Wie verfassungswidrig ist die Neuorganisation der Sozialversicherung?

WOLFGANGPANHÖLZL
1.
Einleitung

Die bisherige Organisation der SV wird durch das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz (SV-OG, BGBl I 2018/100) und das Gesetz zur Zusammenführung der Prüforganisation der Finanzverwaltung und der SV (ZPFSG, BGBl I 2018/98) maßgeblich umgestaltet. Die Neuorganisation wurde im Regierungsprogramm 2017 bis 2022 angekündigt, wobei unklar blieb, welchen Reformweg die Bundesregierung konkret einschlagen würde. Grundsätzlich wurden drei Optionen diskutiert: die Abschaffung der Selbstverwaltung in der SV, Schaffung eines Verwaltungsratsmodells (analog zum Arbeitsmarktservice [AMS]) mit Drittelbeteiligung des Bundes, die Neugestaltung der Selbstverwaltung auf Basis eines Verfassungsgesetzes und eine – einfachgesetzliche – Reform der Selbstverwaltung im Rahmen der geltenden verfassungsrechtlichen Prinzipien.

Die Bundesregierung hat sich für die letztere der drei Varianten entschieden, jedoch ohne dabei auf die verfassungsrechtlichen Eingriffsschranken, die für die Selbstverwaltung gelten, Rücksicht zu nehmen. Namhafte VerfassungsrechtlerInnen haben sich im Zuge der Gesetzwerdung kritisch zu den Gesetzesentwürfen geäußert. Sowohl der Hauptverband der Sozialversicherungsträger wie auch die Bundesarbeitskammer (BAK) haben in ihren Stellungnahmen zum Ministerialentwurf – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – nicht weniger als 15 schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken aufgelistet. Diese zahlreichen kritischen Stellungnahmen ließen die Bundesregierung jedoch unbeeindruckt und so wurden am 11.12. bzw am 13.12.2018 das ZPFSG und das SV-OG – lediglich mit kleineren Änderungen versehen – im Nationalrat beschlossen und am 22.12.2018 kundgemacht.

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger, einige Gebietskrankenkassen, die Betriebskrankenkassen, und die Arbeiterkammer (AK) haben zu den wichtigsten Rechtsfragen Gutachten in Auftrag gegeben, die seit 1.2.2019 im Sammelband „Die Neuorganisation der Sozialversicherung in Österreich, Verfassungsrechtliche Grundprobleme“ vorliegen. Den Herausgebern Walter Berka (Universität Salzburg), Thomas Müller (Universität Innsbruck) und Felix Schörghofer (Hauptverband der Sozialversicherungsträger) ist es mit Hilfe des Manz Verlages gelungen, binnen kürzester Zeit nach Kundmachung und In-Kraft-Treten der Novellen eine fundierte, breite und übersichtliche Aufarbeitung der verfassungsrechtlichen Probleme derselben zur Verfügung zu stellen.

Es ist wohl ein Novum, dass die Gerichte – insb der VfGH – die Lehre und die interessierte Öffentlichkeit bei der Rezeption derart komplexer Novellen, wie sie das SV-OG und ZPFSG darstellen, auf einen Sammelband gut aufbereiteter Gutachten zurückgreifen können.

1.1.
Fusion, Parität und Übertragung der Beitragsprüfung an die Finanzverwaltung

Die Reform nimmt eine tiefgreifende und weitreichende Umgestaltung in der österreichischen SV vor. Wesentliche Elemente sind die Reduktion der Zahl der Sozialversicherungsträger von derzeit 21 auf künftig 5, die mit Einsparungen bei den Verwaltungskosten begründet wird (Funktionärsmilliarde), die paritätische Entsendung von DN- und DG-VertreterInnen, in die Spitzengremien der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und Pensionsversicherungsanstalt (PVA) und die Übertragung der Beitragsprüfung von den Gebietskrankenkassen (künftig ÖGK) zur Finanzverwaltung mit Zwangszuweisung der BeitragsprüferInnen an die neue Behörde. Ziel des Beitrages ist es, die verfassungsrechtliche Relevanz dieser drei zentralen Aspekte näher darzustellen. Ebenfalls wichtige Bereiche, wie die Aufgaben des Dachverbandes, die Neugestaltung des Aufsichtsrechtes, die Ausgliederung der Betriebskrankenkassen, die Fusion der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) mit der Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB) zur SV der Selbstständigen (SVS) und die Fusion der BeamtInnen mit den EisenbahnerInnen können aus Platzgründen nicht behandelt werden und sind einem späteren Beitrag vorbehalten.

