in zwei verschiedenen Staaten, was dauerhaft oder auch nur vorübergehend erfolgen kann (gewissermaßen als „virtuelles GrenzgängerInnentum“ oder „virtuelle Entsendung“), so wirft das interessante Rechtsfragen insb hinsichtlich des anwendbaren Rechts sowie des Geltungsbereichs der Entsende-RL 96/71/EG bzw in Zukunft (EU) 2018/957 auf.
  1. Problemstellung

  2. Versuch einer Typologie grenzüberschreitenden virtuellen Arbeitens

  3. Anwendbares Recht nach Art 8 Rom I-Verordnung

  4. Zur Anwendung des LSD-BG bzw der Entsende-RL

  5. Ergebnis und Ausblick

1.
Problemstellung

Das herkömmliche Bild des Arbeitens in persönlicher Abhängigkeit geht davon aus, dass sich der/die AN physisch in den Betrieb ihres/ihrer AG begibt. Dies war insb bei der die Entwicklung des modernen Arbeitsrechts prägenden Industriearbeit der Fall, die neben der grundlegenden Trennung von Arbeitszeit und Freizeit auch zu einer räumlichen Trennung von Arbeit, dem Betrieb, und dem Privaten, dem außerbetrieblichen Raum, geführt hat. Sie war vor allem durch die Art der Produktionsverhältnisse geradezu vorgegeben: kostenintensive Maschinen und arbeitsteilige Produktionsabläufe bedürfen einer örtlichen Konzentration in einem Betrieb, der dann iSd tayloristisch bzw fordistisch organisierten Arbeitsteilung optimiert wird und immer mehr zu einem Großunternehmen anwächst. Dies war der Ausgangspunkt des modernen Arbeitsrechts; die auch physische Trennung der betrieblichen und privaten Sphäre prägt weiterhin unser Verständnis der Arbeit und wo sie räumlich stattfindet. Dies spiegelt sich auch in der Alltagssprache wider: Man geht in die Fabrik, ins Büro, ins Geschäft oder aufs Institut und nach verrichteter Arbeit geht man dann wieder nach Hause.

Diese räumliche Determinierung der Arbeitsleistung dient vor allem dazu, die Arbeitskraft der AN im Rahmen des vom/von der AG organisierten Arbeitsprozesses bestmöglich nutzbar zu machen. Dafür bedurfte es vor allem einer physischen Anwesenheit im Betrieb des/der AG, da eben nur dort bspw die Akten zur Verfügung standen oder die Maschine bedient werden konnte. Auch konnte die Arbeitsleistung nur so kontrolliert werden. Diese Rahmenbedingungen haben sich nun bei vielen Tätigkeitsbereichen geändert, insb dort, wo AN neben ihrer physischen Präsenz an einem Arbeitsplatz zugleich auch in einem Informationsraum arbeiten. Damit erleben wir mitunter eine zweigeteilte Arbeitsleistungserbringung, da AN sozusagen doppelt präsent sind: einerseits physisch an dem realen Arbeitsort und andererseits aber auch virtuell* im Informationsraum.* Unter Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie müssen AN nämlich nicht immer dort physisch anwesend sein, wo ihre Arbeit wirksam wird: Eine Softwarespezialistin muss sich zB nicht physisch in einen Betrieb begeben, um ein Software-Update vorzunehmen oder einen Fehler zu beheben; es reicht aus, wenn sie sich in das System einloggt. Auch muss eine Ärztin eine Befundung von Röntgenbildern nicht unbedingt im Spital durchführen, wenn ihr diese digital übermittelt werden; sie muss im Fall der Telemedizin nicht einmal physisch im Operationssaal anwesend sein, um dort zu operieren. Bei diesen sogenannten ferngesteuerten117 Dienstleistungen (remote services)* ist es somit nicht mehr erforderlich, physisch dort anwesend zu sein, wo die einzelnen Leistungen wirksam werden, da sie durch die Erbringung im virtuellen Informationsraum geradezu in Echtzeit am Empfangsort ankommen. Und es ist zu erwarten, dass es insb in der Industrie 4.0, in der das Internet der Dinge, Daten und Dienste schon bald die digitale Welt miteinander verschmelzen und intelligente Infrastrukturen entstehen lässt, in denen Subjekte und Objekte in Echtzeit miteinander kommunizieren,* zu einer weiteren Beschleunigung dieser Entwicklung kommt und sich die Art der Arbeitsorganisation grundlegend verändern wird.

