Arbeitsrechtslehre und Arbeitsrechtswissenschaft in der Zwischenkriegszeit an der Universität Wien

 KAMILASTAUDIGL-CIECHOWICZ (WIEN)

Der aktuelle Studienplan der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät aus 2017 sieht das Fach „Arbeitsrecht und Sozialrecht“ als Pflichtmodul im Umfang von 14 ECTS-Punkten mit einer mündlichen Prüfung als eines der Fächer des judiziellen Abschnittes vor.* Ein Blick in die Vergangenheit des rechtswissenschaftlichen Studiums zeigt, dass es sich beim Fach „Arbeitsrecht und Sozialrecht“ um eines der jüngeren Fächer handelt – obschon arbeits- und sozialrechtliche Aspekte viele Jahrzehnte vor der Etablierung des eigenständigen Faches an der juridischen Fakultät unterrichtet wurden, was hier anhand der Entwicklung in der Zwischenkriegszeit dargestellt werden soll.

1.
Das Arbeitsrecht bis zum Zusammenbruch der Monarchie – die Ausgangslage

Bereits in der vorindustriellen Zeit existierten zahlreiche zum Teil zersplitterte Rechtquellen, die arbeitsrechtliche Bestimmungen für bestimmte Berufsgruppen enthielten. Viele von ihnen gingen zunächst von Zünften aus, später reglementierte der Obrigkeitsstaat des 16. Jahrhunderts manche arbeits- und sozialrechtlichen Bereiche. Zwar handelte es sich bei den Bestimmungen nicht per se um Arbeitsschutznormen, doch legten sie bestimmte Grenzen für die Ausgestaltung der einzelnen Arbeitsverträge fest.* Allgemeine arbeitsrechtliche Normen subsidiärer Natur fehlten hingegen. Eine grundlegende Veränderung erfolgte in der Epoche der Industrialisierung und wirtschaftlichen Liberalisierung. Während bis dahin kleinere Gewerbebetriebe die Regel darstellten, kamen mit den großen Manufakturen und Fabriken neue Herausforderungen auf die Arbeitnehmerschaft zu. Die ArbeiterInnen mutierten in den Fabrikhallen zur anonymen Masse, die sich zunächst mangels entsprechender Schutzvorschriften kaum vor der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft schützen konnte. Hinzu kam, dass diese Personenkreise kaum eine politische Vertretung im österreichischen Parlament besaßen – viele von ihnen erfüllten die auf Steuer und Grundbesitz basierenden Voraussetzungen des Wahlrechts in das österreichische Abgeordnetenhaus nicht und konnten folglich die politische Landschaft nicht mitgestalten. Die im ABGB vorhandenen Normen zum „Lohnvertrag“ – also Dienstvertrag und Werkvertrag – basierten auf dem Gedanken der Vertragsfreiheit der gleichberechtigten Vertragsparteien, mussten der wirtschaftlich und sozial unterlegenen Arbeiterschaft wohl wie eine Farce erscheinen. Schleppend erfolgte die Einführung von Schutzvorschriften für die Arbeiterschaft, mehrere Jahrzehnte vergingen bis grundlegende Schutzmaßnahmen beschlossen wurden. Beginnend mit dem Koalitionsgesetz 1870, das zumindest in Theorie der Arbeiterschaft die Koalitionsfreiheit sicherte,* wurden 1879 Gewerbeinspektoren eingeführt, welche die neuen Arbeitsschutzvorschriften zu überwachen hatten. Vor allem die zweite Gewerbenovelle aus 1885 führte nicht nur maßgebliche Bestimmungen zur Arbeitszeit und Beendigung des Arbeitsverhältnisses, sondern insb auch Schutzvorschriften für Frauen- und Jugendarbeit ein.* Dem deutschen Vorbild folgend wurde für ArbeiterInnen vieler Sparten in den späten 1880er-Jahren verpflichtende KV und UV eingeführt.* Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Arbeitsbeirat eingerichtet, der sich aus „Regierungsvertretern, Fachmännern der Sozialpolitik sowie Delegierten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen“ zusammensetzte und die Aufgabe hatte „Vorschläge und Gutachten auf sozialpolitischem Gebiete zu erstatten“.*