2.
Die Fusion der Gebietskrankenkassen erfolgt ohne sachlichen Anlass, ohne professionelle Vorbereitung und führt nicht zu einer Leistungsharmonisierung, sondern verfestigt die Drei-Klassen-Medizin

Der VfGH hat in seiner jüngeren Rsp (VfGH 1996/VfSlg 14.473; VfGH 1996/VfSlg 14.474) das100 Effizienzprinzip betont, das im Bereich der Gestaltung der öffentlichen Verwaltung auch den Gesetzgeber binde. Der VfGH hat die Effizienz im Zusammenhang mit Ausgliederungen aus dem verfassungsrechtlichen Gebot zu sparsamer, wirtschaftlicher und zweckmäßiger Haushaltsführung abgeleitet. Das Effizienzgebot muss als eine besondere Ausprägung des Sachlichkeitsgebotes auch für die Gestaltung der Selbstverwaltungskörper der SV gelten. Diese sind vom Gesetzgeber daher so zu gestalten, dass eine sparsame, wirtschaftliche und zweckmäßige Verwaltungsführung gewährleistet ist (Reform des Hauptverbandes, VfGH 2003/VfSlg 17.023).

Die Fusion der Gebietskrankenkassen zur ÖGK widerspricht diesen Prinzipien, sie erfolgt unvorbereitet, ohne erkennbares Ziel und lässt höhere Verwaltungskosten anstelle von niedrigeren erwarten.

2.1.
Die Fusion führt zu keiner Leistungsharmonisierung

Die Studie der London School of Economics (Efficiency Review of Austria’s Social Insurance and Healthcare System [2017], kurz LSE-Studie) empfiehlt eine Leistungsharmonisierung nach dem Prinzip „Gleiche Beiträge und Leistungen“. Die derzeitigen Leistungsunterschiede zwischen BeamtInnen, Selbstständigen und ASVG-Versicherten widersprechen diesem Prinzip. Die Leistungen sollten nach oben – also auf ein höheres Niveau – ausgebaut und angeglichen werden und zwar unabhängig vom beruflichen oder sozialen Status. Diese Leistungsharmonisierung sollte durch einen Risikostrukturausgleich unter Einbeziehung der BeamtInnen und Selbstständigen finanziert werden.

Die Bundesregierung folgt keiner dieser Empfehlungen der LSE-Studie. Die Reform führt zu keiner Leistungsharmonisierung, sondern verfestigt die Leistungsunterschiede zwischen den BeamtInnen und Selbstständigen auf der einen und den ASVG-Versicherten auf der anderen Seite (Drei-Klassen-Medizin).

Die sprichwörtlich „dritte Klasse“ wird die ÖGK für die Unselbstständigen bilden. In der Versicherungsanstalt für öffentlichen Dienst, Eisenbahn und Bergbau (BVAEB) konnten aufgrund der „guten Risiken“ hohe Rücklagen aufgebaut und bessere Leistungen angeboten werden. Auch die SVS wird in Zukunft gute Risiken vereinen. Allein die ÖGK versichert – als soziale KV – auch Arbeitslose und MindestsicherungsbezieherInnen. Die pauschalen Beitragszahlungen von AMS und Bund für diese Gruppen sind nicht kostendeckend. Die Mehrkosten werden ausschließlich von den ASVG-Versicherten getragen. Hinzu kommen die massiven Mehrbelastungen für die ÖGK durch den geplanten Personalabbau und Mittelentzug (Fusionskosten, teurer ÄrztInnen-Bundesgesamtvertrag, Entfall der Pauschale für die Unfallheilbehandlung, etc). Es ist davon auszugehen, dass das Leistungsniveau sinken und sich der Abstand zu den anderen Versicherungsträgern vergrößern wird.

