82Keine Zuerkennung einer Invaliditätspension im Verfahren über die Entziehung von Rehabilitationsgeld
Keine Zuerkennung einer Invaliditätspension im Verfahren über die Entziehung von Rehabilitationsgeld
Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein, ansonsten fehlt es bei einer Bescheidklage an einer „darüber“ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers. In einem solchen Fall ist eine Klage gem § 73 ASGG von Amts wegen hinsichtlich Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen.
Selbst wenn sich im Gerichtsverfahren über die Entziehung des Rehabilitationsgeldes wegen Besserung des Gesundheitszustandes der Eintritt dauerhafter Invalidität herausstellt, kann das Arbeits- und Sozialgericht eine Invaliditätspension nicht zusprechen, weil dieser Anspruch nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war und der Pensionsversicherungsträger über einen solchen Anspruch noch keinen Bescheid erlassen hat.
Der 1975 geborene Kl bezog ab dem Jahr 2013 eine bis 28.2.2015 befristete Invaliditätspension. Mit Bescheid vom 30.1.2015 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag auf Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Ab dem 1.3.2015 liege weiterhin vorübergehende Invalidität vor, es bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld. Mit Bescheid vom 24.3.2017 entzog die PVA das Rehabilitationsgeld mit 30.4.2017 wegen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Kl. Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte der Kl die Feststellung, dass Invalidität mindestens im Ausmaß von sechs Monaten vorliege, sowie die Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes, hilfsweise die Feststellung der dauernden Invalidität.
Das Erstgericht wies das Hauptbegehren (Weitergewährung von Rehabilitationsgeld) ab und verpflichtete die Bekl zur Leistung einer Invaliditätspension ab 1.6.2017. Der Gesundheitszustand und die Leistungsfähigkeit des Kl seien mit 30.4.2017 zunächst verbessert gewesen, sodass er wieder in der Lage gewesen sei, diverse Hilfstätigkeiten auszuüben. In weiterer Folge habe sich der Gesundheitszustand aber derart verschlechtert, dass der Kl ab dem 1.6.2017 nicht mehr am allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar und von dauerhafter Invalidität auszugehen sei.
Das Berufungsgericht gab der von der Bekl erhobenen Berufung teilweise Folge und wies das Eventualbegehren auf Feststellung dauernder Invalidität mit der Begründung ab, die Gesundheits-136beeinträchtigungen des Kl bewirkten keinen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.
Der OGH hielt die außerordentliche Revision des Kl für zulässig, da eine Nichtigkeit der Entscheidungen der Vorinstanzen aufzugreifen sei. Er hob die Urteile der Vorinstanzen und die davon betroffenen Verfahrensteile von Amts wegen hinsichtlich Nichtigkeit des Rechtsweges auf und wies die Klage gem § 73 ASGG im Umfang des Eventualbegehrens zurück.
„1. Nach dem in Sozialrechtssachen geltenden Grundsatz der sukzessiven Kompetenz kann in einer Leistungssache – abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall des § 65 Abs 1 Z 3 ASGG und vorbehaltlich des ebenfalls nicht in Rede stehenden § 68 ASGG – das Gericht nur angerufen werden, wenn vom Versicherungsträger entweder ‚darüber‘, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch des Versicherten, bereits ein Bescheid erlassen wurde oder der Versicherungsträger mit der Bescheiderlassung säumig geworden ist (§ 67 Abs 1 ASGG; RIS-Justiz RS0085867). […] Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss demnach mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein, ansonsten fehlt es bei einer Bescheidklage an einer ‚darüber‘ ergangenen Entscheidung des Versicherungsträgers. In einem solchen Fall ist eine Klage gemäß § 73 ASGG von Amts wegen wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0042080). Ein davon betroffener Verfahrensteil ist als nichtig aufzuheben (10 ObS 53/17t; 10 ObS 4/16k, SSV-NF 30/33). […]
2.2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass die Beklagte dann, wenn nur der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung Gegenstand des Verwaltungsverfahrens sind, zwar die Frage der vorübergehenden Invalidität und deren Wegfalls im Verfahren zu prüfen hat, dies aber nichts am Verfahrensgegenstand ändert (10 ObS 116/16f). Tritt daher während des Bezugs von Rehabilitationsgeld beim Versicherten dauerhafte Invalidität ein, so hat dies nicht zur Folge, dass Gegenstand des (Entziehungs-)Verfahrens vor dem Pensionsversicherungsträger deshalb ein Anspruch auf Invaliditätspension wäre. Der Eintritt dauerhafter Invalidität bildet in einem solchen Fall lediglich einen […] Entziehungstatbestand gemäß § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG. Gegenstand des Verfahrens bleiben aber der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung (10 ObS 116/16f).