Gleichzeitig formierten sich Gewerkschaften, die zwar zunächst ein sehr eingeschränktes Tätigkeitsfeld hatten, aber eine „bestimmende Rolle [...] beim Abschluß von Tarifverträgen* also „Übereinkommen zwischen einer Mehrheit von Unternehmern auf der einen und von Arbeitnehmern auf der anderen Seite, welche die Bedingungen des Arbeitsverhältnisses (meist branchenweise) regel[te]n, und zwar meist unter Schaffung gemeinsamer Organe zur einheitlicher Auslegung und gemeinsamen Überwachung der Vertragsdurchführung“.* Besondere Erwähnung verdient auch das Handlungsgehilfengesetz aus 1910.* Mit diesem Gesetz ging „Österreich anderen Ländern richtungsgebend“ voraus, es ist „als bedeutsamer Versuch einer modernen Dienstvertragskodifikation zu werten“.*549

Gegensätzliche Tendenzen lassen sich für die Periode des Ersten Weltkrieges feststellen. Zum einen wurden manche Arbeitsschutzbestimmungen suspendiert, um die Kriegsproduktion zu fördern, zum anderen wurde die soziale Gesetzgebung – wenn auch in sehr geringem Umfang – weiterhin verfolgt, so finden sich in den Teilnovellen zum ABGB beispielsweise arbeitsrechtliche Neuerungen. 1917 erfolgte die Gründung eines eigenen zuständigen Ministeriums – des Ministeriums für soziale Fürsorge.* Im Vergleich zum Deutschen Reich blieb Österreich in dieser Zeit hinter den arbeits- und sozialrechtlichen Entwicklungen im Deutschen Reich zurück. Entscheidend für diesen Umstand war ua die Konzentration der Sozialdemokratie – die seit den 1880er-Jahren immer mehr an Bedeutung erlangte – auf den Kampf um das allgemeine Männerwahlrecht. Aufschwung bekam die Materie durch die Internationalisierung des Arbeitsrechts, es wurden internationale Arbeiterschutzkonferenzen veranstaltet, auch die katholische Kirche lenkte mit der Enzyklika von Papst Leo XIII. „Rerum novarum“ auf die Arbeiterfrage ein und 1900 wurde schließlich in Paris die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz gegründet.* Auf die Arbeit der Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz gehen zwei internationale Abkommen, die von Österreich ratifiziert wurden, zurück: das Übereinkommen betreffend das Verbot der Nachtarbeit der in der Industrie beschäftigten Frauen* und das auf einem internationalen Übereinkommen basierende Gesetz betreffend die Herstellung von Zündhölzchen und anderen Zündwaren.*

2.
Arbeitsrecht in der Zwischenkriegszeit

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es zu einem Aufschwung gar einer „gewaltigen[n] Evolution der Sozialgesetzgebung“.* Die Arbeiterschaft als „Machtfaktor“ konnte nicht mehr ignoriert werden.* Hinzu kam die Angst vor dem Kommunismus, so dass die Sozialpolitik „als ein Heilmittel [angesehen wurde], das zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in hohem Grade beizutragen vermochte“.* In der jungen Republik Deutschösterreich begann man noch im Herbst 1918 mit der Abarbeitung der sozialpolitischen Rückstände. Zuständig für diesen Bereich war das sozialdemokratische Regierungsmitglied Ferdinand Hanusch, der sich in seiner zweijährigen Tätigkeit besonders um die Verbesserung des Arbeits- und Sozialrechts verdient machte. Zu seinen wichtigsten ersten Reformen zählten die „Einführung einer geregelten Arbeitslosenfürsorge und [die] gesetzliche Festlegung des Achtstundentages* – diese Schutzmaßnahmen wurden noch bis Ende 1918 (zunächst als Provisorium) eingeführt, darüber hinaus initiierte Hanusch das Kinderarbeitsgesetz 1918 und das Heimarbeitsgesetz 1918. 1919 setzte Hanusch seine Reformtätigkeit fort – „[h]iebei wurde allen Zweigen des Sozialrechtes eine entsprechende Ausgestaltung zuteil“.* Als Beispiele seien hier nur das Arbeiterurlaubsgesetz 1919, das Journalistengesetz 1920 und das Hausgehilfengesetz 1920 zu nennen. Bedeutende Errungenschaften hatte auch das Arbeitsverfassungsrecht zu verzeichnen: 1919 wurde die Institution der Betriebsräte eingeführt, 1920 in allen Bundesländern Kammern für ArbeiterInnen und Angestellte errichtet. Nach den Nationalratswahlen 1920 gingen die Sozialdemokraten in Opposition, die christlichsozialen Sozialminister führten den Ausbau der Sozialpolitik fort: So wurde 1921 das Angestelltengesetz beschlossen, das „sozialrechtlichen Schutz der Angestellten* brachte, eine Vorreiterrolle übernahm Österreich mit dem „bahnbrechenden“ Regelwerk zum Bühnendienstvertrag – dem Schauspielergesetz aus 1922. Gestärkt wurden die Position und die Kompetenzen der Gewerbeinspektoren, auch der Lehrlingsschutz wurde verbessert. Ende 1926 erfolgte die Vereinheitlichung der Angestelltenversicherung, im Jahr darauf wurde das Arbeiterversicherungsgesetz beschlossen, jedoch mit verzögertem Wirksamkeitsbeginn. Über 20 Novellen verzeichnete das Arbeitslosengesetz zwischen 1920 und 1929, ein Umstand, der auf die prekäre wirtschaftliche Lage Österreichs und die notwendigen Steuerungsmaßnahmen zurückzuführen ist. Auch in der Landesgesetzgebung finden sich sozialrechtliche Projekte, so insb die zwischen 1921 und 1926 erlassenen Landarbeiterordnungen.

