51Herabsetzung der Normalarbeitszeit wegen Betreuungspflichten für Kinder nach Vollendung des siebenten Lebensjahres
Herabsetzung der Normalarbeitszeit wegen Betreuungspflichten für Kinder nach Vollendung des siebenten Lebensjahres
Weder das MSchG noch das VKG schließen die Anwendung des § 14 AVRAG aus. Derjenige, der ein Kind betreut, kann sich daher immer dann, wenn die (engeren) Voraussetzungen des MSchG bzw VKG nicht vorliegen, jedenfalls auf § 14 AVRAG berufen. Für die Annahme einer Vereinbarung nach § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG ist es als ausreichend anzusehen, wenn beiden Parteien bewusst war, dass die AN die Teilzeit zur Betreuung ihres Kindes wünschte und benötigte.
Auch die familiäre Beistandspflicht gegenüber einem gesunden Kind, das noch die Volksschule besucht, erfordert normalerweise eine Betreuung des Kindes iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG, die mit einer Vollzeitbeschäftigung des betreuenden Elternteils häufig nicht so leicht in Einklang gebracht werden kann.
Die Kl war bei der Bekl von 10.7.1995 bis 31.3.2017 angestellt. Bis 31.10.2003 war sie mit 40 Wochenstunden vollzeitbeschäftigt. Am 15.12.2003, 15.1.2005 und 15.9.2006 wurden ihre drei Kinder geboren. Nach dem Ende der Karenz war die Kl von 15.4.2009 bis 31.5.2016 mit zehn Wochenstun-81den und von 1.6.2016 bis zur einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses mit 14 Wochenstunden teilzeitbeschäftigt. Durchschnittlich arbeitete die Kl in ihrem Dienstverhältnis bei der Bekl 25,5 Wochenstunden.
Die Bekl zahlte der Kl auf Basis eines von der Kl zuletzt bezogenen monatlichen Bruttoentgelts inklusive anteiliger Sonderzahlungen von € 1.798,15 unter Zugrundelegung der zuletzt ausgeübten Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 14 Wochenstunden eine Abfertigung von 10 Monatsentgelten iHv € 17.981,50.
Die Kl begehrte von der Bekl die Differenz zwischen der ihr zustehenden gesetzlichen Abfertigung auf Basis einer Vollzeitbeschäftigung (§ 14 Abs 4 AVRAG) und der von der Bekl auf Basis einer Teilzeitbeschäftigung von 14 Wochenstunden ausbezahlten Abfertigung. Nach Ablauf der Elternteilzeit sei ein Teilzeitarbeitsverhältnis begründet worden, damit die Kl den notwendigen Betreuungspflichten gegenüber ihren Kindern nachkommen könne. Die persönlichen, familiären Umstände der Kl sowie die Notwendigkeit, die Vollarbeitszeit wegen der Kinderbetreuung auf Teilzeit einzuschränken, seien der Bekl bekannt gewesen.
Die Bekl bestritt das Klagebegehren und beantragte Klagsabweisung. Für die Anwendung des § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG sei Voraussetzung, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses der Teilzeitvereinbarung beiden Arbeitsvertragsparteien bewusst gewesen sei, dass die AN auch nach der Elternteilzeit die Teilzeit zur Betreuung ihrer Kinder benötige. Dies treffe hier nicht zu, weil sich die Kinder der Kl zum Zeitpunkt der zuletzt abgeschlossenen Teilzeitvereinbarung vom 22.9.2016 bereits im 11., 12. bzw 14. Lebensjahr befunden und damit das siebente Lebensjahr längst überschritten hätten.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl Folge, weil auch für Kinder, die älter als sieben Jahre seien, eine allgemeine, im Familienrecht begründete Betreuungspflicht bestehe.
Der OGH erachtete die Revision der Bekl als zulässig, aber nicht berechtigt:
„[…]
3. Weder das MSchG noch das VKG schließen die Anwendung des § 14 AVRAG aus. Derjenige, der ein Kind betreut, kann sich daher immer dann, wenn die (engeren) Voraussetzungen des MSchG bzw VKG nicht vorliegen, jedenfalls auf § 14 AVRAG berufen (9 ObA 38/06p; 9 ObA 60/06y; 9 ObA 41/17w Pkt 1.). Liegen die Voraussetzungen der Elternteilzeit nicht mehr vor, dazu gehört auch das Überschreiten der Höchstdauer, kommt § 14 AVRAG zur Anwendung, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. Wird also die Maximaldauer überschritten, endet zwar die Besserstellung nach dem MSchG, jedoch kann § 14 AVRAG nahtlos folgen […].