Dieses Phänomen des dislozierten Arbeitens ist, wie so vieles, nicht unbedingt neu, erfährt aber nunmehr eine beschleunigte Entwicklung, die neben der Digitalisierung auch auf die Globalisierung, die Demografie und das Arbeitskräfteangebot der Zukunft sowie auf einen kulturellen Wandel zurückzuführen ist.* Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit in Call Centern, dh Telefonzentralen, in denen unterschiedliche Dienstleistungen, wie der Verkauf von Produkten, die Durchführung von Beratungen oder die Abwicklung von KundInnenbeschwerden, erbracht werden.* Auch hier besteht eine räumliche Distanz zwischen den AnruferInnen und den „Call Center Agents“, die über das Telefon überbrückt wird. Dies macht den Ort, an dem die Anrufe entgegengenommen werden, verhältnismäßig beliebig, vorausgesetzt, das Telefonnetz funktioniert. Es ist eine ortsungebundene Leistung, die es Unternehmen möglich macht, sich in Staaten mit einem niedrigen Lohnniveau anzusiedeln (zB in Indien*) oder in solchen, die Steuervorteile bieten (wie zB in Irland*). Letztlich arbeiten bzw arbeiteten diese AN aber an einem gemeinsamen Ort, dem Call Center, wo sie einen Tisch, einen Computer und ein Telefon haben und wo sie auch organisatorisch eingebunden sind. Auf Grund der fortschreitenden technologischen Entwicklung ist es aber nicht mehr unbedingt erforderlich, dass sich ein Call Center Agent körperlich in das Call Center begibt, sondern es reicht mitunter aus, sich zu Hause an den Computer zu setzen, sich im virtuellen Call Center einzuloggen und das Headset aufzusetzen, um mit der Erbringung der Arbeitsleistung zu beginnen.* Sie sind in diesem Fall zwar physisch bei sich zu Hause, organisatorisch aber genauso in den Call Center Betrieb eingebunden, als ob sie dort auch physisch anwesend wären. Sie bekommen die Telefonate von einem/einer Vorgesetzten oder einem Algorithmus zugeteilt, wickeln diese über das Telefonsystem des/der Call Center-BetreiberIn ab und werden idR auch intensiv überwacht. Dies betrifft die Dauer der Telefonate, die Anzahl der Kontakte und uU auch den Inhalt, da diese evtl aufgezeichnet und ausgewertet werden bzw diese bisweilen sogar „zur Sicherung der Qualität“ auch mitgehört werden. Eine weitere Kontrollmöglichkeit besteht durch die Erhebung der KundInnenzufriedenheit, die mitunter sehr kleinteilig sein kann (zB eine Befragung nach jedem Telefonat) und so auch eine wichtige Kontrollfunktion erfüllt. An diesem Beispiel zeigt sich mE sehr gut die qualitative Veränderung der virtuellen Dimension, die dazu führt, dass der physische Arbeitsort an Bedeutung verliert.* Es ist schlicht egal, von wo aus der/die AN seine/ihre Leistungen erbringt; Hauptsache ist, dass sie sich im gemeinsamen Informationsraum befinden.*