Mit der Ausschaltung des Nationalrates und der darauf folgenden Etablierung des autoritären, austrofaschistischen Staates ging zunächst eine Rücknahme arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften wie auch Eingriffe in bereits bestehende Dienstverhältnisse bestimmter Berufsgruppen einher.* Besonders Bundesbedienstete waren von vielen Einschränkungen ihrer ursprünglichen dienstrechtlichen Position betroffen, verheiratete weibliche Bundesbedienstete mussten gar bei ausreichendem Familieneinkommen ihren Arbeitsplatz aufgeben. Auch Beschäftigte der Bundesbahnen und Banken erfuhren eine Schlechterstellung. Manche Bestimmungen waren primär politischer Natur und sollten sozialdemokratisch geprägte Organe ausschalten bzw umpolen. In diesen Bereich fielen insb die Änderungen in der Struktur der Arbeiterkammern. Diese demokratisch organisierten Institutionen wurden nun nach dem autoritären Prinzip umgestaltet, hinzu kam eine verstärkte Kontrolle durch den Sozialminister. Ebenfalls politisch motiviert550 war die Reform des Diensteides der BundesbeamtInnen, diese hatten einen Treueid auf die Regierung zu leisten, bei Weigerung drohte der Amtsverlust.*

Verschärft wurden die politisch motivierten Maßnahmen nach dem sogenannten Schutzbundaufstand 1934 und dem daraus resultierenden Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Mit der Auflösung der sozialdemokratischen Organe erfolgte auch die Auflösung der Gewerkschaften. Im März 1934 wurde eine Einheitsgewerkschaft im Verordnungsweg geschaffen,* der Gewerkschaftsbund der österreichischen ArbeiterInnen und Angestellten, der seine „Aufgaben in christlichem, vaterländischem und sozialem Geist mit Ausschluss jeder parteipolitischen Tätigkeit zu erfüllen* hatte. Sozialdemokratische BetriebsrätInnen mussten ihre Funktion aufgeben, das Betriebsratsgesetz selbst wurde durch das Bundesgesetz über Errichtung von Werksgemeinschaften ersetzt. Dadurch wurde der Begriff „Betriebsrat“ zwar eliminiert, doch die materielle Rechtslage nicht grundlegend verändert.* Die Aufgaben der Betriebsräte übernahmen sogenannte Vertrauensmänner, die jedoch keine wirtschaftlichen Mitwirkungsbefugnisse genossen.* Es wurden verschiedene Möglichkeiten geschaffen, politisch unliebsame Personen aus dem Bundesdienst, aber auch – unter bestimmten Voraussetzungen – aus nicht-öffentlichen Arbeitsverhältnissen zu entfernen. Als offizieller Grund wurde zumeist die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung angegeben. Neben diesen politischen Bestimmungen finden sich im Austrofaschismus allerdings auch „nicht politische“ Reformen, die manche Bereiche des Arbeits- und Sozialrechts stärkten, so beispielsweise das Vertragsbedienstetengesetz 1934 und das Kautionsschutzgesetz 1937.

