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Kündigungsfristen gemäß § 20 Abs 1 AngG aF: unzulässige Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten

CHRISTOSKARIOTIS

Die Kl war bei der Bekl, die eine Arztordination betreibt, ab 5.4.2017 als Angestellte im Ausmaß von sechs Wochenstunden beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis gelangte der KollV für Angestellte bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien zur Anwendung, wonach die Normalarbeitszeit 40 Wochenstunden beträgt. Mit Schreiben vom 12.6.2017 kündigte die Bekl das Dienstverhältnis unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von 14 Tagen zum 30.6.2017.120 Die Kl begehrte in der Folge eine Kündigungsentschädigung für den Zeitraum vom 1.7.2017 bis 30.9.2017. Ihrer Rechtsansicht nach hätte ihr Arbeitsverhältnis gem § 20 Abs 2 AngG frühestens zum 30.9.2017 gekündigt werden können. Die bis zum Inkrafttreten der Novelle BGBl I 2017/153 am 1.1.2018 in Geltung stehende Einschränkung der Anwendbarkeit dieser Bestimmung in § 20 Abs 1 AngG auf Arbeitsverhältnisse, bei welchen die vereinbarte oder tatsächlich geleistete Arbeitszeit bezogen auf den Monat mindestens ein Fünftel des 4,3-fachen der durch Gesetz oder KollV vorgesehenen wöchentlichen Normalarbeitszeit betragen habe, sei unionsrechtswidrig und habe daher unangewendet zu bleiben. Da überwiegend Frauen Teilzeit beschäftigt seien, sei in dieser gesetzlichen Regelung eine unzulässige (mittelbare) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gem Art 157 AEUV zu sehen. Darüber hinaus widerspreche die Regelung der RL 97/81/EG und § 19d AZG.

Die Bekl bestritt das Vorbringen der Kl und berief sich auf die Verkürzung der Kündigungsfristen des § 20 Abs 1 AngG aF. Eine Diskriminierung liege nicht vor.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren im Hinblick auf die bis 31.12.2017 in Geltung stehende Fassung des § 20 Abs 1 AngG ab. Das OLG gab der Berufung der Kl ebenso nicht Folge.

Der OGH hingegen erachtete die Revision der Kl als überwiegend berechtigt und führte aus, dass Art 21 Abs 1 und 23 GRC (Grundrechtecharta) jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbieten und verankern das Recht auf Gleichbehandlung von Männern und Frauen in allen Bereichen, einschließlich Beschäftigung und Entgelt. Dieses Diskriminierungsverbot bzw Gleichbehandlungsgebot wird durch die RL 2006/54/EG konkretisiert, die im Inland durch das GlBG umgesetzt wurde. Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch der RL 97/81/EG – innerstaatlich umgesetzt durch § 19d AZG – zu. Nach wie vor werden Teilzeitbeschäftigungen überwiegend von Frauen ausgeübt. Nach den von der Statistik Austria zuletzt veröffentlichten Daten (www.statistik.atwww.statistik.at) war auch 2017 Teilzeitarbeit typisch für Frauen. So arbeiteten 47,7 % der Frauen im Jahresdurchschnitt Teilzeit. Demgegenüber lag der Anteil der erwerbstätigen Männer, die eine Teilzeitbeschäftigung ausüben, bei nur 11,9 %. Die RL 97/81/EG ist, obgleich sie auch Männern zugutekommt, in erster Linie auf die Beseitigung der mittelbaren Diskriminierung von Frauen gerichtet. Nach stRsp des EuGH können schlechtere entgeltrechtliche Modalitäten und Beschäftigungsbedingungen für Teilzeitbeschäftigte, zu welchen auch die Bedingungen für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zählen (EuGH 20.12.2017, C-158/16, Vega Gonzáles, Rn 34), eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nach Art 157 AEUV darstellen (EuGH 22.11.2012, C-385/11, Elbal Moreno, Rn 29).

