10Entsendevorschriften
Entsendevorschriften
Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 und Art 11 Abs 1 Buchst a der VO 574/72 sind dahin auszulegen, dass, wenn der Träger des Mitgliedstaats, in den die AN entsandt wurden, den Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf dieser Bescheinigungen im Licht von im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise zu berücksichtigen, um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung der Bescheinigungen zu Recht erfolgt ist, das nationale Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte AN unter Verwendung derartiger Bescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen kann, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.
[...]
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
17 Die Sociale Inspectie (Sozialaufsichtsbehörde, Belgien) führte bei Absa, einer im Bausektor in Belgien tätigen Gesellschaft belgischen Rechts, eine Prüfung hinsichtlich der Beschäftigung ihrer Belegschaft durch.
18 Bei dieser Prüfung wurde festgestellt, dass Absa seit 2008 praktisch kein Personal beschäftigte und mit den Arbeiten auf sämtlichen Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmer betraute, die AN nach Belgien entsandten. Ferner wurde festgestellt, dass die Beschäftigung dieser AN bei dem belgischen Träger, dem die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge obliegt, nicht angemeldet worden war, da sie Bescheinigungen E 101 oder A 1 besaßen, die von dem von der zuständigen bulgarischen Behörde gem Art 11 Abs 1 der VO 574/72 benannten Träger ausgestellt worden waren.
19 Eine im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens eines belgischen Untersuchungsrichters in Bulgarien veranlasste gerichtliche Untersuchung ergab, dass diese bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübten.
20 Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Untersuchung stellte die belgische Sozialaufsichtsbehörde am 12.11.2012 beim zuständigen bulgarischen Träger einen mit Gründen versehenen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der Bescheinigungen E 101 oder A 1, die den entsandten AN ausgestellt worden waren, um die es im Ausgangsverfahren geht.
21 Aus den Erklärungen der belgischen Regierung geht hervor, dass der zuständige bulgarische Träger am 9.4.2013 nach einem Erinnerungsschreiben der belgischen Sozialaufsichtsbehörde auf diesen Antrag antwortete, indem er eine Aufstellung der ausgestellten Bescheinigungen E 101 oder A 1 mit Angabe der jeweiligen Gültigkeitsdauer übersandte und mitteilte, dass die verschiedenen bulgarischen Unternehmen zum Zeitpunkt der Ausstellung dieser Bescheinigungen die Voraussetzungen der Entsendung administrativ erfüllt hätten. Dagegen wurden die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen in dieser Antwort nicht berücksichtigt. [...]
25 Mit Urteil vom 10.9.2015 verurteilte der Hof van beroep Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen, Belgien) die Angeklagten des Ausgangsverfahrens. Dieses Gericht stellte zwar fest, dass jedem der entsandten AN eine Bescheinigung E 101 oder A 1 ausgestellt worden sei und die belgischen Behörden nicht das für die Anfechtung der Gültigkeit dieser Bescheinigungen vorgesehene Verfahren durchlaufen hätten, war jedoch der Auffassung, dass es durch diese Umstände nicht gebunden sei, weil die Bescheinigungen betrügerisch erwirkt worden seien. [...]128
27 Da der Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art 11 Abs 1 der VO 574/72 hat, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Kann eine E-101-Bescheinigung, die gem Art 11 Abs 1 der VO 574/72 in der vor ihrer Aufhebung durch Art 96 Abs 1 der VO 987/2009 geltenden Fassung ausgestellt wurde, von einem anderen Gericht als dem des Entsendemitgliedstaats für nichtig erklärt oder außer Acht gelassen werden, wenn der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung trägt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde?
Zur Vorlagefrage
28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 und Art 11 Abs 1 Buchst a der VO 574/72 dahin auszulegen sind, dass, wenn ein AN eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, ein Gericht des letztgenannten Mitgliedstaats eine gemäß der zweitgenannten Bestimmung ausgestellte Bescheinigung E 101 außer Acht lassen kann, wenn ihm der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung erlaubt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde. [...]