Einen bedeutenden Einfluss an der Fortführung der Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit in Europa hatte insb die International Labour Organization (ILO). Sie war als Bestandteil der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen worden und veranstaltete regelmäßige Arbeitskonferenzen, bei denen wichtige Aspekte in Konventionen festgehalten wurden. Viele der sozialpolitischen Gesetzesprojekte basierten auf der Umsetzung der Konventionen der ILO in das nationale Recht.

3.
Das Arbeitsrecht und Sozialrecht im Rechts- und Staatswissenschaftlichen Studium

Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie brachte zwar für die österreichische Universitätslandschaft große Veränderungen – von acht cisleithanischen Universitäten blieben Deutschösterreich nur noch drei, was bis dahin typische universitäre Karrierestationen mit einem Schlag unmöglich machte* – doch auf der rechtlichen Ebene änderte sich zunächst wenig. Sowohl die Organisation der Universitäten als auch die rechts- und staatswissenschaftliche Studienordnung wurde von der Monarchie beibehalten. Als große Neuerungen waren jedoch seit 1919 die Zulassung von Frauen zum Studium der Rechtswissenschaften und die Schaffung des neuen Studiums der Staatswissenschaften – ebenfalls 1919 – zu verzeichnen. Für das Studium der Rechtswissenschaften war bis 1935 die Studienordnung aus 1893 maßgeblich. Während die Studienordnung die Studienfächer näher definierte und auch die Prüfungsfächer für die Staatsprüfungen, die zum Eintritt in den öffentlichen Dienst berechtigten, normierte, setzte die Rigorosenordnung aus 1872 die Voraussetzungen für die Erlangung des Doktorgrades fest.

Weder in der Studienordnung 1893 noch in der Rigorosenordnung 1872 kommt der Begriff „Arbeitsrecht“ vor. Aus den Vorlesungsverzeichnissen ergibt sich, dass zuweilen Speziallehrveranstaltungen zu arbeitsrechtlichen Fragen unter dem Abschnitt „Bürgerliches Recht“ angeboten wurden, so beispielsweise im Sommersemester 1917 die Vorlesung des Privatdozenten Arthur Lenhoff „Österreichisches Arbeitsvertragsrecht (unter besonderer Berücksichtigung der Zivilgesetznovellen)“. Inwiefern arbeitsrechtliche Aspekte, die über die im ABGB verankerten Lohnverträge hinausgingen, bei dem Rigorosum aus österreichischem Zivilrecht oder der judiziellen Staatsprüfung geprüft wurden, lässt sich nicht feststellen. Öffentlich-rechtliche Aspekte arbeits- und sozialrechtlicher Natur dürften hingegen in den Prüfungsstoff des Österreichischen Verwaltungsrechts gefallen sein – so insb Fragen der UV und KV der ArbeiterInen.*