2.2.
Die Fusion ist nicht professionell vorbereitet

Die Erläuterungen zum SV-OG (105 Seiten Normtext) beschränken sich auf 43 Seiten. Die Darstellung der finanziellen Auswirkungen in den Erläuternden Bemerkungen (EB) umfasst eine Seite, in der Aufwendungen ihrer Art nach aufgelistet werden (externe Verträge, Übersiedlungskosten, Aufwendungen für nicht mehr benötigte Möbel, etc), jedoch ohne diese zu konkretisieren und zu beziffern. Zu den Fusionsaufwendungen enthält der Entwurf daher keine brauchbaren Angaben. Die Erläuterungen der durch die Fusion erwarteten Einsparungen umfassen nicht ganz fünf Zeilen. Sie beschränken sich auf die Pauschalannahme einer linearen Einsparung von 10 % der Personal- und Sachaufwendungen, die im Jahr 2023 33 Mio € betragen soll. Dieser eher bescheidene Betrag steht in krassem Widerspruch zu der von der Bundesregierung medial (Pressekonferenz) kolportierten Milliarde.

Bei der Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger geht es um 28.000 Beschäftigte, um 20 Mrd € an Beiträgen, um komplexe Finanzierungsströme (etwa im Spitalsbereich) und fordernde rechtliche Rahmenbedingungen (Verträge mit ÄrztInnen und sonstigen AnbieterInnen von Gesundheitsdienstleistungen). Nach Beschäftigten gerechnet ergibt sich ein Konzern, der viermal größer ist als die voestalpine Stahl AG oder Siemens Österreich oder die Strabag. Am Umsatz gemessen hat die Fusion ein Volumen, das siebenmal so groß ist wie der Verbundkonzern oder zehnmal so groß wie die Austrian Airlines (AUA).

Bevor eine solide und seriöse Fusion durchgeführt wird, sind die wesentlichen Daten und Leistungsströme zu validieren, es ist die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungsträger zu bewerten, es sind konkrete Synergien zu identifizieren, es ist eine rechtliche und betriebswirtschaftliche Analyse der Vertragsänderungskosten (mit ÄrztInnen, den Ländern, etc) vorzunehmen, es sind die Auswirkungen auf die Versicherten, die Leistungen und die Ablauforganisation darzustellen, die externen Kosten zu bewerten, alternative Wege zu beschreiben, um die gesetzten Ziele zu erreichen. All das ist nicht geschehen.101

Auch der Rechnungshof (RH, Fusion der Pensionsversicherungsanstalten der Arbeit und Angestellten, Reihe Bund 2007/08) hat diese Anforderungen – nach den negativen Erfahrungen der Fusion von PVAng mit der PVArb – als klare Empfehlungen für zukünftige Fusionen von Sozialversicherungsträgern abgegeben.

2.3.
Die Fusion der Gebietskrankenkassen erfolgt ohne sachlichen Anlass

Das angebliche Ziel der Bundesregierung ist es, mit dieser Reform bei den FunktionärInnen (Funktionärsmilliarde) und im System (Verwaltungsmilliarde) zu sparen. Das steht im Widerspruch zu den Fakten. Gerade bei den Verwaltungskosten liegt Österreich im internationalen Vergleich sehr gut. In den letzten 20 Jahren ist der Verwaltungsaufwand in der gesamten SV von 2,7 % auf 1,99 % und in der KV von 3,9 % auf 2,6 % gesunken (Parlamentarische Anfragebeantwortung 1462/AB vom 25.9.2018).

Die Erfahrungen mit Fusionen im Bereich der KV in Deutschland seit den 1990er-Jahren zeigt, dass Versicherungsträger ab einer kritischen Größe – die bei rund 800.000 Versicherten liegt – in der Verwaltung teurer werden. So betragen die Verwaltungskosten von Trägern in Deutschland, die mit der ÖGK (7 Mio Versicherte) vergleichbar sind, deutlich mehr als 5 %. Dies wurde auch durch eine Studie von Bert Rürup (GKV: Verwaltungskosten und Kassengröße [2006]) und vom Deutschen RH (Kassenfusionen 2011) bestätigt.

Alle Krankenversicherungsträger geben gemeinsam rund 500 Mio für Verwaltung und davon wiederum 3,5 Mio für die Selbstverwaltung aus. Bezogen auf die Einnahmen von 20 Mrd € betragen die Kosten der Selbstverwaltung pro € 1.000,- rund 18 Cent. In Österreich können laut OECD-Bericht nur 69,3 % der in die private KV eingezahlten Mittel beim Versicherten ankommen (Verwaltungskostenaufwand: 31,7 %).

