Vaughan-Whitehead (Hrsg)Reducing Inequalities in Europe – How Industrial Relations and Labour Policies Can Close the Gap

Edward Elgar Publishing Ltd., Cheltenham 2018 XXI, 612 Seiten, € 140,–

MIRIAMKULLMANN (WIEN)

Schon die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat im Jahr 2015 festgestellt, dass „beyond its serious impact on social cohesion, high and often growing inequality raises major economic concerns, not just for the low earners themselves but for the wider health and sustainability of our economies“. Put simply: rising inequality is bad for long-term growth“ (OECD, In It Together: Why Less Inequality Beneftis All [2015] 22). Das erfordert zB eine Umverteilung über die Einkommensteuer. Welche Maßnahmen seitens verschiedener nationaler Sozialpartner getroffen wurden, um insb Einkommensungleichheit zu begrenzen oder zu reduzieren, werden in Daniel Vaughan-Whiteheads Sammelband, der in Zusammenarbeit mit der ILO erstellt wurde, dargestellt.

Die Autoren, die einen ökonomischen, soziologischen oder sozialpolitischen Hintergrund haben, der verschiedenen Länder (Baltische Staaten, Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Schweden, Slowenien, Spanien und das Vereinigte Königreich) haben sich ua mit der Frage befasst, welche Länder erfolgreich Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchgeführt haben, ohne weitere Ungleichheiten zu verursachen. Zudem wollte man wissen, welche Art von Systemen der Arbeitsbeziehungen in dieser Hinsicht besser zu funktionieren scheinen sowie welche Art von politischen Maßnahmen, Institutionen und AkteurInnen, insb die SozialpartnerInnen und die Kollektivverhandlungen, eine entscheidende Rolle spielen, um ausgewogenere Ergebnisse zu erzielen. Letzteres ist insb im Hinblick auf künftige Arbeitsweltveränderungen interessant.

Da eine ausführlichere Besprechung der genannten Fragen den Rahmen sprengen würde, werden die (statistisch belegten) Ergebnisse der Studie kurz zusammengefasst. Dort wo eine Erosion von Kollektivverhandlungen verzeichnet wurde, ist, oft in Zusammenhang mit Arbeitsmarktreformen ohne Mitwirken der Tarifpartner, gleichzeitig der Niedriglohnsektor gewachsen. Beispielhaft ist die Einführung der Minijobs in Deutschland (wo es bis 2015 keinen gesetzlichen Mindestlohn gab) in den siebziger Jahren und in den Niederlanden, wo Mitte der neunziger Jahre die SozialpartnerInnen – auf Druck der Regierung – die Löhne in Kollektivverträgen in Richtung des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt haben. Laut Studie stellen Mindestlöhne (gesetzliche und kollektivvertraglich vereinbarte) eine Lohnuntergrenze dar, die die Einkommens ungleichheit beschränkt, jedoch nur in Kombination mit Kollektivverhandlungen (der in 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn in Deutschland beabsichtigt die Tarifautonomie zu stärken). Kollektivverhandlungen finden allerdings auf verschiedenen Ebenen statt, weshalb es unterschiedliche Lohnuntergrenzen gibt. Dies scheint aber aufgrund der Lohnkomprimierung wenig problematisch zu sein, sofern nicht allzu viele Ausnahmen und Abweichungen von den allgemeinen Regeln geschaffen werden, die diese Art der Koordinierung beeinflussen (in den Niederlanden beinhalten einige Unternehmenstarifverträge Boni für hochrangige AN, wodurch Lohnunterschiede zu anderen AN vergrößert werden). Positiv wirken sich Kollektivverhandlungen (mit mehreren AG) auf AN-Gruppen aus, die generell unterrepräsentiert sind und deren Verhandlungsposition oftmals schwächer ist, wie zB Frauen, MigrantInnen und junge oder jugendliche AN. Gleiches trifft allerdings auf Vereinbarungen mit einzelnen AG nicht zu. Vielversprechend sind auch die möglichen Auswirkungen auf die Arbeitszeitverteilung, Überstundenvergütungen und generell die Bezahlung für geleistete Arbeit. Was das verfügbare Haushaltseinkommen betrifft, kann festgehalten werden, dass SozialpartnerInnen, dort wo diese einen gewissen Spielraum, dh direkt über Kollektivverhandlungen oder indirekt über mögliche Einflussnahme auf Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, haben, der Einkommensungleichheit entgegenwirken können (zB in Frankreich und Belgien).

Trotz des Potenzials, das in den SozialpartnerInnen bzw in ihren Kollektivverhandlungen steckt, darf laut Studie die Rolle des Staates nicht vergessen werden. Erstens ist es der Staat, der Gesetze erlassen und dadurch Kollektivverhandlungen und den sozialen Dialog unterstützen kann. Zweitens, weil es der Staat ist, der Mechanismen entwickelt, wodurch Kollektivverträge auch jene AN erfassen können, die bei den Verhandlungen außer Acht gelassen werden. Die Wirksamkeit der Kollektivverhandlungen und des sozialen Dialogs bei der Bekämpfung von Einkommensungleichheit hängt von der staatlichen Unterstützung ab (zB Schweden durch Einführung von Weiterbildungsmöglichkeiten für AN).

Wie bereits erwähnt, bemängelt die OECD die wirtschaftlichen Nachteile der wachsenden Einkommensungleichheit. Da, wie diese Studie zeigt, Kollektivverhandlungen wirksam dazu beitragen können, diese Ungleichheit zu begrenzen oder zu reduzieren, ist eine Aufrechterhaltung, wenn nicht sogar Stärkung dieser Institution, zu befürworten. Eine in einigen Ländern durchgeführte Schwächung der Kollektivverhandlungen und des sozialen Dialogs hat nicht, wie anfänglich prognostiziert wurde, zu einem Wirtschaftswachstum beigetragen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Einkommensungleichheit ist sogar gestiegen. Für Gewerkschaften gilt es, neue Wege und Strategien zu erarbeiten, um den verschiedenen Entwicklungen in der Arbeitswelt, ua das Wachsen atypischer Beschäftigungsformen sowie die vermehrte Inanspruchnahme von Subunternehmen, entgegenzuwirken. Nicht nur AN profitieren von Kollektivverhandlungen, sondern auch AG, indem sie Flexibilitäts- und Sicherheitskonzepte beeinflussen können.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass dieser sehr ausführliche Sammelband auch für Arbeitsrechtsjuris tInnen interessante (empirische) Einblicke verschafft, in die Rolle der SozialpartnerInnen, der Kollektivverhandlungen sowie den sozialen Dialog und deren Potenzial 466 erfolgreich Einkommensungleichheiten entgegenzuwirken. Aus juristischer Sicht sind die Einblicke, die diese Studie verschafft, relevant, geben sie doch darüber Klarheit, wie sich gesetzliche Regelungen in der Praxis auswirken (können) und wie sie möglicherweise gestaltet werden sollten, um die angedachten Ergebnisse erreichen zu können. Aus praktischer Sicht verständlich, dennoch aber schade, ist, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten in diesem Sammelband vertreten sind. Wissenschaftlich und praktisch wäre das mE sinnvoll gewesen, da es trotz der europarechtlichen Auswirkungen auf die nationalen Rechtssysteme immer noch große wirtschaftliche und arbeits- und sozialrechtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gibt.