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Bindungswirkung der Meldebescheinigungen ausländischer Sozialversicherungsträger (A1-Bescheinigung)

FLORIANJ.BURGER

Auch hinsichtlich einer nach Art 12 Abs 2 VO (EG) 883/2004 – somit hinsichtlich selbständig Erwerbstätiger – ausgestellten A1-Bescheinigung gem Art 5 Abs 1 VO (EG) 987/2009 tritt eine Bindung der Träger und der Gerichte des Mitgliedstaats ein, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird. Diese Bindungswirkung bezieht sich auf die bescheinigte Anwendbarkeit der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaates hinsichtlich einer bestimmten Tätigkeit und nicht bloß drauf, welche Rechtsvorschriften für die Beurteilung der Selbständigkeit oder Unselbständigkeit der Tätigkeit maßgeblich sind.

Voraussetzung dafür, dass ein nationales Gericht in diesen Fällen die Bescheinigungen außer Acht lassen kann, ist jedoch zunächst, dass der ausstellende Träger mit in einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst wurde, die die Feststellung erlauben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise bei einer erneuten Prüfung der Bescheinigungen zu berücksichtigen.

SACHVERHALT

Mit Straferkenntnis vom 27.2.2015 und neuerlichem (ergänzten) Straferkenntnis vom 20.5.2015 sprach der Magistrat der Stadt Wien aus, dass der Revisionswerber als Geschäftsführer es unterlassen habe, DN, die er auf einer Baustelle beschäftigt habe, vor Arbeitsantritt bei der KV anzumelden. Er wurde nach der Zurückverweisung letztendlich zu drei Verwaltungsstrafen in der Höhe von je € 770,- gem § 111 ASVG verurteilt. Die Zurückverweisung war erfolgt, weil zunächst eine Gesamtstrafe für die Nichtmeldung der drei DN verhängt wurde, es war jedoch für jeden DN einzeln eine Strafe zu verhängen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Dagegen erhob der Revisionswerber beim LVwG Wien Beschwerde und brachte vor, dass die DN per Werkvertrag beschäftigte slowakische Unternehmer seien. Als Beweismittel wurden A1-Bescheinigungen angeboten.

Das LVwG stellte fest, dass die Tätigkeiten der DN nach ihrem wahren wirtschaftlichen Gehalt zu beurteilen seien, weshalb Dienstverhältnisse vorlägen.

Die dagegen erhobene Revision ist laut VwGH zulässig und berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

15 In seinem Urteil vom 6.9.2018, Alpenrind GmbH, C-527/16, hat der EuGH zu Art. 5 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ausgesprochen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – somit hinsichtlich entsandter Arbeitnehmer – ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist (vgl. VwGH 10.10.2018, Ro 2016/08/0013 und 0014). […] Könnte der zuständige nationale Träger, abgesehen von Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs, eine A1-Bescheinigung von einem Gericht des Aufnahmemitgliedstaats des betreffenden Arbeitnehmers für ungültig erklären lassen, wäre das auf der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet (Rn. 46 des Urteils C-527/16).

16 Es kann daher nicht zweifelhaft sein, dass auch hinsichtlich einer nach Art. 12 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – somit hinsichtlich selbstständig Erwerbstätiger – ausgestellten A1-Bescheinigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 987/2009 eine Bindung der Träger und der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, eintritt […]. Diese Bindungswirkung bezieht sich nach der genannten Rechtsprechung auf die bescheinigte Anwendbarkeit der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaates hinsichtlich einer bestimmten Tätigkeit und nicht bloß darauf, welche Rechtsvorschriften für die Beurteilung der Selbständigkeit oder Unselbständigkeit der Tätigkeit maßgeblich sind (vgl. nochmals VwGH 23.5.2012, 2009/08/0204).

