91Höhe des Anspruchs auf Wochengeld für den Zeitraum eines individuellen Beschäftigungsverbots bei zwischenstaatlichem Sachverhalt
Höhe des Anspruchs auf Wochengeld für den Zeitraum eines individuellen Beschäftigungsverbots bei zwischenstaatlichem Sachverhalt
Erzielen Versicherte während des Beobachtungszeitraums des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG sowohl aus Beschäftigungen in Österreich als auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU einen Arbeitsverdienst, so haben die ausländischen Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Höhe des Wochengeldes als „neutrale“ Zeiten unberücksichtigt zu bleiben (sind daher von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage abzuziehen). Dies gilt nicht für ausländische Zeiten einer Arbeitsunterbrechung infolge Urlaubs ohne Entgeltzahlung, sofern dieser Urlaub die Dauer eines Monats überschreitet.
Die Kl war von 1.1.2015 bis 31.8.2017 in Deutschland beschäftigt. Vom 8.3.2016 bis 25.7.2017 befand sie sich in Karenz. Vom 26.7.2017 bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses zum deutschen AG mit 31.8.2017 verbrauchte sie ihren Resturlaub, wofür sie ein Urlaubsentgelt von € 7.729,01 erhielt. Vom 1.9. bis zum 14.9.2017 war die in Österreich wohnhafte Kl bei einem österreichischen DG beschäftigt. Sie verdiente € 2.025,90 netto. Der Arbeitsverdienst wurde nach Kalendermonaten bemessen und abgerechnet. Am 15.9. bis 2.10.2017 musste die Kl bei einer erneuten Schwangerschaft vorzeitigen Mutterschutz in Anspruch nehmen.
Mit Bescheid gab die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter dem Antrag der Kl auf Auszahlung von Wochengeld iHv € 22,11 täglich von 15.9. bis 2.10.2017 statt. Dass für die Berechnung des Wochengeldes nur der in Österreich erzielte Arbeitsverdienst heranzuziehen sei und ein Zuschlag von 17 % für Sonderzahlungen gebührt, war zwischen den Parteien nicht strittig.
In der Klage begehrte die Kl den Zuspruch eines täglichen Wochengeldes von € 80,55 und brachte vor, dass nach Unionsrecht auch die 37 Tage der Beschäftigung in Deutschland von 26.7. bis 31.8.2017 zu berücksichtigen seien, sowie, dass das in Österreich erzielte Einkommen auch auf diese Zeiten der Beschäftigung in Deutschland hochzurechnen sei.
Die Bekl wandte ein, dass die Kl im Kalendermonat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft lediglich ein Einkommen erzielt habe. Der allein zu berücksichtigende österreichische Verdienst sei durch die 92 Tage des Bemessungszeitraums zu dividieren, woraus sich der Wochengeldanspruch der Kl errechne.
Das Erstgericht sprach der Kl ein tägliches Wochengeld von € 27,56 für den Zeitraum von 15.9. bis 2.10.2017 zu. Im Umfang dieses Zuspruchs erwuchs das Urteil unangefochten in Rechtskraft. Das Mehrbegehren auf Zuerkennung eines Wochengeldes von täglich (weiteren) € 52,99 hingegen wies das Erstgericht ab und führte aus, dass die Beschäftigungszeiten in Deutschland von 26.7. bis 31.8.2017 wie inländische Beschäftigungszeiten zu behandeln seien, jedoch die in diesem Zeitraum liegenden Tage bei der Berechnung des Anspruchs nicht gezählt werden dürfen. Dies gelte nur für den Zeitraum 26.7. bis 31.7.2017, weil der im September 2017 in Österreich erzielte Arbeitsverdienst gem § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG als im Monat August 2017 verdient gelte. Das Erstgericht errechnete daher das Wochengeld wie folgt: 2.025,90 : 86 (92 Tage des Beobachtungszeitraums 1.6. bis 31.8.2017 abzüglich der „neutralen“ Beschäftigungszeit vom 26.7. bis 31.7.2017, das sind sechs Tage) x 1,17 = € 27,56.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl Folge und erkannte der Kl ein Wochengeld von € 80,55 täglich für den Zeitraum 15.9. bis 2.10.2017 zu. Die in Deutschland im Beobachtungszeitraum liegenden Beschäftigungszeiten seien wie inländische Zeiten zu behandeln. Der im September 2017 erzielte Arbeitsverdienst könne nicht auf August 2017 umgelegt werden. Weiters ist bei der Berechnung nicht auf Beschäftigungstage, sondern auf Kalendertage abzustellen. Der Anspruch errechnete sich daher wie folgt: € 2.025,90 : 14 Kalendertage (Erwerbstätigkeit in Österreich) x 1,17 = € 169,30 täglich. Da aber die Kl nur € 80,55 anstrebte, wurde ihr nur dieser Betrag zuerkannt.