Funktionsgebühren erhalten nur Obmänner/Frauen und deren StellvertreterInnen, und zwar: Ein/e Obmann/-frau erhält rund € 4.086,- brutto (12-mal pro Jahr), ein/e ObmannstellvertreterIn € 2.043,-; der Vorsitzende der Kontrollversammlung € 2.043,- sein Stellvertreter € 1.022,-; der Vorsitzende eines Landesstellenausschusses erhält € 1.634,- und sein Stellvertreter € 817,-. Mehr als 90 % der FunktionärInnen sind ehrenamtlich tätig und erhalten keinerlei Funktionsgebühr, sondern lediglich pro Sitzung ein Sitzungsgeld von € 42,- (Funktionsgebühren-VO, BGBl II 2014/75).

Wenn FunktionärInnen in der SV durch ManagerInnen oder GeschäftsführerInnen von GmbH (wie für die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt [AUVA] geplant) ersetzt werden, wird das sicher nicht günstiger. Günstiger wie ehrenamtlich geht nicht, eine Reduktion der VersicherungsvertreterInnen kann daher zu keinen Einsparungen führen, sondern zu Mehrkosten, weil ihre Tätigkeit von Angestellten der Träger übernommen werden muss.

3.
Was spricht gegen die paritätische Entsendung von DN- und DG-VertreterInnen in die Gremien der SV der AN?

In den Selbstverwaltungskörpern der Unselbstständigen-Träger (mit Ausnahme der BVAEB) wird durch das SV-OG die „Parität“ von DN und DG eingeführt. Ein harmlos erscheinendes Wort, das ein gleichmäßiges Verhältnis von Stimmen in einem Gremium ausdrückt. Künftig sollen in die Spitzengremien (Verwaltungsräte) der fusionierten Sozialversicherungsträger der ArbeiterInnen und Angestellten, nämlich der ÖGK, der PVA und der AUVA, jeweils sechs DN- und sechs DG-VertreterInnen entsendet werden. Für die Beschlussfassung ist bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder die einfache Mehrheit erforderlich. Von der Wirtschaftsseite wird argumentiert, das wäre nur fair, denn die AG zahlten – in der KV – schließlich auch die Hälfte der Beiträge.

Selbst gegen dieses Argument lassen sich einige Einwände vorbringen; das wichtigste, es stimmt nicht, die AG zahlen nicht die Hälfte der Beiträge in der KV, sondern lediglich 29 %. Die Versicherten zahlen neben den Beiträgen auch eine ganze Reihe von Kostenbeteiligungen (e-card, Rezeptgebühr, etc) und auch die PensionsbezieherInnen tragen einen beträchtlichen Anteil der Beitragslast. Abgesehen davon kann man auch die Inzidenztheorie bemühen, nach der die AN auch die DG-Beiträge erwirtschaften und daher auch ihnen zuzurechnen sind.

Abgesehen vom Beitragsargument gibt es einige gewichtige Gründe, die gegen eine paritätische Beteiligung der AG insb in der KV sprechen.

3.1.
Die Selbstverwaltung der Versicherten oder die zweifache Interessenslage

DG sind nach dem ASVG in der KV der Unselbstständigen weder krankenversichert noch leistungsberechtigt. Nur die nach dem ASVG versicherten Personen und Leistungsberechtigten sind daher die Mitglieder der Selbstverwaltung der Gebietskrankenkassen. Aus ihrer Mitte ist das führende Gremium der Selbstverwaltung demokratisch zu ermitteln. Die DG sind in der KV der Unselbstständigen Außenstehende, die in ge-102wissem Ausmaß in die Selbstverwaltung einbezogen werden können, aber nicht paritätisch (vgl ausführlich R. Müller in Berka/Müller/Schörghofer [Hrsg], Die Neuorganisation der Sozialversicherung [2019] 19 ff).