In rechtlicher Hinsicht besonders interessant ist diese Zweiteilung des Arbeitsortes in einen physischen und einen virtuellen dann, wenn sie grenzüberschreitend stattfindet, dh wenn der Ort der physischen und der virtuellen Leistungserbringung in unterschiedlichen Staaten liegt. Dies hat den Vorteil, dass Standorte nicht verlegt werden müssen oder dass AN nicht in ein anderes Land reisen müssen, um dort zu arbeiten. Dass dies attraktiv ist, kann unterschiedliche Gründe haben, so können Transport- und Übersiedlungskosten gespart werden, eine Trennung von Familie und sozialem Umfeld erfolgt nicht.* Außerdem können die Unterschiede im Entgeltniveau sowie in den Sozial- und Lebenshaltungskosten genutzt werden.* Letzteres ist freilich nicht unproblematisch, da damit wegen der unmittelbaren Wirksamkeit der Leistungen am Arbeitsmarkt des EmpfängerInnenstaates die dortigen Entgelt- und Sozialniveaus unter Druck geraten können. Und dies ist genau das Thema, das die Entsende-RL 96/71/EG (in der Folge kurz Entsende-RL) bzw in Zukunft RL (EU) 2018/957 behandelt.

2.
Versuch einer Typologie grenzüberschreitenden virtuellen Arbeitens

Um das virtuelle grenzüberschreitende Arbeiten aus der Perspektive des Arbeitskollisionsrechts118 zu beleuchten, ist es zweckmäßig, Fallgruppen zu entwickeln, die uU eine unterschiedliche rechtliche Behandlung erfordern. Dabei ist von einem Wohnort, einem physischen Arbeitsort im Ausland (zB Ungarn) und einer virtuellen Leistungserbringung der Arbeit im Inland (dh Österreich) auszugehen.

Es ist denkbar, dass dauerhaft grenzüberschreitende Arbeitsleistungen durch Arbeit im virtuellen Raum erbracht werden. Es liegt hier sozusagen ein „virtuelles GrenzgängerInnentum“ vor. Der/die AN verlässt durch das Betreten des virtuellen Raumes täglich ihren Wohnortstaat, um in einem anderen Staat virtuelle Arbeitsleistungen zu erbringen. Dies kann dergestalt stattfinden, dass dies zur persönlichen Abhängigkeit und der Integration in einen Betrieb im Inland führt, wie zB im Fall eines Buchhalters, der in Vollzeit für ein österreichisches Unternehmen die Buchhaltung erledigt und in dieses organisatorisch eingebunden ist. Anders ist der Fall wohl dann gelagert, wenn auch der Betrieb, in den der/die AN virtuell integriert ist, im Ausland liegt, aber LeistungsempfängerInnen der AG im Inland ansässig sind, wie zB im Falle eines ungarischen Call Centers, für das der/die AN von zu Hause aus arbeitet, und das ausschließlich Anrufe österreichischer KundInnen entgegennimmt.

Denkbar ist auch eine nicht dauerhafte, sondern lediglich eine vorübergehende grenzüberschreitende Leistungserbringung, sozusagen eine „virtuelle Entsendung“,* wobei hier zu unterscheiden ist, ob es zu einer Integration in den Betrieb des/der österreichischen LeistungsempfängerIn kommt oder nicht. Im ersteren Fall läge eine „virtuelle Arbeitskräfteüberlassung“ vor, die freilich auch dauerhaft erfolgen könnte.

Bei der ortsungebundenen, virtuellen Plattformarbeit (auch Crowdwork oder Clickwork genannt)* findet die Tätigkeit oft grenzüberschreitend statt, wobei zu unterscheiden ist, ob es sich um eine ausländische Plattform handelt, über die gearbeitet wird, und weiters danach, für wen Leistungen erbracht werden (inländische oder ausländische LeistungsempfängerInnen). Wie immer bei der Plattformarbeit ist hier in einem ersten Schritt die nicht unbedingt einfache Frage zu klären, zu wem, wenn überhaupt, ein Arbeitsverhältnis besteht: zur Plattform oder zu den LeistungsempfängerInnen?

