94

Keine Individualisierung des Arbeitskilokalorienverbrauches nach Körpergewicht oder Alter zur Beurteilung von Schwerarbeit

ALEXANDERDE BRITO
§ 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV

Gerade die auf die körperliche Konstitution abstellende Ermittlung des individuellen Kalorienverbrauchs führt zu einer Ungleichbehandlung: Größere, schwere Menschen (mit uU eingeschränkter Kondition) würden aufgrund ihres erhöhten Kalorienverbrauchs gegenüber kleineren, leichtgewichtigeren („fitteren“) Personen bevorzugt.

SACHVERHALT

Der am 16.12.1955 geborene, 110 kg schwere Kl betrieb von 1.1.1996 bis 30.6.2016 als selbstständiger Einzelunternehmer eine Tankstelle. Dabei war er auch als Gefahrengutlenker zum Transport und zur Auslieferung von Heizöl sowie Diesel im Nahverkehr und als Tankwart tätig. Der Kl stellte Diesel und Heizöle mit einem von ihm gelenkten Lkw an seine Kunden zu. An fünf Tagen die Woche hatte er von 18:00 Uhr bis 22:00 Uhr Bereitschaftsdienst. Der Kl musste seine Wohnung verlassen, um Kunden zu helfen, wenn dies notwendig war. Dafür musste er hin und zurück jeweils 36 Stufen überwinden und verbrauchte dabei insgesamt 18 Arbeitskilokalorien. Wie oft er dies tun musste, ist nicht feststellbar.

Ohne das Überwinden der Stufen verbrauchte der Kl durchschnittlich bei einem 11,5 Stunden-Tag 1.556 Arbeitskilokalorien pro Arbeitstag. Der Kl stellte einen Antrag auf Zuerkennung einer Schwerarbeitspension.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die bekl Sozialversicherungsanstalt für gewerbliche Wirtschaft stellt mit Bescheid fest, dass von 1.1.1996 bis 30.6.2016 keine Schwerarbeitszeiten vorliegen.

Mit seiner Klage begehrt der Kl die Feststellung der Zeiten als Schwerarbeitszeiten. Dabei strebt er die individuelle, sein Alter von 62 Jahren und sein Körpergewicht von 110 kg berücksichtigende Berechnung des Kalorienverbrauchs an.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kl habe im relevanten Zeitraum nicht zumindest an 15 Tagen im Monat mindestens 2.000 Arbeitskilokalorien pro Tag verbraucht.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl Folge und hob das Urteil des Erstgerichts zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Für die Beurteilung von Schwerarbeitszeiten sei nach der Rsp auf die konkrete Ausgestaltung der vom Versicherten im relevanten Zeitraum verrichteten Tätigkeit abzustellen. Somit sei auf individuelle Umstände einzugehen. Aus der Judikatur des VfGH lasse sich ableiten, dass auf individuelle Umstände – konkrete körperliche Eigenschaft und Alter – abzustellen sei, wenn die durch das Abstellen auf typisierte Berufstätigkeiten abstellende Durchschnittsbetrachtung zu keinem objektiv richtigen Ergebnis führe. Die von der SchwerarbeitsV auch geforderte pauschale oder durchschnittliche Betrachtungsweise werde dadurch gewährt, dass das jeweils beim Kl gegebene Körpergewicht und sein jeweiliges Lebensalter in solche Abschnitte zusammengefasst werden könnten, in denen diese Parameter keine wesentlichen Auswirkungen auf den Tages-Arbeitsenergiesatz des Kl gehabt hätten. Es müsse daher versucht werden, in einem geeigneten Gutachten auf die individuellen körperlichen Eigenschaften des Kl (Alter, Gewicht) Bedacht zu nehmen. Die Revision sei zuzulassen, weil sich diese Ansicht des Berufungsgerichts nicht auf die höchstgerichtliche Judikatur stützen könne.

Dem Rekurs der Bekl wurde vom OGH stattgegeben und das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1.1 Als Tätigkeiten, die unter körperlich oder psychisch besonders belastenden Bedingungen erbracht werden, gelten alle Tätigkeiten, die geleistet werden als schwere körperliche Arbeit,151 die dann vorliegt, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8.374 Arbeitskilojoule (2.000 Arbeitskilokalorien) und von Frauen mindestens 5.862 Arbeitskilojoule (1.400 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden. […]

1.2 Ob eine bestimmte Tätigkeit als schwere körperliche Arbeit iSd § 1 Abs 1 Z 4 gilt, ist nach § 3 SchwerarbeitsV nach den in der Anlage zu dieser Verordnung festgeschriebenen Grundsätzen festzustellen.

1.3 Nach Punkt 2.2 dieser Anlage […] erfolgte die Einstufung von beruflichen Tätigkeiten als ‚energetische Schwerarbeit‘ nach folgenden Grundsätzen: Die Arbeitsenergieumsatz-Richtwerte werden nach arbeitsmedizinischen Standards ermittelt. Auf dieser Grundlage werden Tätigkeitsbeschreibungen mit ihren Joule-Verbrauchswerten erstellt und hinsichtlich ihrer Dimensionen umgerechnet. Schließlich wird geprüft, ob durch die mit einem bestimmten Beruf verbundenen Tätigkeiten (Tätigkeitsbilder) die vorgegebene Kilojoulegrenze pro Tag erreicht oder überschritten wird.