Der OGH gab der Revision der Bekl teilweise Folge und änderte die Urteile der Vorinstanzen insofern ab, als dass er der Kl ein tägliches Wochengeld iHv € 43,10 vom 15.9. bis zum 2.10.2017 unter Anrechnung des bereits rechtskräftig zugesprochenen Tagsatzes von € 27,56 zuerkannt hat. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Wochengeldtagsatzes wurde hingegen abgewiesen.
„1. Die hier allein strittige Höhe des Wochengeldanspruchs regelt im konkreten Fall § 84 Abs 1 B-KUVG iVm § 162 ASVG […].
2.1 Der Versicherungsfall der Mutterschaft trat am 15.9.2017 (§ 120 Z 3 ASVG) ein, sodass der Beob-145achtungszeitraum des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG im Zeitraum von 1.6.2017 bis zum 31.8.2017 liegt. Die Klägerin war in diesem Zeitraum in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Da sie aber die Zuerkennung einer Leistung des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit begehrt, liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt im Sinn des Art 2 Abs 1 VO 883/2004 vor. Damit ist der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet.
2.2 […] Das Wochengeld unterfällt unionsrechtlich dem Versicherungsfall der Mutterschaft, weil es dem Ausgleich von Einkommensverlusten infolge Schwangerschaft und Geburt dient (RIS-Justiz RS0117195 […]). Damit ist im konkreten Fall auch der sachliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet.
3. […] Die Parteien stellen nicht in Frage, dass das Wochengeld als Geldleistung im Sinn des Art 21 VO 883/2004 anzusehen ist […]. Sie legen der Berechnung des Anspruchs der Klägerin übereinstimmend unter Anwendung des Art 21 Abs 2 VO 883/2004 auch nur den von ihr in Österreich im September 2017 erzielten Arbeitsverdienst zugrunde […].
4.1 Das in Art 5 VO 883/2004 enthaltene Gebot der Tatbestandsgleichstellung erfordert, dass jeder Mitgliedstaat […] bei der Anwendung und Auslegung des eigenen Rechts der sozialen Sicherheit die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats verwirklichten Rechtstatbestände oder die in einem anderen Mitgliedstaat verwirklichten Sachverhalte berücksichtigt, als hätten sich diese nach den eigenen Rechtsvorschriften oder auf dem eigenen Staatsgebiet ereignet, sofern es sich um gleichartige Verhältnisse oder entsprechende Sachverhalte handelt (10 ObS 148/14h […]).
4.2 Art 5 VO 883/2004 ist unmittelbar primärrechtlich fundiert […]. Er verwirklicht neben der rechtlichen Gleichbehandlung (Art 4 VO 883/2004) die faktische Gleichstellung der Personen, die Freizügigkeit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wahrgenommen haben. […]
4.3 Vor diesem Hintergrund sind die Vorinstanzen zutreffend davon ausgegangen, dass die von der Klägerin in Deutschland zurückgelegten Beschäftigungszeiten für die Berechnung der Höhe des Wochengeldes gemäß Art 5 VO 883/2004 so zu behandeln sind, als wären sie im Inland zurückgelegt worden. […] Vielmehr sind die auf die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat der Union entfallenden Kalendertage für die Berechnung des Wochengeldanspruchs von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage abzuziehen (zu ‚neutralisieren‘ […]).