All diesen Fällen ist gemein, dass die Staatsgrenze nicht physisch, sondern virtuell überschritten wird und es ist nunmehr die Frage zu stellen, ob dies rechtliche Relevanz hat. Findet dieser Grenzübertritt nämlich tatsächlich in der realen Welt statt, dann hat dies hinsichtlich des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Rechts Auswirkungen: Zur Anwendung kommt entweder das Recht des Staates, in dem die Arbeitsleistung erbracht wird, oder zumindest die in der Entsende-RL angeführten Kern arbeitsnormen (Mindestentgelt, Urlaub, Arbeitszeit). Wie ist das aber nun im Falle einer „nur“ virtuellen Entsendung? In der Folge soll auf zwei Fallgruppen, das digitale GrenzgängerInnentum und die virtuelle Entsendung, näher eingegangen werden.

3.
Anwendbares Recht nach Art 8 Rom I-Verordnung

Das auf Arbeitsverhältnisse anwendbare Recht wird bei grenzüberschreitenden Sachverhalten bekanntlich durch die Kollisionsnormen der VO (EG) 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO) bestimmt. Demnach gilt grundsätzlich gem Art 3 die freie Rechtswahl, die jedoch im Falle von Arbeitsverträgen wesentlichen Einschränkungen unterliegt. Nach Art 8 Abs 1 Rom I-VO darf nämlich die Rechtswahl der Parteien nicht dazu führen, dass AN der Schutz entzogen wird, der ihnen mangels Rechtswahl zugestanden wäre. Art 8 Abs 2 Rom I-VO stellt dabei in erster Linie auf den Staat ab, „in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer seinen Arbeitsvertrag erfüllt“. Unter dem gewöhnlichen Arbeitsort ist nach der Rsp jener Ort zu verstehen, den der/die AN tatsächlich als Mittelpunkt der Berufstätigkeit gewählt hat, dh an dem oder von dem aus er/sie den wesentlichen Teil der Verpflichtungen gegenüber dem/der AG tatsächlich erfüllt.* Bei Heimarbeit soll jener Ort ausschlaggebend sein, an dem die Arbeit tatsächlich ausgeführt wird, bei Telearbeit der Ort der tatsächlichen Dateneingabe.* Auch in der deutschen Literatur wird einhellig objektiv nach Art 8 Abs 2 Rom I-VO an den (physischen) Ort der Telearbeit angeknüpft.* Es entspricht somit der wohl hA, dass bei virtueller Arbeit der „gewöhnliche Arbeitsort“ iSd Art 8 Rom I-VO der physische Arbeitsort der Leistungserbringung relevant ist.

Auch scheint die „von dem aus“-Klausel in Art 8 Abs 2 Rom I-VO diese Ansicht zu unterstützen, nämlich, dass es dabei auf den physischen Arbeitsort ankommen soll, von dem aus uU auch virtuell grenzüberschreitend gearbeitet wird. Durch diese Formulierung sollte eine Stärkung der Anknüpfung an den gewöhnlichen Arbeitsort gegenüber der Anknüpfung an der einstellenden Niederlassung erreicht werden.* Wesentlich ist dabei, ob es einen Staat gibt, in dem das tatsächliche Umfeld der Arbeit liegt;* dies ist auf der Grundlage aller möglichen Gesichtspunkte zu ermitteln, die die konkrete Tätigkeit des betroffenen AN kennzeichnen.* Zu beru¨cksichtigen sind dabei insb folgende Aspekte: Ort der Arbeitsmittel; Ort, von119 dem die Arbeit aus organisiert wird; Ort, von dem die Anweisungen an den AN aus erfolgen; bei Transport-AN Ort, von dem die Transporte starten oder an dem die Transporte enden; Ort eines Schreibtischarbeitsplatzes im Büro oder zu Hause.* Damit sind von der Klausel in erster Linie Tätigkeiten erfasst, die mit einer regelmäßigen grenzüberschreitenden (Reise-)Tätigkeit einhergehen, wie zB HandelsvertreterInnen, ManagerInnen oder TechnikerInnen* sowie auch das Personal von Fluglinien.* Letztlich geht es auch dabei um die Herstellung der engeren Beziehung und die Vermeidung einer Anknüpfung an die einstellende Niederlassung gem Abs 3 leg cit, da das das Arbeitsverhältnis trotz fehlenden gewöhnlichen Arbeitsorts in einem Land einem Staat zugeordnet werden kann.*