§ 20 Abs 1 AngG aF nahm eine Gruppe von Teilzeitbeschäftigten, deren Arbeitszeit weniger als ein Fünftel der Normalarbeitszeit betrug, von der Anwendung der in § 20 AngG normierten Kündigungstermine und (gegenüber den Regelungen des ABGB längeren) Kündigungsfristen aus. Auch unter dieser Gruppe der geringfügig Beschäftigten befinden sich nach den von der Statistik Austria zuletzt veröffentlichten Daten weit überwiegend Frauen. Davon ging auch der Gesetzgeber aus (vgl ErläutRV 735 BlgNR 18. GP 40).

Der OGH hat bereits in seiner E vom 24.10.2011, 8 ObS 5/11k, den in europarechtlicher Hinsicht geäußerten Bedenken der Lehre Bedeutung zugemessen. Da ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung geringfügig beschäftigter AN in Bezug auf die Kündigungsvorschriften nicht ersichtlich ist, steht die Bestimmung des § 20 Abs 1 AngG aF mit dem Unionsrecht, insb Art 21 und 23 GRC iVm Art 1 und 2 Abs 1 Buchstabe b der RL 2006/54/EG bzw § 4 Z 1 der Rahmenvereinbarung zu der RL 97/81/EG, nicht in Einklang.

Inhaltlich von einer RL berührte Normen sind soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen. Eine richtlinienkonforme Auslegung einer Bestimmung kann aber nur soweit erfolgen, als das nationale Recht dem Rechtsanwender einen Spielraum einräumt. Sie darf einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen nationalen Regelung keinen durch die nationalen Auslegungsregeln nicht erzielbaren abweichenden oder gar entgegengesetzten Sinn geben.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass eine dem Wortlaut gegenläufige richtlinienkonforme Interpretation des § 20 Abs 1 AngG aF nicht in Betracht kommt. Es ist aber nicht darauf eingegangen, dass der KollV für Angestellte bei Ärztinnen, Ärzten und Gruppenpraxen in Wien (Stichtag 1.7.2017), auf den sich die Kl schon in der Klage berufen hat, unter Pkt XIII. für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses folgende Regelung trifft:

„1) Ist das Dienstverhältnis ohne Zeitbestimmung eingegangen oder fortgesetzt worden, so unterliegt dessen Lösung den Bestimmungen des § 20 AngG. Bezüglich der Kündigungsfrist wird vereinbart, dass diese durch Vereinbarung gemäß § 20 Abs 3 AngG nur am Letzten eines Kalendermonats enden darf. ...“

Es ist stRsp, dass der normative Teil eines KollV gem den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen ist. Dabei ist maßgeblich, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann. In erster Linie ist dabei der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den121übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des KollV ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen. Bei der Auslegung einer kollektivvertraglichen Norm darf den Kollektivvertragsparteien zumindest im Zweifel unterstellt werden, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen und daher eine Ungleichbehandlung der Normadressaten vermeiden wollten.

Der Wortlaut von Pkt XIII. des hier zur Anwendung gelangenden KollV ist iS eines Rechtsfolgenverweises einer richtlinienkonformen Interpretation zugänglich. Ausgehend von den europarechtlichen Vorgaben kann der KollV dahin interpretiert werden, dass für alle Normadressaten die Kündigungsfristen und -termine nach § 20 AngG gelten sollen. Der Verweis im KollV, wonach die Lösung eines ohne Zeitbestimmung eingegangenen oder fortgesetzten Dienstverhältnisses den Bestimmungen des § 20 AngG unterliegt, ist daher dahin zu verstehen, dass die dort normierten Kündigungsfristen und —termine ungeachtet der Arbeitszeit der Beschäftigten gelten sollen.

Diese richtlinienkonforme Auslegung führt daher dazu, dass das Dienstverhältnis der Kl nur unter Einhaltung einer sechswöchigen Kündigungsfrist zum Ende des Kalendervierteljahres hätte gekündigt werden können, weshalb der OGH der Revision der Kl Folge gegeben hat.