2.3. Erst für das weitere Vorgehen nach Abschluss des Verfahrens über die Entziehung von Rehabilitationsgeld ordnen die Bestimmungen des § 361 Abs 5 ASVG iVm § 86 Abs 6 ASVG an, dass (nur) bei Vorliegen des Entziehungstatbestands des § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG die Leistungen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ohne weitere Antragstellung anfallen und das Leistungsfeststellungsverfahren über einen Anspruch aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (etwa auf Invaliditätspension) vom Pensionsversicherungsträger von Amts wegen einzuleiten ist (ErläutRV 321 BlgNR 25. GP 4; 10 ObS 116/16f mwN).
2.4. Selbst wenn sich daher in einem Fall wie dem vorliegenden im Gerichtsverfahren der Eintritt dauerhafter Invalidität herausstellen sollte, könnte das Arbeits- und Sozialgericht eine Invaliditätspension nicht zusprechen, weil dieser Anspruch nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war und der Pensionsversicherungsträger über einen solchen Anspruch noch keinen Bescheid erlassen hat (10 ObS 116/16f; Sonntag, Neues zur vorübergehenden Invalidität, ASoK 2015, 420 [429]).
3.1. Im vorliegenden Fall wurde das auf Feststellung des Vorliegens von Invalidität im Ausmaß von zumindest sechs Monaten und auf Weitergewährung des Rehabilitationsgeldes gerichtete Hauptbegehren des Klägers vom Erstgericht rechtskräftig abgewiesen. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch das auf Feststellung des Vorliegens dauernder Invalidität gerichtete Eventualbegehren.
3.2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte ausgesprochen, dass vorübergehende Invalidität nicht vorliege und hat das Rehabilitationsgeld entzogen. Über das Bestehen dauernder Invalidität hat sie nicht abgesprochen; auch ein Anspruch auf Invaliditätspension war nicht Gegenstand des vor der Beklagten geführten Verfahrens oder ihrer Entscheidung.
Mangels eines ‚darüber‘ ergangenen Bescheids iSd § 67 Abs 1 Z 1 ASGG konnten daher weder das Bestehen dauernder Invalidität noch der Anspruch auf Invaliditätspension zulässiger Gegenstand einer gegen den angefochtenen Bescheid gerichteten Klage oder einer gerichtlichen Entscheidung sein.
4. Die Erhebung einer Klage vor Bescheiderlassung ist nur in den Säumnisfällen des § 67 Abs 1 Z 2 und – hier nicht in Betracht kommend – Z 3 ASGG möglich (Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 12).
Ein Säumnisfall iSd § 67 Abs 1 Z 2 ASGG erfordert, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist (10 ObS 116/16f; Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 12). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Auch der Kläger hat nicht behauptet, einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension oder auf Feststellung, ob Invalidität dauerhaft vorliegt (§ 255a ASVG), gestellt zu haben, der eine Pflicht der Beklagten zur Erlassung eines Bescheids auslösen könnte. Andererseits könnte eine (amtswegige) Verpflichtung zur Erlassung eines Bescheids über einen Anspruch aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit in einem Fall, in dem sich dauerhafte Invalidität erst während des gerichtlichen Verfahrens über die Entziehung von Rehabilitationsgeld herausstellt (sodass der Entziehungstatbestand des § 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG vor-137läge), gemäß §§ 86 Abs 6, 361 Abs 5 ASVG erst nach rechtskräftigem Abschluss des Entziehungsverfahrens entstehen, sodass auch in diesem Fall keine Säumnis der Beklagten vorliegen kann (10 ObS 116/16f).