Auch wenn unter der Heranziehung der hA der gewöhnliche Arbeitsort in diesem Sinne wohl jener der physischen Leistungserbringung sein wird, so ist dieser Schluss nicht jedenfalls zwingend. Sieht man auch die (virtuelle) Integration in den inländischen Betrieb als relevant an und berücksichtigt man ebenso die zweigeteilte Arbeitsleistungserbringung sowohl physisch am realen ausländischen Arbeitsort als auch am virtuellen inländischen, dann könnte auch die objektive Anknüpfung nach Art 8 Abs 3 Rom I-VO zur Anwendung kommen. Demnach gilt, dass, wenn das anzuwendende Recht nicht nach Abs 2 leg cit bestimmt werden kann, der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates unterliegt, in dem sich die Niederlassung befindet, die den/die AN eingestellt hat. Und dies würde dann zur Anwendung des Rechts des Arbeitsortes führen, an dem virtuell die Leistung erbracht wird. Dieses Ergebnis macht im System von Art 8 Rom I-VO immer dann Sinn, wenn sich die Tätigkeit keinem Staat klar zuordnen lässt, da beide Elemente, dh der physische und der virtuelle Arbeitsort, ähnliches Gewicht haben.

Nicht vergessen sollte man auch auf die Ausweichklausel nach Abs 4 leg cit. Demnach ist von den bisher dargestellten Regelanknüpfungen unter der Voraussetzung abzuweichen, dass das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände engere Verbindungen zum Recht eines anderen Staates aufweist.* Dabei wird der Ausnahmecharakter dieser Bestimmung betont,* sodass jedenfalls nicht alle Fälle der virtuellen grenzüberschreitenden Leistungserbringung unter Heranziehung dieser Bestimmung gelöst werden können. In concreto geht es darum zu argumentieren, dass die virtuelle Dimension der Leistungserbringung diese engere Verbindung darstellt, was uU im Falle einer intensiven virtuellen Einbindung in die täglichen Arbeitsabläufe des inländischen Betriebes im Beispielfall des Buchhalters zumindest denkbar ist.

Problematisch ist im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden virtuellen Arbeitsleistung, dass keine Kombination mehrerer Arbeitsrechtsordnungen möglich ist, die uU der Besonderheit der zweigeteilten Leistungserbringung eigentlich besser entsprechen würde. Eine solche Kombination zweier (Individual-)Arbeitsrechtsordnungen kommt jedoch bei einer Entsendung zur Anwendung, da es hier auf Grund von Art 8 Abs 2 zweiter Satz Rom I-VO zu keinem Statutenwechsel kommt. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nämlich nicht, wenn der/die AN seine/ihre Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet. Daneben tritt aber die Entsende-RL bzw die sie umsetzenden nationalen Normen (in Österreich das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz [LSD-BG]), die Kernbestimmungen des Aufnahmestaates zur Anwendung bringen und wodurch uU auch bei einem virtuellen grenzüberschreitenden Arbeiten eine sachadäquate Lösung gefunden werden könnte.