Weniger weit geht die Argumentation von Bußjäger/Schramek, aber auch sie kommen zum Ergebnis, dass eine paritätische Einbeziehung der AG in die KV der Unselbstständigen verfassungswidrig ist. Der Gesetzgeber habe bei der Ausgestaltung der demokratischen Legitimation der Selbstverwaltung natürlich einen Gestaltungsspielraum. Allerdings ist der Gesetzgeber unter dem Sachlichkeitsgebot verpflichtet, die zweifache Interessenlage der Versicherten als BeitragszahlerInnen und LeistungsempfängerInnen gegenüber der einfachen Interessenlage der DG als weitere Beitragszahlende zu berücksichtigen (vgl Bußjäger/Schramek in Berka/Müller/Schörghofer [Hrsg], Die Neuorganisation der Sozialversicherung 35).

3.2.
Das Argument der Interessengegensätze

Der Wirtschaftsbund hat kein Eigeninteresse an guten Leistungen für die Versicherten in der AN-Versicherung. Vielmehr hat er – wie auf seiner homepage www.wirtschaftsbund.atwww.wirtschaftsbund.at nachzulesen ist – gegenläufige Interessen. Der Österreichische Wirtschaftsbund ist eine der sechs Teilorganisationen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und laut Eigendefinition „österreichweit die größte und schlagkräftigste politische Interessenvertretung für Unternehmerinnen, Unternehmer und selbstständig denkende Menschen“ mit über 100.000 Mitgliedern und einem Ziel: „Es ist höchste Zeit, alle Kraft in die Entlastung der österreichischen Wirtschaft zu stecken.“ Daher macht sich die Organisation für die Senkung der Abgabenquote auf 40 %, eine deutliche Reduktion der Körperschaftsteuer (KÖSt) und der Kapitalertragsteuer (KESt) und für eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge stark. Dass bestimmende Teile des Wirtschaftsbunds diese Ziele verfolgen, ist wenig überraschend. Klar ist aber auch: Diese Agenda ist unvereinbar mit den Zielen einer sozialen KV.

3.3.
Das Argument der In-Sich-Geschäfte

Weiters besteht auf Wirtschaftsseite ein Interesse an Geschäften mit der SV, also der Übernahme von Gesundheitsleistungen und -einrichtungen durch Private. Dabei geht es naturgemäß ebenfalls wieder nicht um die bestmögliche Versorgung der Versicherten, sondern um das Gewinninteresse der Gesundheitsbranchen in der Wirtschaftskammer.

Das führt auch zu möglichen Befangenheiten der VertreterInnen des Wirtschaftsbundes, weil Einflussnahmen im wirtschaftlichen Eigeninteresse ermöglicht werden. Künftig können BetreiberInnen von Gesundheitszentren und Krankenanstalten oder VertreterInnen der Pharmawirtschaft als Mitglieder der Wirtschaftskammer die Entscheidungen im Verwaltungsrat in ihrem Interesse beeinflussen. Die Kontrollversammlungen in den Sozialversicherungsträgern, die bisher für ein gutes Gleichgewicht zwischen DN und DG sorgten, werden abgeschafft. Der Verwaltungsrat kontrolliert sich selbst.

3.4.
Das Symmetrieargument

Während das oberste Organ der österreichischen Gesundheitskasse (der Verwaltungsrat) mit sechs DN- und sechs DG-VertreterInnen besetzt wird, ist das Verhältnis in der Beamtensozialversicherung sieben DN- zu drei DG-VertreterInnen. Es fällt schwer, sich einen vernünftigen Grund dafür vorzustellen, warum den AG in der Privatwirtschaft Stimmengleichheit und damit eine Vetomöglichkeit gegenüber aus Versichertensicht notwendigen, wichtigen oder wünschenswerten Maßnahmen eingeräumt wird, während die DN-VertreterInnen im öffentlichen Dienst mit einer 2/3-Mehrheit tatsächlich das Sagen in ihrer Versicherung haben.

Es ist auch völlig selbstverständlich, dass in der SVS der Verwaltungsrat aus der Mitte der versicherten selbstständigen LandwirtInnen und Gewerbetreibenden ermittelt wird. Nur die versicherten AN der ÖGK und PVA dürfen sich nicht selbst verwalten, sondern werden unter die Kuratel der AG gestellt.

