Ingrid Schmidt (Hrsg)Jahrbuch des Arbeitsrechts

Erich Schmidt Verlag, Berlin 2018, 385 Seiten, gebunden, € 148,–

MARTAGLOWACKA (WIEN)

Beim vorliegenden Werk handelt es sich um den 55. Band der Reihe, die von der Präsidentin des deutschen BAG herausgegeben wird und die jüngsten Entwicklungen in Gesetzgebung, Rsp und Fachliteratur jedes Jahr (hier für 2017) dokumentiert. Der erste Teil (ca 100 Seiten) setzt sich aus vier knappen, jedoch überaus prägnanten Abhandlungen zusammen: Prof. Achim Seifert widmet sich der „Unternehmensmitbestimmung und Unionsrecht“, Jan-Malte Niemann (Richter am BAG) untersucht „Verwertungsverbote infolge grundrechtswidriger Arbeitgebermaßnahmen“ im Zusammenhang mit Keylogging & Co, Prof. Thomas Raab beschreibt das „Verlangen des Betriebsrats nach Entfernung betriebsstörender AN nach § 104 BetrVG“ und Regine Winter (Richterin am BAG) arbeitet die „Aktuelle Rechtsprechung des Achten Senats des Bundesarbeitsgerichts zum AGG“ auf.

Greifbar ist der europarechtliche Einfluss. Nach Seifertist die Bedeutung der Grundfreiheiten des Unionsrechts für die deutsche Mitbestimmung der AN in den Unternehmensorganen gestiegen. Zumindest attestiert der EuGH in der Rs Konrad Erzberger/TUI AG dem deutschen MitbestG Bestandssicherheit, ein Verstoß gegen die AN-Freizügigkeit liege nicht vor, obwohl dies in der Literatur in Anbetracht des Ausschlusses von Belegschaften eines mitbestimmten Unternehmens, die in anderen Mitgliedstaaten der EU beschäftigt sind, in Frage gestellt worden war. Nach Auffassung des Autors der gegenständlichen Abhandlung verdient die E des EuGH im Ergebnis uneingeschränkt Zustimmung, gleichwohl er einzelne Folgen der Entscheidung kritisch beäugt. Dies gilt für die Beurteilung von mitbestimmten deutschen Unternehmen mit rechtlich nicht verselbstständigten Auslandsbetrieben, für den Ausschluss ausländischer Belegschaften von der Berechnung mitbestimmungsrechtlicher Schwellenwerte sowie für die Frage nach den rechtspolitischen Optionen für eine Einbeziehung ausländischer Belegschaften in die deutsche Mitbestimmung. Seifert identifiziert im Ergebnis Legitimationsdefizite und hält einen Rückgriff auf das Verhandlungsmodell wie im SE-Recht für eine sinnvolle Lösung.

Der zweite Aspekt, dem der Autor Aufmerksamkeit schenkt, betrifft die – aufgrund des im Rahmen von Art 49 AEUV EuGH vollzogenen Übergangs von Sitztheorie zur Gründungstheorie samt Anerkennungsprinzip – mögliche Umgehung der Mitbestimmung durch Auslandsgesellschaften mit Sitz im Inland. Er befürchtet in diesem Zusammenhang die schleichende Erosion der deutschen Mitbestimmung. Abhilfe würde sE ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz bringen, das bewirkt, dass die Mitbestimmung auch für Auslandsgesellschaften, die im Inland ihren Sitz haben, für anwendbar erklärt wird. Fraglich erscheint, ob dies mit der Niederlassungsfreiheit in Einklang gebracht werden kann.

Die zweite Abhandlung widmet sich mit der Überwachung von AN einem brisanten Thema. In diesem Zusammenhang beleuchtet Niemann nicht nur die Konkordanz zwischen den Grundrechten der Arbeitsvertragsparteien, sondern auch die Zulässigkeit derartiger Handlungen im Anwendungsbereich der DS-GVO. Hervorzuheben ist, dass in Auslegung der Regelung des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) zur Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses (zB Keylogging) der zweite Senat des BAG – unter Berücksichtigung von Art 8 EMRK, Art 7 GrCh sowie der (alten) Datenschutz-RL – zum Ergebnis gelangte, dass eine verdeckte Kontrolle oder Überwachung durch den AG ausnahmsweise zulässig sein kann. Niemann bezweifelt, dass der (neuen) DS-GVO ein absolutes Verbot heimlicher Maßnahmen und damit aus Gründen des effet utile ein Verwertungsverbot immanent sind. Er scheint dem EuGH allerdings ein anderes Ergebnis zuzumuten. Jedenfalls muss dieser die Schranken eines solchen Verbotes anhand der EMRK sowie der GrCh angesichts kollidierender Grundrechtspositionen abstecken. Die Frage, ob ein Verwertungsverbot greift, ist von besonderer Bedeutung, wenn um die Wirksamkeit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gestritten wird.