4.
Zur Anwendung des LSD-BG bzw der Entsende-RL

Der Entsende-RL und dem diese umsetzenden LSD-BG liegt die Überlegung zu Grunde, dass mangels dieser Sonderbestimmungen im Falle einer vorübergehenden Leistungserbringung in einem anderen Staat das unter Pkt 3. dargestellte Kollisionsrecht dazu führen würde, das AN uU in ein und demselben Mitgliedstaat verschiedenen Entgelt- und Arbeitsbedingungen unterliegen: einerseits Personen, deren gewöhnlicher Arbeitsort in diesem Staat liegt und auf die dessen gesamtes Individualarbeitsrecht zur Anwendung kommt und andererseits AN, die aus einem anderen in diesen, den Aufnahmestaat, entsendet werden. Auf zweitere kämen das Arbeitsrecht des Entsendestaates zur Anwendung und daneben (nur) die Eingriffsnormen des Aufnahmestaates, die jedoch nicht gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen dürfen. Damit stehen AN und deren AG untereinander in einem direkten Wettbewerb, der nicht unwesentlich durch die unterschiedlichen anwendbaren Gesetze (insb die Mindestentgeltbestimmungen) bestimmt wird.*

Die Entsende-RL begegnet dieser Situation, indem sie sehr unterschiedliche Interessen ausgleicht: einerseits die Dienstleistungsfreiheit und andererseits sowohl der Schutz entsandter AN sowie die Gewährleistung gleicher Ausgangsbedingungen sowohl der gebietsansässigen als auch der gebietsfremden WirtschaftsteilnehmerInnen. Damit soll ein fairer Wettbewerb ebenso sichergestellt werden wie ein Schutz des inländischen Entgelt- und Sozialniveaus.* Zu diesem Behufe sieht die120 Entsende-RL einen „harten Kern“ von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmestaates vor (im Wesentlichen Mindestentgelte, Urlaub und Arbeitszeitgrenzen), die für ausländische DienstleistungserbringerInnen jedenfalls verbindlich sind und die den entsendeten AN jedenfalls unabhängig von dem auf ihr Arbeitsverhältnis anwendbares Recht gewährt werden müssen.

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen teloi der Entsende-RL stellt sich nun die Frage, ob nur eine physische Entsendung oder auch eine solche, die rein virtuell stattfindet, deren Anwendungsbereich unterfällt und damit auch dem das diese umsetzende LSD-BG. Betrachtet man den Wortlaut der einzelnen Bestimmungen des LSD-BG, zB § 3 Abs 3 („nach Österreich zur Arbeitsleistung entsandter Arbeitnehmer“) oder § 4 Abs 2 bzw § 5 („Entsandte Arbeitnehmer“), so geht das Gesetz offensichtlich von einer physischen Entsendung aus. In der österreichischen juristischen Literatur* wurde, soweit überblickt, die Frage der virtuellen Entsendung noch nicht diskutiert. Auch die Entsende-RL 96/71/EG deutet in diese Richtung, wobei hier insb auf ErwGr 3 („für eine zeitlich begrenzte Arbeitsleistung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu entsenden, der nicht der Staat ist, in dem sie normalerweise beschäftigt werden“) sowie auch auf die Definition in Art 2 Abs 2 („Im Sinne dieser Richtlinie gilt als entsandter Arbeitnehmer jeder Arbeitnehmer, der während eines begrenzten Zeitraums seine Arbeitsleistung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als demjenigen erbringt, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet.“) hinzuweisen ist. Auch hier wird in der Literatur, soweit überblickt, auf eine virtuelle Entsendung ohne körperlichen Grenzübertritt nicht Bezug genommen.*