32 Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 hat insb das Ziel, die Dienstleistungsfreiheit zugunsten von Unternehmen zu fördern, die AN in andere Mitgliedstaaten als den Staat ihrer Betriebsstätte entsenden. Diese Bestimmung soll Hindernisse für die Freizügigkeit der AN überwinden helfen sowie die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung fördern und dabei administrative Schwierigkeiten insb für die AN und die Unternehmen vermeiden (vgl in diesem Sinne Urteil vom 10.2.2000, FTS, C-202/97 EU:C:2000:75, Rn 28 und die dort angeführte Rsp,). [...]
34 Die Anwendung dieser Vorschrift unterliegt jedoch zwei Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung, die die erforderliche Bindung zwischen dem Unternehmen, das den AN in einen anderen Mitgliedstaat als den Staat seiner Betriebsstätte entsendet, und dem entsandten AN betrifft, verlangt, dass zwischen dem Unternehmen und dem AN während der Dauer seiner Entsendung eine arbeitsrechtliche Bindung erhalten bleibt. Die zweite Voraussetzung, die die Bindung des Unternehmens an den Mitgliedstaat, in dem es seine Betriebsstätte hat, betrifft, verlangt, dass das Unternehmen in diesem Mitgliedstaat gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausübt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 10.2.2000, FTS, C-202/97, EU:C:2000:75, Rn 21 bis 24, 30, 33 und 40 bis 45).
35 In diesem Zusammenhang soll die Bescheinigung E 101 – ebenso wie die materiell-rechtliche Regelung in Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 – die Freizügigkeit der AN und die Dienstleistungsfreiheit fördern (Urteil vom 26.1.2006, Herbosch Kiere, C-2/05, EU:C:2006:69, Rn 20 und die dort angeführte Rsp). [...]
37 Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art 4 Abs 3 EUV verpflichtet dabei den ausstellenden Träger, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung E 101 aufgeführten Angaben zu gewährleisten (Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 39 und die dort angeführte Rsp).
38 Ebenso würde der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit ausgeführt wird, seine Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art 4 Abs 3 EUV verletzen – und die Ziele von Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 und Art 11 Abs 1 Buchst a der VO 574/72 verfehlen –, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung E 101 gebunden sähe und diese AN zusätzlich seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellte (vgl entsprechend Urteile vom 30.3.2000, Banks ua, C-178/97, EU:C:2000:169, Rn 39, sowie vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 40).
39 Da die Bescheinigung E 101 eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss des betreffenden AN an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem dieser AN eine Arbeit ausführt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 41 und die dort angeführte Rsp). [...]
41 Solange eine Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, hat deshalb der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der AN eine Arbeit ausführt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass dieser bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist; der Träger kann daher den fraglichen AN nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen (Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 43 und die dort angeführte Rsp).
42 Allerdings ergibt sich aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass jeder Träger eines Mitgliedstaats eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vorzunehmen hat. Aus diesem Grundsatz ergibt sich ferner, dass die Träger der anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten dürfen, dass der Träger des betroffenen Mitgliedstaats dieser Pflicht nachgekommen ist (vgl entsprechend Urteil vom 3.3.2016, Kommission/Malta, C-12/14, EU:C:2016:135, Rn 37).
43 Folglich muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 ausgestellt hat, überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und diese Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der AN eine Arbeit ausführt, Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben insb deshalb geltend macht, weil diese den Tatbestand des Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 nicht erfüllten (vgl in die-129sem Sinne Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 44 und die dort angeführte Rsp). [...]
47 Mit der derzeit geltenden VO 987/2009 ist die Rsp des Gerichtshofs kodifiziert worden, indem darin der bindende Charakter der Bescheinigung E 101 und die ausschließliche Zuständigkeit des ausstellenden Trägers für die Beurteilung der Gültigkeit dieser Bescheinigung verankert wurden und ausdrücklich dieses Verfahren als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten sowohl über die Richtigkeit der vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente als auch über die Bestimmung der auf den betreffenden AN anwendbaren Rechtsvorschriften übernommen wurde (vgl in diesem Sinne Urteil vom 27.4.2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn 59).