In der Republik nahm die Bedeutung des Arbeits- und Sozialrechts in der juristischen Ausbildung an Bedeutung zu. Dieser Umstand ist wohl einerseits auf die langsame Anpassung des Vorlesungsbetriebes an die tatsächlichen Entwicklungen des Rechtes und die schrittweise erfolgten Reformen zurückzuführen, andererseits hing die stärkere Berücksichtigung arbeits- und sozialrechtlicher Themen mit dem Aufschwung dieser Gebiete im Bereich der österreichischen Rechtssetzung der Zwischenkriegszeit zusammen. In diesem Sinne berichtete auch im April 1925 die Tageszeitung Reichspost über die Einführung von regulären Vorlesungen über soziales Recht an der Wiener Universität und stellte dabei fest, dass der „außerordentliche Fortschritt der sozialpolitischen Gesetzgebung in der Nachkriegszeit [...] dazu geführt551 [habe], daß an den Hochschulen des Auslandes vor allem im Deutschen Reiche, ständige Vorlesungen über die einschlägigen Rechtsmaterien (Arbeitsrecht, Sozialversicherung usw.) gehalten werden“.* Die Notwendigkeit einer intensiveren Auseinandersetzung mit den „Normen des sozialen Verwaltungsrechts [also:] Sozialversicherung, Arbeiterschutzgesetzgebung, Heimarbeitsrecht, Erwerbslosenfürsorge und Arbeitsvermittlung, Jugend-Armen- und Kriegsbeschädigtenfürsorge, Wohnungs- und Siedlungswesen einschliesslich des Wohnungsanforderungsrechtes* erkannte auch das Professorenkollegium der Wiener juridischen Fakultät 1923. Ein von Adolf Menzel und Othmar Spann initiierter Antrag, jedes Wintersemester eine eigens bezahlte Vorlesung aus „Sozialem Verwaltungsrecht“ durch Friedrich Hawelka zu organisieren, wurde im Unterrichtsministerium eingebracht und im Sommer 1923 bewilligt. Hawelka nahm seine Vorlesungstätigkeit zum sozialen Verwaltungsrecht mit dem Wintersemester 1923/24 auf. Einen Aufschwung erlebte das Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien durch das neue Studium der Staatswissenschaften. Dieses war 1919 eingerichtet worden und sah einen Abschluss mit dem „rein wissenschaftlichen Grad ‚Dr. rer. pol‘ [vor], der allerdings nicht zum Eintritt in den Staatsdienst befähigte“.* Als die Studienordnung 1926 novelliert und das Studium von einem sechssemestrigen auf ein achtsemestriges ausgebaut wurde, erfolgte gleichzeitig eine Erweiterung des Fächerkanons.* Als eines der neuen Fächer kam „Sozialpolitik und Arbeitsrecht“ hinzu, Studierende waren verpflichtet, mehrere Lehrveranstaltungen aus diesem Gebiet zu absolvieren, bei den beiden Rigorosen hingegen wurde es nicht geprüft. Auf den Vorlesungsbetrieb wirkte sich diese Änderung der staatswissenschaftlichen Studienordnung äußerst günstig aus. Während zwischen 1923 und 1926 meist nur zwei bis drei Lehrveranstaltungen aus arbeits- und sozialrechtlichen Themenkreisen pro Semester angeboten wurden, steigerte sich ab dem Wintersemester 1926/27 die Anzahl der arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Vorlesungen graduell – zwischen dem Sommersemester 1928 und dem Wintersemester 1933/34 fiel die Anzahl der entsprechenden Lehrveranstaltungen nie unter fünf, im Sommersemester 1933 konnten gar acht Lehrveranstaltungen mit insgesamt 16 Semesterstunden aus dem Gebiet des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik besucht werden. Freilich lässt sich nicht eruieren, inwiefern diese Lehrveranstaltungen auch tatsächlich abgehalten wurden oder mangels HörerInnen wieder abgesagt werden mussten.

Während nun das Arbeitsrecht ein explizites Fach im staatswissenschaftlichen Studium war, konnten zwar auch Studierende der Rechtswissenschaften Lehrveranstaltungen aus arbeits- und sozialrechtlichen Themen besuchen und wurden wohl vereinzelt im Rahmen der Prüfungen aus bürgerlichem Recht und aus Verwaltungslehre und österreichischen Verwaltungsrecht auch arbeits- und sozialrechtliche Aspekte geprüft, trotzdem schien das Arbeits- und Sozialrecht nirgends als explizites (Prüfungs-)Fach auf. Das sollte sich 1935 mit der neuen juristischen Studienordnung ändern. Reformversuche der rechts- und staatswissenschaftlichen Studienordnung aus 1893 waren noch zu Zeiten der Monarchie immer wieder gestartet und schlussendlich gescheitert.* Auch für die Republik liegen mehrere Reformvorschläge vor. Während ein 1928/29 ausgearbeiteter Vorschlag nach wie vor kein Arbeits- und Sozialrecht, dafür aber ein dreistündiges Fach „Sozialpolitik“ vorsah, finden sich diese Fächer im Vorschlag aus 1931. Dieser nannte zunächst im judiziellen Abschnitt Arbeitsrecht explizit als Teilgebiet des Privatrechts („Privatrecht einschließlich Arbeitsrecht“) und sah im staatswissenschaftlichen dritten Abschnitt des rechtswissenschaftlichen Studiums ein zweistündiges Fach „Sozialrecht einschließlich Sozialversicherung“ vor.* Der endgültige Studienplan aus 1935 enthielt zwar schlussendlich keine explizite Nennung des Arbeitsrechts, dafür wurde im staatswissenschaftlichen Studienabschnitt das Fach Sozialrecht einschließlich der SV im Ausmaß von zwei Semesterstunden und das Fach Sozialpolitik im Ausmaß von drei Semesterstunden eingeführt. Das gänzliche Außerachtlassen des Arbeitsrechts in der neuen Studienordnung wurde von den Vertretern zivilrechtlicher Fächer kritisiert.* Im Studienalltag änderte die neue Studienordnung die bisherige Praxis der arbeitsrechtlichen Lehrveranstaltungen kaum – wie auch in den vorangegangenen Jahren unterrichtete Arthur Lenhoff jedes Semester eine zweistündige Lehrveranstaltung aus Arbeitsrecht und Robert Bartsch bot jeweils in den Sommersemestern eine Vorlesung zum „Fürsorgewesen II. Teil (vornehmlich vom Standpunkte des bürgerlichen Rechts) mit Übungen“ an.