4. Nach gefestigter Rechtsprechung ist auch die im Familienrecht begründete Betreuungspflicht für gesunde Kinder vom Anwendungsbereich des § 14 AVRAG erfasst. Eine Verpflichtung des Dienstnehmers, die Betreuung an Dritte zu übertragen, besteht auch dann nicht, wenn geeignete Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen (RIS-Justiz RS0121020). Jedenfalls bei noch nicht schulpflichtigen Kindern und damit jener Altersgruppe (,bis zum Ablauf des siebenten Lebensjahrs‘), für die der Gesetzgeber im MSchG bzw VKG die Betreuungsbedürftigkeit unterstellt, kann auch ohne Hinzutreten weiterer Umstände von einer iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG relevanten Betreuungspflicht der Eltern ausgegangen werden (9 ObA 38/06p; 9 ObA 60/06y; 9 ObA 41/17w Pkt 1.; zustimmend Binder, DRdA 2007, 463 [466]; Pfeil, DRdA 2008/3 [37]).
5. Die Beklagte bestreitet nicht, nach Ende der Karenz eine Elternteilzeitvereinbarung mit der Klägerin abgeschlossen zu haben. Ob man hier von einer Elternteilzeitvereinbarung nach § 15h Abs 1 MSchG, an die sich eine nach § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG anschloss oder von einer Vereinbarung nach § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG für den gesamten Zeitraum der Teilzeitbeschäftigung der Kl ausgeht, ist im konkreten Fall im Ergebnis irrelevant. Entscheidend ist nur, ob beiden Parteien bewusst war, dass die Klägerin auch nach der Elternteilzeit (14.4.2013) bzw zum Zeitpunkt der letzten Teilzeitvereinbarung am 22.9.2016 die (weitergeführte) Teilzeit zur Betreuung ihres Kindes wünschte und benötigte. Dies ist nämlich für die Annahme einer Vereinbarung nach § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG als ausreichend anzusehen (9 ObA 41/17w Pkt 3.).
6. Davon ist hier aber auszugehen. Das Berufungsgericht legte seiner Entscheidung iSd § 267 Abs 1 ZPO zugrunde, dass die Beklagte ab Beginn der Teilzeitbeschäftigung der Klägerin nach der Karenz von den Kindern der Klägerin und deren Betreuungsbedarf gewusst hat. […]
7.1. Es bleibt nun zu prüfen, ob auch bei den Kindern der Klägerin nach Vollendung des 7. Lebensjahres von einer iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG relevanten Betreuungspflicht ausgegangen werden kann. Diese Frage wurde in der Entscheidung 9 ObA 38/06pausdrücklich offen gelassen.
7.2. Die Betreuungspflicht des nahen Angehörigen muss sich nach dem Gesetzestext aus einer familiären Beistandspflicht ergeben. Die familiäre Beistandspflicht gegenüber Kindern ergibt sich aus der Pflicht zur Obsorge der Elternteile gegenüber ihren Kindern (§ 158 iVm § 160 ABGB) (9 ObA 38/06p; Pfeil, DRdA 2008/3 [38]). Die Pflege des minderjährigen Kindes umfasst besonders die Wahrnehmung des körperlichen Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung besonders die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte, die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes82 sowie dessen Ausbildung in Schule und Beruf (§ 160 Abs 1 ABGB). Der Umfang von Pflege und Erziehung hängt vom Alter und von der Entwicklung des Kindes ab; die Betreuung ist umso intensiver, je jünger das Kind ist. Während bei Kleinkindern die Pflege im Vordergrund steht, steht bei älteren Kindern die Erziehung, der seelische Beistand und die Unterstützung in der Schule im Fokus der Obsorge (vgl Gitschthaler in Schwimann/Kodek4 § 160 ABGB Rz 2; Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 160 Rz 2 f).
7.3. Auch die familiäre Beistandspflicht gegenüber einem gesunden Kind, das noch die Volksschule besucht, erfordert normalerweise eine Betreuung des Kindes iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG, die mit einer Vollzeitbeschäftigung des betreuenden Elternteils häufig nicht so leicht in Einklang gebracht werden kann. Kinder, die noch die Volksschule besuchen, benötigen gewöhnlich bereits ab Mittag eine Aufsicht, für längere Zeit allein zu Hause sich selbst will man sie nicht überlassen. Kinder brauchen in diesem Alter gewöhnlich nicht nur (auch noch) eine entsprechende Pflege, sondern vielfach auch Hilfe und Unterstützung im Rahmen der schulischen Aufgaben.