3.5.
Das Demokratieargument

Die VertreterInnen der AN werden von der AK nach dem Ergebnis der AK-Wahlen und die VertreterInnen der AG von der Wirtschaftskammer (WKO) nach dem Ergebnis der WKO-Wahlen entsendet. Nur um die Dimensionen klarzustellen: Die AK repräsentiert in der ÖGK rund sieben Mio Versicherte (rund 3,6 Mio AN und ihre Angehörigen). Die Wirtschaftskammer repräsentiert rund 155.000 AG (http://wko.at/statistik/jahrbuch/2018_Deutsch.pdfhttp://wko.at/statistik/jahrbuch/2018_Deutsch.pdf, 80). Über 100.000 Wirtschaftstreibende sind Mitglied des Wirtschaftsbundes, daher dominiert der Wirtschaftsbund die WKO-Wahlen und entsendet fünf der sechs AG-Mandate in den Verwaltungsrat der ÖGK (einen Vertreter entsendet das Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz [BMASGK]). Für einen Beschluss im Verwaltungsrat ist eine Mehrheit von sieben Stimmen erforderlich. Ohne Zustimmung der AG kann also künftig in der SV der AN nicht der kleinste Beschluss gefasst werden. Im Ergebnis übernehmen die rund 100.000 Mitglieder des Wirtschaftsbundes die Kontrolle über die KV der103 AN, aber auch über deren PV und UV. Ein DN-Vertreter repräsentiert rund 600.000 AN bzw 1,2 Mio Versicherte, ein AG-Vertreter repräsentiert ca 25.000 beitragszahlende Unternehmen.

4.
Übertragung der Sozialversicherungsprüfung an die Finanz

Die Sozialversicherungsprüfung wird an die Finanzverwaltung übertragen. Dadurch drohen erhebliche Einnahmenverluste und auch individuelle Leistungsverluste (da Pensionen, Krankengeld usw von korrekt übermittelten Beitragsgrundlagen abhängen). Von 2010 bis 2017 beträgt der Unterschied in der Eintreibung vorenthaltener Beiträge zwischen Finanzverwaltung und Gebietskrankenkassen mehr als 1 Mrd € (1463/AB [26. GP] vom 25.9.2018 und 823/AB vom 13.7.2018).

4.1.
Die Einrichtung einer Prüfbehörde bei der Finanz

Der Prüfdienst für lohnabhängige Abgaben und Beiträge (PLAB) wird vom Finanzminister eingerichtet. Die Leitung wird einem Vorstand übertragen. Die Aufgaben des Prüfdienstes sind die Prüfung der lohnabhängigen Abgaben und Beiträge. Darunter fallen die Lohnsteuerprüfung, die Sozialversicherungsprüfung gem § 41a ASVG und die Kommunalsteuerprüfung. Ausdrücklich wird erklärt, dass die neben der ÖGK bestehenden Sozialversicherungsträger, die ihre Beiträge selbst einheben – die SVS und die BVAEB – nicht von der Zuständigkeit des PLAB umfasst sind. Umgekehrt gesprochen heißt dies, dass ausschließlich die ÖGK ihre Kompetenz zur eigenständigen Beitragsprüfung verliert. Selbstständige, LandwirtInnen, BeamtInnen sowie EisenbahnerInnen und Bergleute dürfen weiterhin selbst prüfen. Zur Position der Gemeinden und Städte wird in diesem Zusammenhang keine Stellungnahme abgegeben.

In einer Zurechnungsbestimmung wird das Wirken des Organs des PLAB bei der Durchführung der Sozialversicherungsprüfung organschaftlich der ÖGK zugerechnet. Diese Konstruktion ist äußerst problematisch. Es ist hinsichtlich der Amtshaftung, aber auch hinsichtlich des Weisungszusammenhangs sowie hinsichtlich der Abgrenzung der behördlichen Zuständigkeit nicht statthaft, ein Organ einer Behörde funktional einer anderen Behörde zuzurechnen. Erschwerend kommt hinzu, dass der PLAB eine weisungsgebundene Behörde des Finanzministers darstellt, funktional für eine selbstverwaltete und daher weisungsfreie Behörde tätig wird. Diese Bestimmung ist, vor dem Hintergrund des in der Bundesverfassung verankerten Prinzips der Selbstverwaltung, äußerst problematisch (vgl Berka in Berka/Müller/Schörghofer [Hrsg], Die Neuorganisation der Sozialversicherung 157 ff).

