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Streichung eines Arzneimittels aus dem Erstattungskodex: Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG

CHRISTAMARISCHKA

Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (HV) hat eine Arzneispezialität, die als Originalprodukt im Gelben Bereich des Erstattungskodex (EKO) gelistet war, gem § 351c Abs 10 ASVG gestrichen, weil das vertriebsberechtigte Unternehmen die nach Aufnahme eines dritten Generikums in den EKO vorgesehene Preisreduktion abgelehnt hat. Die dieses Arzneimittel vertreibende Revisionswerberin hat ein erhebliches Interesse der Versicherten geltend gemacht, dass das Produkt im EKO verbleiben soll. Sie führt dazu aus, dass Substitutionspatienten, die die gegenständliche Arzneispezialität bisher wegen ihrer Suchtgiftabhängigkeit erhalten haben, Generika ablehnen würden bzw ihre Substitutionsbehandlung abbrechen oder auf andere, weniger geeignete und letztlich teurere Wirkstoffe umgestellt werden könnten. Daher sei auch ein höherer Preis als der des „dritten Generikums“ gerechtfertigt.

Das BVwG hat ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung die Streichung des Arzneimittels aus dem EKO bestätigt und ausgeführt, dass lediglich zu untersuchen sei, ob die Revisionswerberin eine angemessene Preisreduktion angeboten habe bzw die Ablehnung dieses Angebotes durch den HV fachlich begründet gewesen sei.

Die gegen das Erk erhobene Beschwerde an den VfGH wurde von diesem dem VwGH zur Entscheidung abgetreten.

Der VwGH schließt sich zunächst den bereits vom VfGH (B 970/09 VfSlg 19.631; B 1451/2011 VfSlg 19.857) angestellten Überlegungen zur Maßgeblichkeit von Umstellungsschwierigkeiten von Originalprodukten auf Generika an. Demzufolge liege das Verlangen einer neuerlichen Preisreduktion des Originals, sobald durch ein Generikum eine dritte Preisreduktion erfolgt ist, ungeachtet der Verwendung des Wortes „kann“ nicht im freien Ermessen des HV. Die Streichung aus dem EKO sei vielmehr zwingende Folge einer Nichteinigung zwischen dem HV und dem vertriebsberechtigten Unternehmen im Rahmen der durch die VO-EKO näher präzisierten Vorgaben. Dabei habe sich der HV an den Empfehlungen der ökonomischen Kriterien der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission (HEK) zu orientieren. Es könne aber weiterhin ein erhebliches Interesse der Versicherten am Vorhandensein des Originalprodukts im EKO gegeben sein, wenn sich aufgrund bestimmter Eigenschaften des Originalprodukts oder der damit zu therapierenden Erkrankung zB eine Umstellung von Patienten auf ein Generikum nur erschwert möglich sei. Grundsätzlich sei von der Vermutung auszugehen, dass eine Absenkung des Preises auf das Niveau des die dritte Preisreduktion auslösenden Generikums den ökonomisch angemessenen Preis darstelle. Diese Vermutung könne aber aus medizinischen oder sonstigen inhaltlichen Gründen (wie zB die genannten Umstellungsschwierigkeiten) widerlegt werden.

Auf diesen Überlegungen aufbauend führt der VwGH aus, dass in der erstinstanzlichen medizinisch-therapeutischen Evaluation durch die HEK der Nutzen für eine bestimmte Gruppe von Patienten durch die Behandlung mit einer bestimmten Arzneispezialität im Vergleich zu therapeutischen Alternativen zu quantifizieren ist. Bei wirkstoffgleichen Produkten ist gem § 24 Abs 2 Z 1 EKO davon auszugehen, dass kein zusätzlicher therapeutischer Nutzen vorliegt. Nur ausnahmsweise können medizinisch-therapeutische Gründe – wie etwa die genannten Umstellungsschwierigkeiten – einen Verbleib im EKO rechtfertigen.

Ob Umstellungsschwierigkeiten zu erwarten sind, ist eine Fachfrage, die erforderlichenfalls im Rahmen eines Sachverständigengutachtens zu beantworten ist. Werden von den Parteien Gutachten anderer Sachverständiger oder andere sachverständige Stellungnahmen vorgelegt, so sind diese erforderlichenfalls einer Überprüfung durch amtliche bzw nichtamtliche Sachverständige als Hilfsorgan des Gerichts zu unterziehen („Plausibilitätsprüfung“), wobei gegebenenfalls aber nicht noch ein (zusätzliches) Gutachten notwendig ist.

Das BVwG hätte von der beantragten mündlichen Verhandlung nur absehen dürfen, wenn die Akten hätten erkennen lassen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war und einem Entfall der Verhandlung weder Art 6 Abs 1 EMRK noch – da der Fall in Anbetracht der Transparenz-RL im Anwen-143dungsbereich des Unionsrechts und somit auch der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) liegt – Art 47 GRC entgegenstanden. Im vorliegenden Fall hatte das BVwG im Rahmen des Ermittlungsverfahrens die Frage zu klären, ob bei Suchtgiftpatienten (die uU zusätzlich unter psychischen Erkrankungen leiden) bei ordnungsgemäßer ärztlicher Beratung und Behandlung Umstellungsschwierigkeiten zu erwarten sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass bei Ermittlung allfälliger Umstellungsschwierigkeiten von vornherein angenommen werden könnte, dass die Durchführung der beantragten Verhandlung nichts zur Klärung der Rechtssache beitragen könnte, zumal es sich nicht bloß um eine Frage technischer Natur, sondern um die Aufnahme bzw Erörterung eines Sachverständigenbeweises vor kontroversiellem Hintergrund handelt. Es gehört zu den grundlegenden Pflichten des Gerichts, gerade bei sich widersprechenden prozessrelevanten Behauptungen dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich in einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen oder Parteien oder auch von der Nachvollziehbarkeit einer Stellungnahme durch einen Sachverständigen zu verschaffen und insb darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Das angefochtene Erk des BVwG war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.