4.
Das Arbeits- und Sozialrecht im Lehrangebot der Wiener juridischen Fakultät

Die unklare Einordnung des Arbeits- und Sozialrechts in die rechts- und staatswissenschaftliche Studienordnungen spiegelt das Vorlesungsverzeichnis der Jahre 1918 bis 1938 wider. Auffallend ist, dass zunächst keine Lehrveranstaltung zum Arbeitsrecht im Allgemeinen angeboten wurde. Im Sommersemester 1919 wurde lediglich eine thematisch einschlägige Lehrveranstaltung angeboten: eingeordnet in den Bereich „Nationalökonomie552und Volkswirtschaftspolitik“ findet sich die Vorlesung Karl Grünbergs mit dem Titel „Über nationalen und internationalen Arbeiterschutz“. Je nach dem jeweils gewählten Spezialthema lassen sich in der Zwischenkriegszeit im Vorlesungsverzeichnis der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Lehrveranstaltungen zu Arbeitsrecht, Sozialrecht und Sozialpolitik in den Fachabschnitten „Bürgerliches Recht“, „Handelsrecht“, „Volkswirtschaftspolitik“, „Staats- und Verwaltungsrecht“, „Nationalökonomie“ und „Internationales und ausländisches Recht“ finden.

In den ersten Jahren der jungen Republik finden sich nur wenige Lehrveranstaltungen zum Arbeits- und Sozialrecht: So las Albert Ehrenzweig einige Semester lang die einstündige Vorlesung „Sozialversicherung und Privatversicherung in ihren rechtstheoretischen Grundlagen“, Emanuel Adler hielt eine ebenfalls einstündige Lehrveranstaltung zum „Arbeitsvertrag nach österreichischen Recht unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts“, Robert Bartsch behandelte die sozialen Fragen im österreichischen Privatrecht und Eugen Schwiedland – aus dem Bereich der Volkswirtschaftspolitik kommend – beschäftigte sich mit der „Sozialen Frage“. Zwischen 1919 und 1923 gab es nie mehr als drei einschlägige Lehrveranstaltungen pro Semester – die meisten davon einstündig. Gleichzeitig jedoch stieg aufgrund der stetigen arbeits- und sozialrechtlichen Gesetzgebung der frühen republikanischen Jahre der vorzutragende Stoff an. Mit der Schaffung eigens bezahlter Lehrveranstaltungen 1923 etablierte sich bis zum Tod Friedrich Hawelkas eine gewisse Routine im arbeits- und sozialrechtlichen Lehrangebot: Hawelka las zunächst nur die zweistündige Vorlesung zum Sozialen Verwaltungsrecht, ab 1925/26 wurde seine Lehrtätigkeit ausgeweitet. Im Sommersemester hielt er jeweils eine Vorlesung zur Einführung in die soziale Gesetzgebung mit besonderer Berücksichtigung des internationalen Arbeitsrechtes und Übungen aus dem Sozialversicherungsrecht, im Wintersemester hingegen eine Vorlesung zu Arbeitsrecht, eine zur SV (einschließlich AlV) und dazu bot er „Arbeitsrechtliche Übungen“ an. Ergänzend zu Hawelka agierten insb Robert Bartsch, Arthur Lenhoff und Karl Satter. Eine Konstante von 1925 bis zum „Anschluss“ 1938 (und darüber hinaus) waren die sozialrechtlichen Lehrveranstaltungen von Robert Bartsch – im Wintersemester hielt er jeweils die Vorlesung Fürsorgewesen (Einführung in die Theorie und Praxis) mit besonderer Berücksichtigung des bürgerlichen Rechtes, im Sommersemester hingegen Fürsorgewesen II. Teil (vornehmlich vom Standpunkte des bürgerlichen Rechts) mit Übungen. In seiner in den 1950er-Jahren verfassten Selbstdarstellung erinnerte sich Bartsch an die schwierigen Anfänge seiner sozialrechtlichen Lehrveranstaltungen: „Anfangs machte die Fakultät Schwierigkeiten (Dekan Grünberg), weil ich nicht die Lehrbefugnis für alle hier einschlägigen Fächer hätte, ich habe die Vorlesung dann doch gehalten und ich einigte mich auch mit der Fakultät über die Stelle, wo die Vorlesung im Vorlesungsverzeichnis einzureihen wäre. Später habe ich einen Lehrauftrag für eine zweistündige Vorlesung das ganze Jahr hindurch erhalten, die ich regelmäßig im Wintersemester hielt. Im Sommersemester veranstaltete ich Übungen, die in Referaten und Besprechungen über neuere Literatur bestanden.*