7.4. Da jedenfalls das jüngste drittgeborene Kind der Kl auch noch zum Zeitpunkt des Abschlusses der letzten Teilzeitvereinbarung die Volksschule besuchte und die Klägerin als Alleinerzieherin darüber hinaus noch zwei weitere (ältere) Kinder zu betreuen hatte, hat das Berufungsgericht zutreffend der Abfertigungsberechnung nach § 14 Abs 4 Satz 2 AVRAG die Teilzeitvereinbarung der Klägerin iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG zugrunde gelegt.
7.5. Ob die Anwendung des § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG auch bei Kindern über das Volksschulalter hinaus bis zum 14. Lebensjahr grundsätzlich, also ohne Hinzutreten besonderer Umstände, zu bejahen ist (so Pfeil, DRdA 2008/3 [39]), braucht hier nicht näher untersucht werden. Ob dafür Entscheidungen sprechen könnten, die aus unterhaltsrechtlicher Sicht die Zumutbarkeit der Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung durch den Obsorgeberechtigten im Falle der Betreuung von Kindern unter 14 Jahren beschränken (vgl 1 Ob 570/95; 1 Ob 84/04s Pkt 5.2; 8 Ob 136/12a Pkt 5.2, 6.1), kann daher dahingestellt bleiben.“
§ 14 Abs 2 AVRAG eröffnet die Möglichkeit, bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen eine Teilzeitbeschäftigung zu vereinbaren, welche gem § 14 Abs 4 AVRAG zu für den AN günstigeren Abfertigungsregeln führt. Gem Abs 2 Z 2 leg cit ist eine solche Vereinbarung möglich, wenn der AN nicht nur vorübergehende Betreuungspflichten von nahen Angehörigen iSd § 16 Abs 1 letzter Satz UrlG hat, die sich aus der familiären Beistandspflicht ergeben.
Der OGH hat entschieden, dass die Reduktion der Normalarbeitszeit nicht explizit auf § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG gestützt werden muss. Es reicht aus, dass dem AG bei Abschluss der Vereinbarung bekannt ist, dass der AN die Teilzeitbeschäftigung zur Betreuung des nahen Angehörigen wünscht bzw benötigt. Ist diese Voraussetzung gegeben, kann der AN bei einer späteren abfertigungswahrenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses seinen Abfertigungsanspruch erfolgreich auf eine Vereinbarung gem § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG und die entsprechende Berechnung der Abfertigung gem Abs 4 leg cit stützen.
Die Begünstigung gegenüber den „gewöhnlichen“ Abfertigungsregeln liegt darin, dass in solchen Fällen als Bemessungsgrundlage nicht das letzte Monatsgehalt heranzuziehen ist, sondern der Berechnung der Abfertigung bei kürzer als zwei Jahre andauernder Teilzeit die frühere Arbeitszeit vor der Teilzeitphase und bei länger als zwei Jahre andauernder Teilzeit der Durchschnitt der während der für die Abfertigung maßgeblichen Dienstjahre geleisteten Arbeitszeit zugrunde zu legen ist.
Im gegenständlichen Fall hatte der OGH zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für die Annahme einer Vereinbarung gem § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG vorlagen. Die Bekl hatte dies bestritten, weil sich die Kinder der Kl im Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung bereits im 11., 12., und 14. Lebensjahr befunden haben. Sie verneinte aus diesem Grund die Betreuungspflicht der Kl gegenüber deren Kindern iSd § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG. Der OGH hat nun klargestellt, dass jedenfalls für Kinder, die die Volksschule besuchen, die von § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG geforderte Betreuungspflicht unter normalen Umständen besteht. Im konkreten Fall kamen noch die ebenfalls zu betreuenden älteren Geschwister des Volksschulkindes hinzu. Der OGH stellte auch klar, dass den AN keine Verpflichtung trifft, seine Betreuungspflicht an Dritte zu übertragen. Hingegen ließ er ausdrücklich offen, ob die geforderte Betreuungspflicht auch bei Kindern über das Volksschulalter hinaus gegeben sein kann, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten.
Teilzeitvereinbarungen gem § 14 Abs 2 Z 2 AVRAG können besonders für Eltern interessant sein, die entweder von vornherein keinen Anspruch auf Elternteilzeit gem MSchG oder VKG haben oder diesen bereits ausgeschöpft haben. Natürlich kann eine solche Vereinbarung auch dann getroffen werden, wenn die Arbeitszeit nicht zur Betreuung eines Kindes, sondern eines anderen nahen Angehörigen, bei dem eine nicht nur vorübergehende Betreuungsbedürftigkeit vorliegt und dem der AN zum familiären Beistand verpflichtet ist, reduziert wird. Ein gemeinsamer Haushalt wird im Gegensatz zu den meisten Fällen des § 16 UrlG nicht gefordert.83