48 Nach stRsp des Gerichtshofs dürfen diese Erwägungen jedoch nicht dazu führen, dass sich die Rechtsunterworfenen in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können (vgl in diesem Sinne Urteile vom 2.5.1996, Paletta, C-206/94, EU:C:1996:182, Rn 24, vom 21.2.2006, Halifax ua,C-255/02, EU:C:2006:121, Rn 68, vom 12.9.2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C-196/04, EU:C:2006:544, Rn 35, sowie vom 28.7.2016, Kratzer, C-423/15, EU:C:2016:604, Rn 37).
49 Der in dieser Rsp aufgestellte Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist. Die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften kann nämlich nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (vgl in diesem Sinne Urteile vom 5.7.2007, Kofoed, C-321/05, EU:C:2007:408, Rn 38, und vom 22.11.2017, Cussens ua, C-251/16, EU:C:2017:881, Rn 27).
50 Die Feststellung eines Betrugs beruht auf einem Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt.
51 Das objektive Element besteht in der Nichterfüllung der in Titel II der VO 1408/71 vorgesehenen und in Rn 34 des vorliegenden Urteils aufgeführten Voraussetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101.
52 Das subjektive Element besteht in der Absicht der Betreffenden, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen.
53 Die betrügerische Erwirkung einer Bescheinigung E 101 kann sich somit aus einer willentlichen Handlung – wie der unzutreffenden Darstellung der tatsächlichen Situation des entsandten AN oder des ihn entsendenden Unternehmens – oder einer willentlichen Unterlassung – wie dem Verschweigen einer relevanten Information – ergeben, die in der Absicht erfolgt, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art 14 Nr 1 Buchst a der VO 1408/71 zu umgehen.
54 Wenn im Rahmen des in Art 84a Abs 3 der VO 1408/71 vorgesehenen Dialogs der Träger des Mitgliedstaats, in den AN entsendet wurden, dem Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, konkrete Beweise vorlegt, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, hat der ausstellende Träger gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit anhand dieser Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen, wie aus der in Rn 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rsp hervorgeht.
55 Nimmt der ausstellende Träger nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine solche erneute Überprüfung vor, müssen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in den die AN entsandt wurden, die betreffenden Bescheinigungen außer Acht lässt.
56 Die Personen, denen in einem solchen Verfahren zur Last gelegt wird, entsandte AN unter Verwendung von betrügerisch erlangten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, müssen jedoch unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften, bevor das nationale Gericht gegebenenfalls entscheidet, diese Bescheinigungen außer Acht zu lassen, und über die Verantwortlichkeit dieser Personen nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht befindet. [...]
60 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens kann das nationale Gericht die betreffenden Bescheinigungen E 101 außer Acht lassen und hat festzustellen, ob die Personen, die verdächtigt werden, entsandte AN unter Verwendung von betrügerisch erwirkten Bescheinigungen eingesetzt zu haben, auf der Grundlage des anwendbaren innerstaatlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden können. [...]
Die Entsendevorschriften des Koordinierungsrechts leisten einen wichtigen Beitrag zur Realisierung der Dienstleistungsfreiheit. Nachdem der EuGH in seiner Rsp das Recht von AG, das eigene Personal zur Erfüllung von Auslandsaufträgen einzusetzen, als wesentliches Element der Dienstleistungsfreiheit judiziert hatte (EuGHC-113/89,Rush Portuguesa, EU:C:1990:142; EuGHC-43/93, Vander Elst, EU:C:1994:310), galt es, dieses Recht auch auf der sozialversicherungsrechtlichen Ebene zu garantieren. Bereits zu den entsenderechtlichen Vorschriften der VO Nr 3 und 4 hatte der Gerichtshof betont, dass diese vom Grundsatz der lex loci laboris abweichenden Bestimmungen dazu dienen, „Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu überwinden, die gegenseitige wirtschaftliche Durchdringung zu fördern und dabei admi-
130nistrative Schwierigkeiten für den Arbeitnehmer, die Unternehmen und die Sozialversicherungsträger zu vermeiden
“ (EuGH35/70, Manpower, EU:C:1970:120, Rn 10).