In Abgrenzung hierzu betrifft die dritte von Raab verfasste Abhandlung vielmehr die Möglichkeit des BR, eine Beendigung der tatsächlichen Beschäftigung zu initiieren (§ 104 BetrVG) und untersucht das Spannungsverhältnis dieses kollektivrechtlichen Entlassungsverlangens und des individuellen Kündigungsschutzes. Die im Hinblick auf die Wahrung des Betriebsfriedens dauernde Unmöglichkeit der Weiterbeschäftigung kann iS eines in der Person des AN liegenden Grundes die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses begründe. Allerdings ist das Gericht im Kündigungsschutzprozess nicht prozessual an die Vorentscheidung im Beschlussverfahren nach § 104 BetrVG gebunden. Dies erscheint gut vereinbar mit der Tatsache, dass dem betroffenen AN nur dann Beteiligtenstellung im Beschlussverfahren zukommen soll, wenn er selbst in einer betriebsverfassungsrechtlichen Position betroffen ist. Dass Versetzung und Entlassung als Mittel zur Entfernung des betriebsstörenden AN keine Rechte als Beteiligter im Verfahren begründen sollen, hat die Verfasserin dieser bescheidenen Besprechung zugegebenermaßen überrascht.

Die letzte Abhandlung widmet sich der zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ergangenen Rsp, die überwiegend Rechtsstreite um Rechtsfolgen von Verstößen bei der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses (insb Stellenausschreibungen bzw -besetzungen) betraf. Winter skizziert ua die Abkehr von der früheren Annahme hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Situation bzw Lage iSd § 3 Abs 1 und 2 leg cit, wonach „vorab“ eine am Anforderungsprofil der ausgeschriebenen Stelle gemessene „objektive Eignung“ der Bewerberin bzw des Bewerbers von Bedeutung sein solle. Eine derartige Abkehr scheint in der österreichischen Rsp weniger klar greifbar, lässt sich aber doch an der Tendenz zur Einzelfallbetrachtung bei Evaluierung der Gleichwertigkeit erkennen und scheint somit auch dem 558 GlBG immanent zu sein (siehe weiterführend Hopf/Mayr/Eichinger, GlBG [2009] § 5 Rz 19 ff).

Im zweiten Teil des Jahrbuches (ca 30 Seiten) finden sich Übersichten zur politischen und fachlichen Organisation sowie Besetzungspläne des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte. Im dritten – mit 220 Seiten längsten – Teil werden die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, die Rsp und das Schrifttum auf den Gebieten des Arbeitsrechts und der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie der Jahresbericht des BAG 2017 dargestellt. Eine derartige Dokumentation hat den Vorteil, dass man sich im Falle einer einjährigen Auszeit recht flott einen groben Überblick verschaffen kann, à la „was bisher geschah“. Die Suche nach etwas Konkretem gestaltet sich mangels automatisierter Suchfunktion (Strg+F) etwas mühsam, vor allem, da die Fachliteratur chronologisch gelistet zu sein scheint.

Insgesamt macht das gelungene Zusammenspiel aus Jurisprudenz und Judikatur, aus hoher Wissenschaft und höchstgerichtlicher Praxis, die gegenständliche Reihe so wertvoll. Als Leser fühlt man sich hinter die Kulissen versetzt und vermag beinahe zu vergessen, dass man erst 2019 etwas über 2017 lernt. In Deutschland wird das Nachschlagewert für seinen beachtlichen Informationswert geschätzt. Grenzüberschreitend erscheint die Lektüre in Absehung zukünftiger nationaler Entwicklungen besonders lohnend. Denn vieles, was in Deutschland bereits ausjudiziert oder -interpretiert ist, gibt es in Österreich so oder gar oder noch nicht bzw waren wir uns bisher nicht bewusst, dass uns etwas fehlt; ganz sprichwörtlich „Was es nicht alles gibt!“ aka „Au Backe!“.