53Bindung des Arbeitsmarktservice an rechtskräftige Feststellung der Invalidität/Berufsunfähigkeit: Begründung des Bescheides bzw Urteils für Bindungswirkung irrelevant
Bindung des Arbeitsmarktservice an rechtskräftige Feststellung der Invalidität/Berufsunfähigkeit: Begründung des Bescheides bzw Urteils für Bindungswirkung irrelevant
Den Antrag der Mitbeteiligten vom 12.6.2015 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension wies die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) ab, stellte vorübergehende Berufsunfähigkeit fest, versagte aber mangels Mitwirkung die Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation. Im dagegen angestrengten Sozialgerichtsverfahren kam das Oberlandesgericht (OLG) zum Ergebnis, dass Berufsunfähigkeit auch nicht vorübergehend besteht. Auf Grund des in § 71 Abs 2 ASGG geregelten Verschlechterungsverbots, wonach der urteilsmäßige Zuspruch im gerichtlichen Verfahren nicht schlechter sein darf als der Bescheid der PVA, wurde die Feststellung der vorübergehenden Berufsunfähigkeit jedoch rechtskräftig. Die Mitbeteiligte war zum Schluss des Verfahrens vorübergehend (im Ausmaß von zumindest sechs Monaten) berufsunfähig, erhielt jedoch keine Leistung, da die Nichtgewährung beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen rechtskräftig wurde.
Auf Grundlage des Pensionsbescheides stellte das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (AMS) das Arbeitslosengeld der Mitbeteiligten mit Bescheid vom 15.3.2016 mangels Arbeitsfähigkeit ein. Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde und das BVwG hob diesen auf. Begründend führte es aus, das OLG sei gerade nicht von einer Berufsunfähigkeit der Mitbeteiligten ausgegangen, sondern der Ausspruch hinsichtlich der vorübergehenden Berufsunfähigkeit sei nur wegen des sozialgerichtlichen Verschlechterungsverbots zu treffen gewesen. In dieser Konstellation sei vom gerichtlich festgestellten tatsächlichen Sachverhalt auszugehen. Selbst wenn man aber rein formell ausschließlich vom Spruch unter Außerachtlassung der Begründung ausgehe, wäre darauf hinzuweisen, dass lediglich eine Berufsunfähigkeit im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten ab 1.7.2015 festgestellt worden sei. Sowohl die Beantragung von Arbeitslosengeld am 8.1.2016 durch die Mitbeteiligte als auch die Einstellung des Arbeitslosengeldes mit 15.3.2016 lägen somit nach Ablauf der sechsmonatigen (Mindest-)Frist. Für diese Zeit könnte somit ohnedies uneinge-84schränkt auf die Begründung der Gerichte zurückgegriffen werden, wonach die Mitbeteiligte nie berufsunfähig gewesen sei.
Mit einem weiteren Bescheid vom 13.4.2017 stellte das AMS das Arbeitslosengeld der Mitbeteiligten mangels Arbeitsfähigkeit ab dem 1.3.2017 ein. Als Begründung wurde auf das OLG-Urteil Bezug genommen, wonach bei der Mitbeteiligten ab 1.7.2015 vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege.
Auch dagegen brachte die Mitbeteiligte Beschwerde ein. Das BVwG kam zum gleichen Ergebnis und hob auch diesen Bescheid auf. In beiden Erkenntnissen wurde die ordentliche Revision zugelassen, weil die Frage zu klären war, ob sich die in § 8 Abs 3 AlVG normierte Bindungswirkung von Bescheiden bzw Gerichtsurteilen ausschließlich auf den Spruch beziehe oder ob eine derartige Entscheidung ausnahmsweise in ihrer Gesamtheit – also auch unter Berücksichtigung der Begründung – dem Verfahren nach dem AlVG zugrunde zu legen sei.
Wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs wurden die beiden Verfahren verbunden. In seiner rechtlichen Beurteilung weist der VwGH zunächst darauf hin, dass das AMS gem § 8 Abs 3 AlVG Bescheide und Gutachten des Kompetenzzentrums Begutachtung der PVA zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zu Grunde zu legen hat. Auch eine von der PVA bzw vom Sozialgericht festgestellte vorübergehende Invalidität bzw Berufsunfähigkeit gilt als Arbeitsunfähigkeit iSd § 8 AlVG. Entgegen der Ansicht des BVwG kommt der VwGH zum Schluss, dass auf Grund der Formulierung „im Ausmaß von voraussichtlich mindestens sechs Monaten“ nicht geschlossen werden kann, dass nach Ablauf von sechs Monaten jedenfalls nicht mehr vom Vorliegen einer Invalidität bzw Berufsunfähigkeit auszugehen ist. Die Bindungswirkung besteht erst dann nicht mehr, wenn nach einer wesentlichen Sachverhaltsänderung (Änderung des medizinischen Leistungskalküls) eine anderslautende Entscheidung getroffen wurde. Mit anderen Worten: Das AMS ist solange an diese Entscheidung gebunden, bis die PVA bzw das Sozialgericht zu einem anderen Ergebnis kommt.
Auf die Begründung kommt es für die Bindungswirkung einer rechtskräftigen Feststellung der (dauernden oder vorübergehenden) Invalidität bzw Berufsunfähigkeit nicht an. Dass das AMS nach § 8 Abs 3 AlVG Bescheide der PVA und Gutachten des Kompetenzzentrums Begutachtung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit „anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zu Grunde zu legen“ hat, kann – in Verbindung mit der tatbestandsmäßigen Anknüpfung in § 8 Abs 1 AlVG – in Bezug auf rechtskräftige Bescheide und Gerichtsurteile nur bedeuten, dass ihre Rechtskraftwirkung zu beachten ist, die nach allgemeinen Grundsätzen durch den Inhalt des Spruchs bestimmt wird. Nur in Bezug auf Gutachten der PVA kann nicht von einer strikten Bindungswirkung, sondern bloß von einer Verpflichtung zur vorrangigen Heranziehung im Verfahren nach dem AlVG ausgegangen werden (vgl dazu etwa VwGH 14.3.2013, 2012/08/0311; VfGH 23.1.2018 VfSlg 18.592A).
Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.