Mehrere Wintersemester hinweg kündigte Karl Satter eine einstündige Vorlesung zum internationalen Arbeitsrecht an. Ab 1931 hielt Arthur Lenhoff jedes Semester Übungen aus dem Arbeitsrecht. Die Vorlesung aus Sozialpolitik – einem der neuen Fächer nach der Studienordnung 1935 – hielt jeweils im Sommersemester zunächst Ferdinand Degenfeld-Schonburg und danach Hans Bayer.

Einen kurzfristigen Einbruch erlebten die arbeitsrechtlichen Vorlesungen nach dem Tod Hawelkas im Herbst 1933, bereits wenige Semester später traten Robert Kerber und Helfried Pfeifer seine Nachfolge im arbeits- und sozialrechtlichen Lehrangebot an. Auffallend ist, dass sich in diesen Gebieten kaum Änderungen des Vorlesungsbetriebs nach dem Staatsstreich 1933/34 feststellen lassen.

5.
Die akademischen Arbeitsrechtsexperten an der Universität Wien

Bereits die Vorlesungsverzeichnisse der Zwischenkriegszeit zeigen deutlich, dass im Studium der Rechtswissenschaften das Arbeits- und Sozialrecht zu Beginn der Republik nur einen geringen Stellenwert hatte. Damit korrespondierte auch der Umstand, dass dieses Gebiet – obwohl es als Teil des Prüfungsfaches „Bürgerliches Recht“ verstanden wurde – von keinem Ordinarius des Privatrechts vertreten wurde. Mehrere Privatdozenten spezialisierten sich in der Zwischenkriegszeit in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen, auffallend ist dabei, dass nur einer von ihnen sich ursprünglich bei der Habilitation mit einer arbeits- oder sozialrechtlichen Frage beschäftigt hatte. Arbeits- und sozialrechtliche Themen behandelten vorwiegend Friedrich Hawelka,*Robert Bartsch* und Arthur Lenhoff.* Neben ihren thematischen Schnittpunkten weisen die Lebensläufe dieser drei Juristen auch weitere Parallelen auf – so wurden allen dreien Titularprofessuren verliehen, Hawelka und Lenhoff durften den Titel eines außerordentlichen, Bartsch hingegen eines ordentlichen Professors führen – mit diesen Titeln waren allerdings keinerlei Rechte verbunden.* Sowohl Hawelka553 als auch Bartsch waren mehrere Jahre hindurch am Ministerium für soziale Fürsorge tätig, somit auch bestens mit der Materie aus der Rechtspraxis bewandt. In seinem Nachruf auf Hawelka stellte Adolf Merkl fest, dass „Hawelka mehr oder weniger fast an allen kodifikatorischen Arbeiten sozialpolitischen Inhalts beteiligt [war], die in den gesetzgeberisch so fruchtbaren Jahren der Nachkriegszeit Gesetzeskraft erlangten.* Insb die Entwürfe des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Arbeiterversicherungsgesetzes trugen „seine persönliche Note*. Bartsch hingegen hatte am Schauspielergesetz mitgearbeitet.* Auch Lenhoff war in legistische Projekte involviert – er war Mitglied einer 1937 vom Bundeskanzler Kurt Schuschnigg eingesetzten „Kommission zur Schaffung eines einheitlichen Arbeitsgesetzes“.*