Im Laufe der Zeit zeigte sich aber, dass die Vorschriften von den Unternehmen strategisch benutzt wurden, um das sozialversicherungsrechtliche Beitragsgefälle zwischen den EU-Mitgliedstaaten auszunutzen. Vor einigen Jahren haben acht Arbeitsminister der EU an die Kommission appelliert, tätig zu werden. Denn es zeigte sich mehr und mehr, dass die Strategien nicht immer im Einklang mit Wortlaut und Sinn der Vorschriften standen. Und so verwundert es nicht, dass auch Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts den EuGH Fälle erreichten, in denen die Zweifelhaftigkeit von Praktiken sichtbar wurde. Vor diesem Hintergrund hat sich eine bedeutsame Rsp entwickelt.
Art 14 Z 1a VO (EWG) Nr 1408/71 enthält keinerlei Kriterien, die vom entsendenden Unternehmen zu erfüllen wären. Die entscheidende Weichenstellung hierzu erfolgte in der Rs Fitzwilliam (EuGHC-202/97, EU:C:2000:75). Während das klagende irische Leiharbeitsunternehmen und die irische Regierung der Auffassung waren, dass das in der Rs Manpower vom EuGH vorgetragene Argument, dass das entsendende Unternehmen im Entsendestaat seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich ausüben müsse, so zu verstehen sei, dass damit die Bekämpfung von Missbräuchen, insb von Briefkastenfirmen, gemeint sei, wurde demgegenüber von den anderen beteiligten Regierungen betont, dass das Merkmal verlange, dass das Entsendeunternehmen einen wesentlichen Teil seiner Geschäftstätigkeit dort ausübe. In diesem Sinne entschied der EuGH und lieferte einen Katalog von Kriterien, die für den Nachweis einer gewöhnlich nennenswerten Geschäftstätigkeit im Mitgliedstaat der Betriebsstätte maßgeblich sein sollen (vgl Rn 39 ff des Urteils Fitzwilliam). Diese Kriterien sind später in den Beschluss der Verwaltungskommission A2 eingeflossen. Das Erfordernis ist schließlich in die Formulierung des Art 13 Abs 1 lit a VO (EG) Nr 883/2004 übernommen worden.
Die in Art 11 VO (EWG) Nr 574/72 (Art 19 Abs 2 VO [EG] Nr 987/2009) verankerte Entsendebescheinigung spielt für den Rechtsverkehr eine bedeutsame Rolle, weil sie die Zuordnung zu den Rechtsvorschriften des Entsendestaates zum Ausdruck bringt. Insofern hat der Gerichtshof auch hierzu hervorgehoben, dass sie ebenso wie die materiell-rechtliche Regelung der Förderung der Freizügigkeit der AN und der Dienstleistungsfreiheit dient (EuGH93/81, Knoeller, EU:C:1982:89, Rn 9). In dem Maße, in dem jedoch Mitgliedstaaten erkannten, dass die Bescheinigungen immer häufiger nicht korrekt ausgestellt wurden, begannen sie, ihnen die Geltung zu versagen. Damit war die Frage der Bindung des Aufnahmemitgliedstaats an die Bescheinigung aufgeworfen. In der Rs Fitzwilliam hat der EuGH in einer sehr ausführlichen Begründung die Bindung bejaht und gleichzeitig ein Verfahrensschema entworfen, mit dem Streitfragen im gegenseitigen Austausch der betroffenen Mitgliedstaaten geklärt werden können (Urteil des EuGH in der Rs Fitzwilliam, siehe oben Rn 48 ff). Dieses Verfahren ist anschließend von der Verwaltungskommission im Beschluss A2 niedergelegt worden und hat schließlich in erweiterter, dh auch auf andere Dokumente bezogener Form seinen Niederschlag in Art 5 VO (EG) Nr 987/2009 gefunden.