4.2.
Drohende Einnahmenverluste

Der RH hat die Gemeinsame Prüfung aller lohnabhängigen Abgaben (GPLA) bis dato zweimal einer Prüfung unterzogen (Bund 2012/6 und Follow-Up-Prüfung Bund 2015/3). Laut dieser RH-Berichte ist die SV im Vergleich zur Finanzverwaltung besser geeignet, die Sozialversicherungsprüfung durchzuführen. Dies liegt an den darauf ausgerichteten Organisations- und Entscheidungsstrukturen. Der RH stellt dazu fest: „Die Organisationsstrukturen der KVT [Krankenversicherungsträger] waren annähernd einheitlich gestaltet, ebenso deren hierarchische Entscheidungskompetenzen. Die Prüfer der KVT werden grundsätzlich durch den Innen- und Erhebungsdienst der KVT unterstützt, dies ist in der FV [Finanzverwaltung] grundsätzlich nicht gegeben. Demgegenüber war die FV uneinheitlich organisiert (2012/6 Seite 18).“ Diese unterschiedliche Organisation und Prüfkultur werden auch in den Ergebnissen sichtbar. Der RH stellt dazu fest: „So war z.B. das Mehrergebnis SV-Beiträge je KVT-Prüfer um das rund Dreifache höher als jenes der FV-Prüfer (Bund 2012/6 Seite 17).

Zusammengefasst stellt der RH fest, dass der Prüferfolg aufgrund der Strukturen der Finanzverwaltung geringer ausfällt. Dies liegt nicht am Personal, sondern daran, dass die SV besser strukturiert ist, klarere Hierarchieebenen vor Ort hat. Dies erhärtet sich weiter durch die parlamentarische Anfragebeantwortung 1463/AB (16. GP) vom 25.9.2018 und 823/AB vom 13.7.2018. Dort wurden die Prüferfolge der GPLA-Prüfung zwischen Finanzverwaltung und Gebietskrankenkassen im Zeitraum von 2007 bis 2017 verglichen.

Zusammengefasst ergibt sich auch aus den Anfragebeantwortungen der Sozialministerin, dass die PrüferInnen der SV bis zu fünfmal so effizient sind – im Mittel 3,99-fach – als die FinanzverwaltungsprüferInnen.

Rechnet man die Prüfergebnisse nun auf den mittleren Effizienzgrad der Finanzverwaltung um, entgingen der SV, aber auch dem Bund bzw nachgelagert den Ländern (sowie den Gemeinden als selbstverwaltete Gebietskörperschaften) rund 75 % der durch bisherige Sozialversicherungsprüfungen erzielten Einnahmen durch dann nicht mehr erfolgte Korrekturen der Beitragsgrundlagen. Würde man den kumulierten Erfolg des Beobachtungszeitraumes 2010 bis 2017 von 1,384 Mrd € den zu befürchtenden Einnahmenentfall von 75 % gegenüberstellen, so würden die Einnahmen um minus 1,038 Mrd € auf 346 Mio € fallen. Dies stellt eine enorme Ge-104fährdung der Beitragseinnahmen für den gesamten Bereich der SV dar. Um den potentiellen jährlichen Verlust von rund 130 Mio € auszugleichen, müsste der Gesetzgeber den Krankenversicherungs-Beitragssatz um ca 0,1 % anheben.

4.3.
Drohende Leistungskürzungen

Die verminderte Prüfeffizienz hat aber auch im Einzelfall schwer nachteilige Folgen. Bekanntlich werden die Leistungen der SV aufgrund der Beitragsgrundlage gem § 44 ASVG bemessen. Das sind Leistungen aus dem Versicherungsfall des Alters (Alterspensionen), des Todes (Hinterbliebenenpensionen), der geminderten Arbeitsfähigkeit (zB Berufsunfähigkeitspension), die Leistungen wegen Arbeitsunfällen bzw gleichgestellten Unfällen (Versehrtenrente), die Leistungen aus dem Versicherungsfall der Krankheit (Krankengeld, Rehabilitationsgeld) oder für Mütter (Wochengeld; jedoch anhand von Nettoeinkommen berechnet), sowie bei Arbeitslosigkeit (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe). Für all diese einkommensersetzenden Leistungen ist also die Beitragsgrundlage, wie sie die SV speichert, pflegt und kontrolliert, maßgeblich. Sinkt nun die Prüfeffizienz, sinkt auch die Anzahl der kontrollierten Beitragsgrundlagen – und damit letztendlich im Versicherungsfall die Leistungshöhe für die Versicherten. Es drohen Pensionsschäden, weniger Geld bei Krankheit etc.