5.1 Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit charakterisiert, dass die Klägerin im gesamten Beobachtungszeitraum von 1.6.2017 bis 31.8.2017 in Deutschland beschäftigt war. Nur im Monat September 2017, in dem der Versicherungsfall der Mutterschaft eintrat, war sie in Österreich beschäftigt.
5.2 Die Klägerin kann ihren Anspruch auf Wochengeld daher nur auf den Sonderfall (10 ObS 287/02g) des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG stützen. […]
5.3 […] Bei einem reinen Inlandssachverhalt wäre der nur im Monat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft erzielte und gemäß § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG für die Berechnung des Wochengeldes heranzuziehende Arbeitsverdienst durch sämtliche im Beobachtungszeitraum von drei Monaten liegende Kalendertage zu dividieren […]. Diese Berechnungsmethode kann im vorliegenden Fall nicht herangezogen werden, weil die Klägerin im Beobachtungszeitraum nicht erwerbslos war.
5.4 Umgekehrt darf der Umstand, dass […] Zeiten infolge der Anwendung des Unionsrechts zu berücksichtigen sind (Art 3 AEUV; Art 5 VO 883/2004), nicht dazu führen, dass die für die Klägerin günstigere Sonderregelung des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG deshalb nicht zur Anwendung käme. Denn ungeachtet des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts genießt das für einen Sozialleistungsberechtigten im Einzelfall günstigere innerstaatliche Recht Vorrang, weil das Koordinierungsrecht der Europäischen Union niemals rechtsverkürzend, sondern stets nur rechtserweiternd wirkt (sog ‚Petroni-Prinzip‘ […]).
6.1 Der Wochengeldanspruch der Klägerin errechnet sich daher ausgehend von 92 Kalendertagen im Beobachtungszeitraum 1.6.2017 bis 31.8.2017 wie folgt:
6.2 Zeitraum 26.7. 2017–31.8.2017:
Diese Zeit des Bezugs eines Urlaubsentgelts […] stellt unzweifelhaft eine versicherungspflichtige Beschäftigung der Klägerin dar, die […] als Zeit einer inländischen versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichzuhalten ist. Die […] Klägerin hat selbst vorgebracht, Beschäftigungszeiten […] nur im Zeitraum 26.7.2017 bis 31.8.2017 erworben zu haben. Die […] 37 Kalendertage sind daher für die Berechnung des Wochengeldanspruchs […] abzuziehen (zu ‚neutralisieren‘), um ein unionsrechtskonformes Ergebnis zu erreichen. […]
6.3 Zeitraum 1.6.2017–25.7.2017:
6.3.1 […]
6.3.2 Gemäß § 162 Abs 3 Satz 6 lit a ASVG […] haben nur Zeiten der in § 11 Abs 3 ASVG bezeichneten Art bei der Ermittlung des Wochengeldanspruchs ‚außer Betracht‘ zu bleiben. Dazu zählt die Zeit einer Arbeitsunterbrechung infolge Urlaubs ohne Entgeltzahlung, sofern dieser Urlaub die Dauer eines Monats nicht übersteigt […]. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs erlischt durch eine einen Monat übersteigende Karenzierung der beiderseitigen Hauptpflichten (Arbeitspflicht und Entgeltpflicht) die Pflichtversicherung nach dem ASVG (VwGH92/08/0016 […]), daher auch im Fall einer Mutterschaftskarenz […].
6.3.3 Da die durch die Karenz bedingte Arbeitsunterbrechung der Klägerin […] länger als einen Monat dauerte, wäre diese Zeit auch bei einem reinen Inlandssachverhalt nicht bei der Ermittlung des146durchschnittlichen Arbeitsverdienstes ‚außer Betracht‘ zu lassen gewesen. […].