5. Da die Feststellung der dauerhaften Invalidität und die Gewährung einer Invaliditätspension nicht Gegenstand eines ‚darüber‘ ergangenen Bescheids der Beklagten waren und ein Säumnisfall nicht vorliegt, sind die für die Zulässigkeit des Rechtswegs erforderlichen Verfahrensvoraussetzungen nicht erfüllt. Aus Anlass der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen und die davon betroffenen Verfahrensteile von Amts wegen wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs insoweit als nichtig aufzuheben (RIS-Justiz RS0042080), als damit über das Vorliegen dauerhafter Invalidität und über einen Anspruch auf Invaliditätspension ab dem 1.6.2017 abgesprochen wurde.“
Das Rehabilitationsgeld kann ua entzogen werden, wenn eine Besserung des Gesundheitszustands eintritt und vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG) oder wenn Invalidität voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG).
Hauptgegenstand der vorliegenden E ist die Frage, ob die für die Zulässigkeit des Rechtswegs erforderlichen Verfahrensvoraussetzungen erfüllt sind, damit das Arbeits- und Sozialgericht eine Invaliditätspension zusprechen kann, wenn sich im Gerichtsverfahren über die Entziehung des Rehabilitationsgeldes wegen Besserung des Gesundheitszustandes (§ 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG) der Eintritt dauerhafter Invalidität herausstellt.
ISd sukzessiven Kompetenz kann in einer Leistungssache das Gericht nur angerufen werden, wenn der Versicherungsträger entweder „darüber“, dh über den Anspruch des Versicherten, bereits einen Bescheid erlassen hat oder mit der Bescheiderlassung säumig geworden ist.
Im ersten Fall muss der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens ident sein. Der OGH (13.9.2016, 10 ObS 116/16f)hat bereits klargestellt, dass die PVA dann, wenn nur der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung wegen Wegfalls der vorübergehenden Invalidität Gegenstand des Verwaltungsverfahrens sind, zwar die Frage der vorübergehenden Invalidität und deren Wegfall im Verfahren zu prüfen hat; Verfahrensgegenstand bleiben aber der Anspruch auf Rehabilitationsgeld und dessen Entziehung.
Die zweite Möglichkeit ist der Eintritt eines Säumnisfalles des § 67 Abs 1 Z 1 und 2 ASGG. Ein solcher Säumnisfall iSd § 67 Abs 1 Z 1 ASGG setzt jedoch voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist. Ein solcher Fall könnte eintreten, wenn der Kl einen Antrag auf Gewährung einer Invaliditätspension oder auf Feststellung dauerhafter Invalidität (§ 255a ASVG) gestellt hätte.
Beide Fälle liegen hier nicht vor, weshalb die Urteile der Vorinstanzen und die davon betroffenen Verfahrensteile von Amts wegen hinsichtlich Unzulässigkeit des Rechtswegs insoweit als nichtig aufzuheben waren, als damit über das Vorliegen dauerhafter Invalidität und über einen Anspruch auf Invaliditätspension abgesprochen wurde.
Nur bei einem Entziehungsverfahren wegen Vorliegens dauernder Invalidität (§ 99 Abs 3 Z 1 lit b sublit dd ASVG) wird das Verfahren ohne Antrag (von Amts wegen) eingeleitet; Stichtag ist der der Entziehung folgende Tag.
In der Praxis ist deshalb Kl in einem Entziehungsverfahren wegen einer Besserung des Gesundheitszustands zu empfehlen, einen Antrag auf Invaliditätspension zu stellen, sobald sich – etwa auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens – herausstellt, dass dauernde Invalidität vorliegt.