17 In seinem Urteil vom 6.2.2018, Altun ua., C-359/16, hat der EuGH die Bindungswirkung von E 101-Bescheinigungen nach der Verord-95nung (EWG) Nr. 1408/71 in Fällen, in denen diese betrügerisch erlangt wurden, eingeschränkt. Voraussetzung dafür, dass ein nationales Gericht in diesen Fällen die Bescheinigungen außer Acht lassen kann, ist jedoch zunächst, dass der ausstellende Träger mit in einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst wurde, die die Feststellung erlauben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise bei einer erneuten Prüfung der Bescheinigungen zu berücksichtigen. […]

18 Im vorliegenden Fall wurden unstrittig vom zuständigen slowakischen Sozialversicherungsträger A1-Bescheinigungen über die Anwendung der slowakischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit hinsichtlich der von LD und IF im Zeitraum vom 24.2.2014 bis 31.7.2014 ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit ausgestellt, wobei als Ort der Tätigkeit jeweils der Betrieb der Zweitrevisionswerberin genannt wurde.

19 Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, dass diese A1-Bescheinigungen betrügerisch bzw. rechtsmissbräuchlich erlangt worden wären bzw. der zuständige slowakische Sozialversicherungsträger mit einer Prüfung der Richtigkeit der Bescheinigungen befasst worden wäre. Ausgehend davon ergibt sich eine Bindung der österreichischen Gerichte und Behörden hinsichtlich der Anwendbarkeit der slowakischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf die von LD und IF ausgeübten Tätigkeiten. Dies steht dem Eintritt einer Pflichtversicherung als Dienstnehmer in Österreich und damit auch der Annahme einer Meldepflichtverletzung entgegen. […]“

ERLÄUTERUNG

Mit der vorliegenden E spricht der VwGH ua über die Frage der Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung für Selbständige ab und verweist dabei umfassend auf EuGH-Judikatur. A1-Bescheinigungen sind demnach auch für Gerichte der Mitgliedstaaten verbindlich. Dies gilt auch für selbständig Beschäftigte und zwar auch hinsichtlich der Frage, welche Beschäftigungsart (selbständige oder unselbständige Tätigkeit) vorliegt. Diese Bindung habe den Sinn, die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zwischen den einzelnen Trägern zu gewährleisten. Die Bindungswirkung kann nur dann durchbrochen werden, wenn die Bescheinigung betrügerisch bzw rechtsmissbräuchlich erlangt wurde und der ausstellende Träger mit in einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst wurde. Dies ist freilich eine hohe Hürde, da im Wege der Amtshilfe, wohl bei Unterbrechung des Verfahrens, in einem anderen Mitgliedstaat entsprechende Betrugsvorwürfe releviert werden müssten.

Im vorliegenden Fall liegen laut VwGH unstrittig A1-Bescheinigungen über eine selbständige Tätigkeit eines slowakischen Trägers vor. Im Verfahren sei auch nicht hervorgekommen, dass die Bescheinigungen betrügerisch oder rechtsmissbräuchlich erlangt worden wären. Was jedoch unter dem Begriff „rechtsmissbräuchlich“ zu subsumieren wäre, ob beispielsweise bereits der Verdacht auf Lohn- und Sozialdumping (iSd LSDBG) einen solchen Missbrauch darstellen würde, lässt das Höchstgericht offen. Es gilt wohl in einer Abwägung der Grundfreiheiten (Freizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit) und der Grundrechte (angemessene Arbeitsbedingungen) unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Verhandlungsstärke der Beteiligten, den wahren wirtschaftlichen Gehalt der Vereinbarungen zu ermitteln. Gleichzeitig wäre die Frage zu stellen, ob die in einem Mitgliedstaat versicherte Tätigkeit vollumfänglich die im Inland ausgeübte Erwerbstätigkeit umfasst. Durch die apodiktische Wirkung der A1-Bescheinigung verbleibt der österreichischen Behörde sohin offenbar bloß die Prüfung, ob die ausgeübte Tätigkeit Anknüpfungspunkte hinsichtlich der Schutzwürdigkeit iSd Abwägung der konfligierenden Grundrechtspositionen ergibt – dies allenfalls unter dem vom EuGH skizzierten Vorgehen bezüglich der Amtshilfe.96