Dass dieses Verfahren sehr schwerfällig war und deshalb in der Praxis nur sehr selten angewandt wurde, andererseits Missbrauch der Bescheinigung offensichtlich war, nährte das Unbehagen. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür ist der Gegenstand der E in der Rs A-Rosa Flussschiff GmbH (EuGHC-620/15, EU:C:2017:309). Die A-Rosa, mit Sitz in Deutschland, betreibt zwei Kreuzfahrtschiffe auf der Rhône und Saône. Die beiden Schiffe befahren ausschließlich die französischen Binnengewässer. Der französische Sozialversicherungsträger verlangte nachträglich die Abführung von Beiträgen für die beschäftigten AN. Dagegen wehrte sich A-Rosa unter Vorlage der von der schweizerischen Sozialversicherungsanstalt ausgestellten Bescheinigungen E 101. Es war evident, dass die Bescheinigungen nicht hätten ausgestellt werden dürfen, da die Fahrten mit den in Rede stehenden Schiffen ständig und ausschließlich in Frankreich durchgeführt wurden (vgl zu weiteren Details der E Fuchs, NZS 2018, 81 [84 f]). Der in der Sache tätige französische Kassationsgerichtshof fragte an, ob die ausgestellten Bescheinigungen auch die Gerichte binden. Dies wurde vom Gerichtshof mit ausführlicher Begründung bejaht (vgl Rn 34 ff; ausführlich zur E auch Reinhardt, ZESAR 2018, 179 ff).
Das einzige Zugeständnis iS einer Verneinung der Bindungswirkung hat der EuGH bisher nur in den Rs X und van Dijk zugelassen (EuGHC-72/14, X und C-197/14, van Dijk, EU:C:2015:564). Hier hatte ein luxemburgischer Träger gemäß den Zuweisungsregeln des Übereinkommens über die Rheinschiffer eine Bescheinigung ausgestellt, wobei er das Formular E 101 verwendete, weil ein vergleichbares Formular im Rahmen des Übereinkommens nicht vorhanden war. Der EuGH versagte einer solchen Bescheinigung die Bindungswirkung, weil Rheinschiffer nicht unter den Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnung fallen (vgl Rn 43 ff). In Fällen dieser Art hatte der französische Kassationsgerichtshof in stRsp in Anwendung der acte clair-Theorie eine Vorlageverpflichtung an den EuGH verneint. Er wollte jedoch vom EuGH wissen, ob im konkreten Falle eine Vorlagepflicht bestehe, weil ein anderes Vorlageverfahren beim Gerichtshof anhängig war. Hierzu betonte der Gerichtshof,131dass nach seiner stRsp es allein dem nationalen Gericht überlassen bleibt, zu beurteilen, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, und demgemäß zu entscheiden hat, ob es davon absieht, eine von ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts dem Gerichtshof vorzulegen. Der Umstand, dass ein niedrigeres Gericht dem Gerichtshof eine Vorlagefrage zur gleichen Problematik gestellt hat, wie sie sich in dem Rechtsstreit vor dem in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gericht stellt, bedeute als solche nicht, dass die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt werden können, so dass das letztgenannte Gericht entscheiden könne, von einer Anrufung des Gerichtshofs abzusehen (vgl dazu Rn 58 ff des Urteils).
Der Sachverhalt ist ein Musterbeispiel dafür, welche Wege beschritten werden, damit ein Unternehmen eines Hochlohnlandes Aufträge durch Aufträge eines Niedriglohnlandes unter Berufung auf Entsendevorschriften ausführen kann. Die Einschaltung von Subunternehmen ist dabei ein begehrtes Modell. Die auf Veranlassung eines belgischen Untersuchungsrichters in Bulgarien durchgeführten gerichtlichen Ermittlungen ergaben, dass auch das bulgarische Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübte. Es verwundert nicht, dass bei dieser Sachlage der Fall vor einem Strafgericht landete, weil Vergehen gegen die Vorschriften über die Beschäftigung ausländischer AN sowie sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften im Raume standen.