2.1 Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in der SchwerarbeitsV gewählte ‚Energieumsatzmethode‘ […] bestehen nach dem […] Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 6.10.2011, G 20/11 ua, V 13/11 ua, nicht. Nach diesem Erkenntnis spricht gerade die Tatsache, dass die täglichen Arbeitsabläufe der Vergangenheit nicht einmal annähernd dargestellt werden könnten, für die Heranziehung einer Durchschnittsbetrachtung. Es ist nämlich in der Praxis unmöglich, bei der Beurteilung des Arbeitskalorienverbrauchs bei jeder einzelnen Person die subjektive Beschaffenheit (zB Körpergewicht) und sonstige Faktoren (zB Arbeitsgeschwindigkeit, Geschicklichkeit, Arbeitsbedingungen) mit der Arbeitsleistung in Relation zu setzen. […]

2.3 […] Gerade die auf die körperliche Konstitution abstellende Ermittlung des individuellen Kalorienverbrauchs führt zu einer Ungleichbehandlung: größere, schwere Menschen (mit unter Umständen eingeschränkter Kondition) würden aufgrund ihres erhöhten Kalorienverbrauchs gegenüber kleineren, leichtgewichtigeren (‚fitteren‘) Personen bevorzugt. Die Ermittlung des – in manchen Fällen stark schwankenden – Körpergewichts über einen langjährigen Zeitraum widerspricht zudem dem Ziel des Gesetzgebers, die Beurteilung von Schwerarbeit durch allgemeine Richtlinien und Orientierungen zu vereinfachen und in der Praxis für den Regelfall damit überhaupt zu ermöglichen.

3. Im vorliegenden Fall wurde, wie vom Obersten Gerichtshof gefordert […], die konkrete Ausgestaltung der vom Kläger im maßgebenden Zeitraum verrichteten Tätigkeit festgestellt. Der berufskundige Sachverständige berücksichtigte in seinem Gutachten die konkrete Tätigkeitsbeschreibung durch den Kläger und ermittelte auf dieser Basis nach Körperstellung und Art der Arbeit sowie Arbeitspausen bzw Leerzeiten den durchschnittlichen Arbeitskilokalorienverbrauch, ohne den konkreten tatsächlichen Kalorienverbrauch aufgrund körperlicher Konstitution zu ermitteln. Das Erstgericht hat den durchschnittlichen Kilokalorienverbrauch auf Basis dieses Gutachtens festgestellt. Seine – Faktoren wie Körpergewicht und Alter des Klägers nicht einbeziehende – Beurteilung ist zulässig. Nach dem festgestellten Sachverhalt ist dem Kläger der im Einzelfall zulässige Nachweis, dass er aufgrund seiner konkreten Tätigkeit die in § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV geforderten Grenzwerte erreicht hat, nicht gelungen […].“

ERLÄUTERUNG

Schwerarbeit gem § 1 Abs 1 Z 4 SchwerarbeitsV liegt vor, wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 2.000 Arbeitskilokalorien bzw von Frauen 1.400 Arbeitskilokalorien verbraucht werden. Die „Methode“ der Feststellung ist – eher allgemein – in einer Anlage zur Verordnung geregelt; diese sogenannte Energieumsatzmethode in Form einer Durchschnittsbetrachtung, bei der einzelne Teiltätigkeiten in einer Matrix zusammengefasst werden, und so der Kalorienverbrauch ermittelt wird, wurde vom VfGH als verfassungsgemäß beurteilt. Im Einzelfall ist der Beweis eines höheren Kalorienverbrauchs nach der Judikatur zulässig – etwa bei besonders schweren Tätigkeiten oder einem mehr als achtstündigen Arbeitstag.

Überraschend an diesem Fall ist weniger die E des OGH, sondern die in zweiter Instanz zugelassene ordentliche Revision. Die vom OGH wiederhergestellte E des Erstgerichtes basiert auf der unter Pkt. 2.1. angeführten eindeutigen E des VfGH. Das OLG hat in seinem Aufhebungsbeschluss dem Erstgericht aufgetragen, durch ein „geeignetes“ Gutachten auf die jeweiligen individuellen körperlichen Eigenschaften des Kl (Alter, Gewicht) Bedacht zu nehmen – ohne Hinweise zu geben, welches Fachgebiet das sein sollte. Entsprechend rätselhaft erscheint auch die Formulierung, dass die von der SchwerarbeitsV auch geforderte pauschale oder durchschnittliche Betrachtungsweise ohne weiteres dadurch gewährt werde, dass das jeweils beim Kl gegebene Körpergewicht und sein jeweiliges Lebensalter in solche Abschnitte zusammengefasst werden könnten, in denen diese Parameter keine wesentlichen Auswirkungen auf den Tages-Arbeitsenergiesatz des Kl gehabt hätten.152