6.3.4 […]. Für Versicherungsfälle ab dem 28.2.2017 (§ 698 Abs 2 ASVG) besteht gemäß § 162 Abs 3a Z 2 idF BGBl I 2016/53 kein Anspruch auf Wochengeld aus Kinderbetreuungsgeld mehr, wenn der Versicherungsfall nach Ende des Kinderbetreuungsgeldbezugs eintritt. […] Wochengeld steht nur zu, wenn am Tag des Beginns des Beschäftigungsverbots vor der Geburt eines weiteren Kindes Kinderbetreuungsgeld bezogen wurde (10 ObS 100/17d). […]“
Hauptgegenstand dieser E war die Höhe des Wochengeldanspruches in Bezug auf die Frage, ob ausländische Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Höhe des Wochengeldes als „neutrale“ Zeiten unberücksichtigt bleiben, wenn Versicherte während des Beobachtungszeitraums des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG sowohl aus Beschäftigungen in Österreich als auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU einen Arbeitsverdienst erzielen.
Für die Berechnung des Wochengeldes wird gem § 162 Abs 3 S 1 ASVG auf die letzten 13 Wochen bzw drei vollen Kalendermonate bei Versicherten mit monatlicher Abrechnung vor Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft abgestellt, somit wird das Wochengeld in der Höhe des Durchschnittsnettoeinkommens der letzten 13 Wochen bzw drei Kalendermonate gewährt. Um Härtefälle zu vermeiden, gilt seit der 50. ASVG-Novelle (BGBl 1991/676) eine Ausnahme für jene Versicherten mit monatlicher Abrechnung, die nur im Kalendermonat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft ein Arbeitseinkommen erzielt haben. In diesem Fall ist der in diesem Monat gebührende Arbeitsverdienst für die Bemessung des Wochengeldes maßgeblich (Drs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 162 ASVG, Rz 66 [Stand 15.11.2017, rdb.at]). Der in diesem Beobachtungszeitraum gebührende Arbeitsverdienst ist durch die Zahl aller hineinfallenden Kalendertage und nicht nur durch die Zahl der tatsächlichen Beschäftigungstage zu teilen.
Besonderheiten gelten für Versicherte, die im Beobachtungszeitraum sowohl Beschäftigungen in Österreich als auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufweisen. In so einem grenzüberschreitenden Sachverhalt hat der österreichische Krankenversicherungsträger bei der Berechnung des Durchschnittseinkommens ausschließlich das im Durchrechnungszeitraum in Österreich erzielte Einkommen zu berücksichtigen (Art 21 Abs 2 VO 833/2004). Gleichzeitig bleiben die ausländischen Versicherungszeiten als neutrale Zeiten unberücksichtigt. Das in Österreich erzielte Einkommen ist also nicht durch alle Kalendertage, sondern nur durch die in Österreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten zu dividieren (Drs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 162 ASVG, Rz 64 [Stand 15.11.2017, rdb.at]).
Ausländische Zeiten einer Arbeitsunterbrechung infolge Urlaubs ohne Entgeltzahlung werden von der Gesamtzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage nicht abgezogen, sofern dieser Urlaub die Dauer eines Monats überschreitet. Ein längerer unbezahlter Urlaub ist somit zur Gänze in den Beobachtungszeitraum einzubeziehen.
Im konkreten Fall sind daher von der Gesamtzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden 92 Kalendertage 37 Kalendertage der versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland von 26.7. bis 31.8.2017 abzuziehen, nicht hingegen die auf die Zeit der Karenz der Kl in Deutschland entfallenden 55 Kalendertage von 1.6. bis 25.7.2017. Der Betrag von € 2.025,90 ist durch die Anzahl von 55 Kalendertagen zu dividieren, woraus sich ein Tagessatz von € 36,83, zusätzlich des Zuschlags von 17 % für Sonderzahlungen, somit ein täglicher Wochengeldanspruch für den Zeitraum von 15.9. bis 2.10.2017 von € 43,10 errechnet.