Kittner50 Urteile – Arbeitsgerichte schreiben Rechtsgeschichte
Bund Verlag, Frankfurt am Main 2019, 344 Seiten, gebunden, € 38,–
Kittner50 Urteile – Arbeitsgerichte schreiben Rechtsgeschichte
„Arbeitsgerichte schreiben Rechtsgeschichte“, so lautet der Untertitel des vorliegenden knapp über 300 Seiten starken Buches, das in einer Sonderauflage für die DGB Rechtsschutz GmbH, jenem Rechtsanwälteunternehmen, das die Anliegen der Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und dessen Partnergewerkschaften vor den deutschen Arbeits- und Sozialgerichten vertritt, vorliegt. Die Ratlosigkeit, die der gewählte Titel beim österreichischen Leser verursachen könnte, und etwaige Befürchtungen, hier trockene Rechtshistorie vermittelt zu bekommen, weichen aber bereits bei der Lektüre des ersten vorgestellten Urteils des Reichsgerichtes im Jahr 1890, welches die Qualifizierung einer Arbeitskampfdrohung als Erpressung zum Inhalt hatte.
Die packende Darstellung von Kittner, der es versteht, in erklärenden Abschnitten den notwendigen geschichtlichen Hintergrund zu schildern, sowie dass die Entscheidungen nicht nur lediglich als Urteilstexte wiedergegeben, sondern nur die wesentlichen Passagen abgedruckt und unter Beachtung sonstiger notwendiger Prozessfakten kommentiert sind, lässt den Leser auch emotional an den gewählten Prozessen teilhaben und gerade bei lang zurückliegenden Urteilen die geschichtliche Tragweite verstehen.
Kittner scheut auch nicht davor zurück, den Bogen auch zur aktuellen Rsp zu ziehen, so findet man Entscheidungen über das Streikverbot der BeamtInnen in Deutschland, oder aber auch die mittlerweile in Österreich bekannten Rechtsgänge zum Thema der Kirchenautonomie vom staatlichen Recht oder Entscheidungen hinsichtlich neuer Arbeitskampfformen, wie Flashmobs.
Es sind nicht nur Entscheidungen deutscher Arbeitsgerichte, sondern auch jene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des EuGH Gegenstand der Darstellung im Rahmen des Verfahrensganges, soweit diese durch deutsche Fälle ausgelöst wurden.
Das Buch ist in die Zeitabschnitte Kaiserreich (Schwerpunkt Arbeitskampf), Weimarer Republik (Arbeitskampf, AN-Begriff, Freiwilligkeitsvorbehalt) und Bundesrepublik eingeteilt. Für den Zeitabschnitt der Bundesrepublik wurde die Unterteilung Individualarbeitsrecht (zB Lohngleichheit, sachgrundlose Befristung, kirchliche AN), Mitbestimmung, Koalitionsfreiheit, Tarifvertrag und Arbeitskampf vorgenommen. Ein Epilog beschäftigt sich mit den Grenzen der Rechtsfortbildung. Da das Anliegen des Autors dahingehend war, Urteile, die für das deutsche Arbeitsrecht Geschichte geschrieben haben, aufzunehmen, wurden Entscheidungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR nicht aufgenommen. Aus den nachvollziehbaren Ausführungen des Autors dürfte das Arbeitsrecht der DDR, soweit vorhanden, sowohl in kollektivrechtlicher als auch individualrechtlicher Betrachtung ohne Bedeutung bleiben.
Neben diesen Fakten wird auch immer wieder Bezug auf einflussreiche Persönlichkeiten in der Rechtslehre und Richterschaft, zB Nipperdey, sowie auf deren politische Einstellung und die Auswirkungen deren Wirkens anhand der ausgewählten Urteile genommen. Man bekommt den Eindruck, dass die Rechtsentwicklung im deutschen Arbeitsrecht mehr als in Österreich vom Wirken einzelner Persönlichkeiten zum Guten oder weniger Guten für die Arbeitnehmerschaft abhängig war. Dazu passt dann auch der Epilog des Bandes, über die „Grenzen der Rechtsfortbildung“. Kittner zitiert hier jene Rsp des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in der festgestellt wird, dass eine Rsp, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreife. Die Notwendigkeit des Epilogs begründet sich im Aufbau des Buches selbst. Jede ausgewählte Entscheidung bzw jeder Verfahrensgang zu einem Thema zeigt die große Intensität der Rechtsgestaltung der richterlichen Entscheidung gegenüber der Rechtsordnung auf. Die Auswahl führt den Leser aber auch unübersehbar vor Augen, dass der deutsche Gesetzgeber oftmals in Bereichen, wo keine politische Einigung zu erzielen war (vergleichbar mit Österreich), diese Aufgabe den Gerichten „zuschob“ – (interessant wäre eine vergleichbare Untersuchung zu der Arbeit der österreichischen Gerichte, um eine Aussage treffen zu können, inwieweit559 österreichische Gerichte hier zurückhaltender agierten als das deutsche Pendant).
Bemerkenswert ist Kittners Resümee, dass oftmals für das Arbeitsrecht fundamentale Entscheidungen aus Klein-Konflikten entstanden sind, die vor der Gerichtsentscheidung keinerlei öffentliches Aufsehen erzeugten, und auch vielleicht deshalb von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert worden seien. Hier könnte aber mE eine andere Erklärung schlüssiger sein: Wenn für die Lösung eines Problems kein politischer Wille vorhanden war, dann liegt politisch kein Handlungsantrieb vor, wenn das Ergebnis des Gerichtsentscheides nicht bei einer politischen Mehrheit überwiegende Ablehnung auslöst (so in Österreich das Urteil des EuGH zum Karfreitag).
Auch wenn es im vorliegenden Band um Themen geht, die zunächst die deutsche Arbeitsrechtsordnung betreffen, behandelt das Buch auch für die österreichische Rechtsordnung geltende Grundsätze sowie politisch-historische Fakten, die im Endeffekt weitreichende Auswirkungen hatten, dass es eine wertvolle, spannende und kurzweilige Lektüre darstellt. Ich hatte schon lange nicht so viel Freude und Spaß an Fachliteratur!