Anders als Hawelka und Bartsch schlug Lenhoff zunächst den Weg in die Privatwirtschaft als Advokat ein. Gemeinsam war Lenhoff und Bartsch, dass sie als Richter an Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts tätig waren: Lenhoff 1930 bis 1933 am VfGH und Bartsch 1922 bis 1939 zunächst am VwGH und nach dessen Auflösung am Bundesgerichtshof. Die unterschiedliche fachliche Zuordnung dieser drei Gelehrten, zeigt deutlich die schwierige Einordnung des Arbeits- und Sozialrechts unter die Kategorien des öffentlichen Rechts und des Privatrechts: Bartsch habilitierte sich 1905 für Deutsches Recht und 1911 für das österreichische bürgerliche Recht, Hawelka erhielt 1911 die Lehrbefugnis für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, Lenhoff habilitierte sich 1916 für österreichisches bürgerliches Recht. Einzig Lenhoff hatte mit seiner Habilitationsschrift „Das Recht des dauernd Angestellten. Eine Abhandlung über den Arbeitsvertrag mit Zeitbestimmung“ ein Werk aus einem arbeitsrechtlichen Gebiet vorzuweisen.* Unabhängig davon wiesen alle drei Juristen ein vielfältiges Schriftenverzeichnis auf, das etliche Abhandlungen zum österreichischen, internationalen und ausländischen Arbeits- und Sozialrecht enthält, aber auch andere Bereiche ihres Fachgebietes abdeckt. Diese Vielseitigkeit zeigt auch ihre Tätigkeit als Hochschullehrer: Lenhoff unterrichtete ua Urheberrecht, Eherecht sowie Grundbuchs- und Hypothekenrecht, Hawelka bot regelmäßig Gewerberecht und Bartsch rechtshistorische Lehrveranstaltungen an.

Als anerkannte Rechtsexperten wirkten Hawelka und Bartsch an binationalen bzw internationalen Projekten aus unterschiedlichen Rechtsgebieten mit. Hawelka vertrat Österreich nicht nur regelmäßig im Internationalen Arbeitsamt des Völkerbundes, sondern war auch bei rechtsvereinheitlichenden Projekten zum österreichischen und deutschen Arbeitsrecht beteiligt.*Bartsch fungierte bei den Rechtsangleichungsprojekten zwischen Österreich und dem Deutschen Reich als Insolvenzrechtsexperte* und Lenhoff publizierte zur deutschösterreichischen Eherechtsangleichung.* Bei der 1927 in Wien stattfindenden internationalen Tagung der Gesellschaft für sozialen Fortschritt fungierte Bartsch als einer der Gastgeber.*

Neben diesen drei Hauptakteuren der arbeits- und sozialrechtlichen Lehrveranstaltungen bereicherten Karl Grünberg, Albert Ehrenzweig, Emanuel Adler, Adolf Merkl, Karl Satter, Ernst Schönbauer, Robert Kerber und Helfried Pfeifer das Lehrangebot.

Mit volkswirtschafts- und sozialpolitischen Themen hingegen beschäftigten sich Eugen Schwiedland, Richard Strigl, Ferdinand Degenfeld-Schonburg, Walter Heinrich, Othmar Spann, Arthur Mahr, Ferdinand Westphalen und Hans Bayer.

6.
Ausblick

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte man im Wesentlichen zur Studienordnung aus 1935 zurück* – folglich sucht man auch hier vergeblich nach dem Arbeitsrecht als selbständigem Fach im juristischen Studium. Diesen Mangel behob erst das Bundesgesetz über das Studium der Rechtswissenschaften aus 1978 – dieses sah nun als eines der Pflichtfächer des zweiten Studienabschnittes das Fach „Arbeitsrecht und Grundzüge des Sozialrechtes“ vor,* diesen Platz sollte das Fach bis zum heutigen Tag an der Universität Wien beibehalten.554