Die belgische Sozialaufsichtsbehörde leitete im Hinblick auf die ausgestellten Bescheinigungen E 101 bzw A1 das oben beschriebene Verfahren bei dem zuständigen bulgarischen Träger ein. Dieser bezeichnete in seiner Rückantwort die Ausstellung der Bescheinigungen als korrekt, wobei die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen nicht berücksichtigt wurden. Damit wäre eigentlich der mit der Strafsache befasste belgische Kassationsgerichtshof gehalten gewesen, wegen der Bindung an das Dokument die Strafbarkeit zu verneinen. Eine andere Entscheidung wäre nur denkbar gewesen, wenn der EuGH die in der Vorlagefrage zum Ausdruck gebrachte Überlegung mitgetragen hätte, dass eine Bescheinigung von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates als des Entsendemitgliedstaates als nicht beachtlich angesehen werden kann, wenn der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung trägt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde.
Die Antwort des Gerichtshofs enthält zunächst mit großer Ausführlichkeit eine Zusammenfassung seiner bisherigen Rsp zu den Bescheinigungen E 101 und A1 sowie das bei Zweifeln an der Richtigkeit einzuhaltende Verfahren (vgl Rn 29-47 des Urteils). Darin kommt zum Ausdruck, dass der Gerichtshof an der Bindungswirkung der Bescheinigungen festhält und die Durchführung des von ihm entwickelten Verfahrens selbst bei offensichtlichen Beurteilungsfehlern einfordert.
Etwas anderes ist es freilich – und hier kommt die Wende in dem konkreten Verfahren –, wenn die Berufung auf Unionsrecht auf betrügerische oder missbräuchliche Weise zurückzuführen ist (vgl zum Folgenden Rn 48 ff des Urteils). Hierbei greift der Gerichtshof auf eine Einwendung zurück, die er in ganz unterschiedlichen Bereichen des Europarechts zur Geltung gebracht hat. Im Koordinierungsrecht ist an die E in der Rs Paletta (EuGHC-206/94, EU:C:1996:182, Rn 23 ff) zu erinnern, die seinerzeit viel Aufsehen erregt hat. In stRsp betont der EuGH, dass die betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf die Normen des Gemeinschaftsrechts nicht gestattet ist. „Die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften kann nicht so weit reichen, dass missbräuchliche Praktiken, d.h. Vorgänge geschützt werden, die nicht im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs, sondern nur zu dem Zweck durchgeführt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen
“ (vgl EuGHC-321/05, Kofoed, EU:C:2007:408, Rn 38 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).
Den Betrug sieht der Gerichtshof als ein Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt. Dies muss in einem Dialog zwischen den Trägern beider Mitgliedstaaten erfolgen (der EuGH verweist hierbei auf Art 84a Abs 3 VO [EWG] 1408/71), damit beide Seiten, aber auch die betroffenen AG und AN Gelegenheit bekommen, die für den Betrug oder den Missbrauch vorgelegten Beweise zu entkräften. Besteht aber – wie im konkreten Fall – keine Bereitschaft des Trägers des Entsendestaates, eine erneute Prüfung vorzunehmen und die vorgelegten Ergebnisse zu berücksichtigen, darf das mit der Sache befasste nationale Gericht die ausgestellten Bescheinigungen unberücksichtigt lassen.
Das Urteil stellt einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung und einen Appell an die Träger dar, bessere Vorsorge für die Richtigkeit ausgestellter Entsendebescheinigungen zu tragen. Die Europäische Kommission unternimmt in ihrem Vorschlag zur Änderung der Koordinierungsverordnungen vom 13.12.2016 (KOM[2016] 815 endg) ebenfalls den Versuch, im Rahmen eines neugefassten Art 5 VO (EG) 987/2009 unter bestimmten Voraussetzungen einer Bescheinigung die Geltung zu versagen und bei Betrug dem Widerruf rückwirkende Kraft beizulegen.132