Zu einem anderen Ergebnis könnte eine teleologische Interpretation der Entsende-RL bzw des LSD-BG führen, wobei es im Wesentlichen darauf ankommt, welchem Zweck dieser Normen der Vorrang eingeräumt wird. Dies gestaltet sich insofern nicht unbedingt einfach, da, wie bereits dargelegt, unterschiedliche und zT auch widerstreitende Zwecke mit diesen Normen verfolgt werden. Betrachtet man die praktisch sicherlich am bedeutsamsten Mindestentgeltbestimmungen, so ist es unter AN-Schutzgesichtspunkten nur schwierig zu argumentieren, warum diese auch zur Anwendung kommen sollen, wenn der/die AN an einem anderen Arbeitsort physisch arbeitet und dort auch lebt. Das Preisniveau, das nicht unwesentlich die Mindestentgeltbestimmungen determiniert, kommt diesfalls ja nicht zur Anwendung, da der/die betreffende AN sich ja gar nicht in dem betreffenden Staat aufhält. Anders sieht es dann aus, wenn der faire Wettbewerb zwischen den einzelnen LeistungsanbieterInnen und der Schutz der einheimischen Entgelt- und Sozialniveaus in den Vordergrund gerückt werden. Diese können durch eine grenzüberschreitende Entsendung sehr wohl unter Druck gesetzt werden und unter diesem Gesichtspunkt kann eine teleologische Interpretation zu einem entsprechend weiten Verständnis der Entsendung führen, sodass auch eine virtuelle Entsendung davon erfasst sein kann.

Unterstellt man auch virtuelle Entsendungen der Entsende-RL und kombiniert somit die Rechtsordnung des Staates der physischen Leistungserbringung als jenen des „gewöhnlichen Arbeitsortes“ mit den harten Kernnormen des Staates der virtuellen Leistungserbringung als Aufnahmestaat iSd Entsende-RL bzw des LSD-BG, dann führt dies mE zu sachadäquaten Ergebnissen. Hinzuweisen ist darauf, dass diese einer kombinierte partielle Anwendung beider Rechtsordnungen nur im Falle der virtuellen Entsendung, dh der vorübergehenden Leistungserbringung im virtuellen Aufnahmestaat, möglich ist. Im Falle dauerhaft virtuell grenzüberschreitender Leistungserbringung kommt es hingegen nur zur exklusiven Anwendung der Rechtsordnung eines Staates (siehe Pkt 3.).

5.
Ergebnis und Ausblick

Das Auseinanderfallen des physischen und des virtuellen Arbeitsortes kann zu einer neuen Form grenzüberschreitenden Arbeitens führen: AN bewegen sich nicht physisch, sondern nur virtuell über die Grenze, indem sie in einem ausländischen Betrieb mitunter so intensiv organisatorisch eingebunden werden, dass sie als dort beschäftigte AN angesehen werden können.* Das derzeitige Arbeitsrecht auf europäischer und nationaler Ebene berücksichtigt diese Entwicklung noch nicht im ausreichenden Maße und hat dafür keine expliziten Regelungen vorgesehen. Auf interpretativen Wegen können jedoch auch jetzt schon mit einigem Argumentationsaufwand Lösungen gefunden werden, die die virtuelle Dimension mitberücksichtigen. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine kombinierte Anwendung beider Rechtsordnungen in vielen Fällen sachgerechter wäre. Das ist aber nach der derzeitigen Rechtslage wohl (noch) nicht immer möglich.

Dies betrifft insb den Fall der dauerhaften virtuellen täglichen Grenzüberschreitung iSe virtuellen GenzgängerInnentums. Hier spricht mE vieles dafür, dass dann das vertragliche Arbeitsrecht der virtuellen Leistungserbringung zur Anwendung kommt. Dies entweder wegen der objektiven Anknüpfung an den Sitz der Niederlassung des/der AG (Art 8 Abs 3 Rom I-VO) oder wegen der engeren Verbindung nach Abs 4 leg cit. Im Falle einer vorübergehenden virtuellen Entsendung kommt mE die Entsende-RL bzw das LSD-BG zur Anwendung, womit eine sachadäquate Kombination der beiden Rechtsordnungen möglich ist. Diese Lösung ist auch für den Fall der dauerhaften virtuellen Arbeit über die Grenze, wie insb beim virtuellen GrenzgängerInnentum oder auch bei virtueller Plattformarbeit, zu erwägen, wofür es jedoch gesetzgeberischer Aktivitäten auf EU-Ebene bedürfte.121