4.4.
Zwangszuweisung der Angestellten der Gebietskrankenkassen

Die Zwangszuweisung der Angestellten der SV zur Finanzverwaltung, die eine Bundesbehörde darstellt, stellt einen Eingriff in die Selbstverwaltung der SV dar, weil die Selbstverwaltung durch die AK- bzw WKO-Wahlen demokratisch legitimiert ist. Zum anderen verstößt die Zwangszuweisung der Angestellten zur Finanzverwaltung auch gegen die Menschenrechtskonvention, weil sie per Gesetz und nicht mit Zustimmung der betroffenen AN erfolgt.

Neben dem unzulässigen Eingriff in die Selbstverwaltung durch die Verschiebung der Beitragsprüfung zur Finanz sind auch die in § 15 BG über die Prüfung lohnabhängiger Abgaben und Beiträge (PLABG) vorgesehene Zuweisungskonstruktion und die diese flankierende Regelung in § 20 PLABG verfassungsrechtlich bedenklich. Der vorgesehene Ausschluss der Anwendbarkeit des Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes (AÜG) entbehrt einer ausreichenden sachlichen Rechtsfertigung und bringt die Zuweisungskonstruktion sogar in Widerspruch mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Zwangsarbeit (Art 4 Abs 2 MRK) und dessen einfachgesetzliche Ausprägungen in § 1153 ABGB und § 2 Abs 2 AÜG, die zudem auf die verfassungsgesetzlich geschützte Privatautonomie gestützt werden können (vgl Pfeil/Felten in Berka/Müller/Schörghofer [Hrsg], Die Neuorganisation der Sozialversicherung 195 ff).

5.
Zusammenfassung

Die nähere Betrachtung der drei Aspekte Fusion, Parität und Übertragung der Beitragsprüfung an die Finanzverwaltung zeigt, dass für die versicherten AN und ihre Angehörigen keine Vorteile erkennbar sind; im Gegenteil, mit der Reform wird keine Leistungsharmonisierung zwischen BeamtInnen, Selbstständigen und ASVG-Versicherten angestrebt, sondern es werden die bestehenden Leistungsunterschiede verfestigt (Drei-Klassen-Medizin). Zudem müssen die ASVG-Versicherten mit Leistungsverschlechterungen und Selbstbehalten rechnen, weil nicht erkennbar ist, wie das derzeitige Leistungsniveau mit weniger Geld aufrechterhalten werden kann. Auch wirtschaftlich ist kein Vorteil zu erkennen, weil alle Indikatoren darauf hinweisen, dass die Fusion hohe Kosten verursacht (Fusionskosten, höhere Verwaltungskosten eines Monsterträgers mit 7 Mio Versicherten, ManagerInnen statt FunktionärInnen, teurere Verträge mit ÄrztInnen, etc).

Die paritätische Entsendung von DG-VertreterInnen in die ÖGK und PVA verstärkt diesen Eindruck. Auch hier stehen die Machtpolitik und die wirtschaftlichen Interessen der AG im Vordergrund, den versicherten AN wird die Mehrheit in ihrer Selbstverwaltung entzogen.

Auch die Übertragung der Beitragsprüfung stößt ins selbe Horn. Offenbar prüfen die BeitragsprüferInnen der Gebietskrankenkassen zu erfolgreich und sind manchen AG lästig geworden. Die Übertragung der Beitragsprüfung an die Finanzverwaltung verfolgt wohl das Ziel, die Prüfqualität und -quantität an den Maßstab der Finanzverwaltung anzugleichen, der deutlich niedriger angesiedelt ist, wie der RH dargelegt und eine rezente Parlamentarische Anfrage bestätigt hat.

Dass diese Umgestaltungen aus machtpolitischen Interessen auf schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken stoßen, ist in den zitierten Beiträgen ausführlich dargetan und wird durch RH-Berichte, Parlamentarische Anfragebeantwortungen und faktische Entwicklungen (wie die der Verwaltungskosten) unterstützt. Man darf gespannt sein, wie der VfGH die Neuorganisation der SV beurteilt.105