HerrAusgeliefert. Fahrräder, Apps und die neue Art der Essenszustellung
Verlag des ÖGB, Wien 2018, 162 Seiten, broschiert, € 24,90
HerrAusgeliefert. Fahrräder, Apps und die neue Art der Essenszustellung
Als der Rezensent gemeinsam mit Johannes Warterbei der Labour Law Research Network Conference 2015 in Amsterdam seine Forschungen zur Plattformarbeit, die damals noch unter der Überschrift „Crowdwork“ diskutiert wurde, präsentierte, fanden sich zu dieser Session gerade eine Handvoll ZuhörerInnen ein. Kaum jemand wusste, worum es bei dieser neuen Form der Arbeitsorganisation ging. Zwei Jahre später bei der Folgekonferenz in Toronto gab es dann einen mehrere Tage durchlaufenden Stream, der ausschließlich diesem Thema gewidmet war. Plötzlich war die Plattformarbeit in aller Munde. Und heute, kurze Zeit nach dem Börsegang der Transportplattform Uber, muss kaum jemandem mehr erklärt werden, worum es dabei geht. Eurofound hat in diesem Zusammenhang wegweisende Forschungen unternommen und verwendet in einer aktuellen Publikation (Employment and working conditions of selected types of platform work 2018, 9) folgende weite Definition: „Plattformarbeit ist eine Form der Beschäftigung, die eine Online-Plattform nutzt,
562 um Organisationen oder Einzelpersonen den Zugang zu anderen Organisationen oder Einzelpersonen zu ermöglichen, um Probleme zu lösen oder Dienstleistungen gegen Bezahlung zu erbringen.
“ MaW könnte man sagen, dass mithilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien Tätigkeiten, die ursprünglich durch einzelne VertragspartnerInnen (in der Regel von AN) erbracht wurden, dadurch ausgelagert werden, dass sie einer größeren Anzahl von Personen (der Crowd) über eine internetbasierte Plattform angeboten werden. Der Clou daran ist, dass Arbeit nur dann bezahlt werden soll, wenn sie tatsächlich geleistet wird. Und die Plattform stellt sicher, dass immer ausreichend Personen zur Verfügung stehen, die bereit sind zu arbeiten und zusätzlich auch, dass dabei die Qualität passt. Dies erfolgt mit der den einzelnen Plattformbeschäftigten zugeordneten Bewertungen der einzelnen abgearbeiteten Arbeitsaufträge durch die KundInnen häufig kombiniert mit einer digitalen Überwachung der Arbeitsleistungen. Damit besteht – auch wenn häufig insb seitens der Plattformen betont wird, dass es sich bei den Plattformbeschäftigten um Selbständige handelt – eine hohe Kontrolldichte, die jene eines klassischen Arbeitsverhältnisses gar nicht so selten sogar übersteigt.
Die in der Plattformwirtschaft erbrachten Arbeitsleistungen sind äußerst vielfältig; in der Regel wird zwischen ortsgebundener und virtueller Online-Arbeit und weiter danach unterschieden, wie das Matching erfolgt (Angebot und Annahme oder Wettbewerb) (dazu Eurofound, Platform Work 2018, 4 ff). Die derzeit wohl bekanntesten Plattformen sind neben der Transportplattform Uber ua solche, die Essenszustellungen mit Fahrrädern anbieten – beides Beispiele für ortgebundene Plattformarbeit, die derzeit weiterhin stark im Wachsen begriffen ist und auch medial häufig diskutiert wird.
Was freilich über weite Strecken insb auch für Österreich fehlt, ist eine Untersuchung der einzelnen Geschäftsmodelle und insb, wie der konkrete Arbeitsalltag einzelner Plattformbeschäftigter aussieht. Der Arbeitssoziologe Benjamin Herr hat dazu eine sehr interessante Studie verfasst, die einerseits auf einer teilnehmenden Beobachtung beruht, dh er ist mehrere Monate selbst als Essenzusteller Fahrrad gefahren. Außerdem hat er Interviews mit anderen EssenszustellerInnen geführt. Die Studie liegt auf Englisch als AK Working Paper „Riding in the Gig-Economy“ (verfügbar unter https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/digitalerwandel/AK_Policy_Paper_Riding_in_the_Gig_Economy.htmlhttps://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/digitalerwandel/AK_Policy_Paper_Riding_in_the_Gig_Economy.html) vor und ist die Basis für die hier zu rezensierende Publikation. In einer ästhetisch sehr ansprechenden Weise (mit zahlreichen hippen Zeichnungen!) bietet diese einen kompakten und gut lesbaren Einblick in ein wichtiges Segment der Plattformökonomie und die dahinterliegenden Dynamiken. Es wird dabei – wohl um sich keinen Klagen auszusetzen – von einem fiktiven Unternehmen „Ridingmeal“ als Beispiel ausgegangen, wobei jedoch betont wird, dass die Darstellung auf den Ergebnissen der Untersuchung eines konkreten Unternehmens (viele gibt es da ja nicht ...) beruht. Das eher schlanke Buch startet mit einer Darlegung der grundsätzlichen Veränderungen der Arbeitswelt und geht dann auf die Fahrradbotendienste und die Essenszustellung im Speziellen ein.
Dabei werden anekdotische Eigenerfahrungen und jene von KollegInnen eingebaut, womit der Text sehr bunt, anschaulich und lesbar ist. Die „Karriere“ eines Fahrradboten bzw einer Fahrradbotin beginnt mit der Aufnahme und Einschulung. Dann folgt eine Testfahrt, um die Orientierung in der Stadt mit der App zu lernen, sowie eine zweistündige Einschulungsfahrt. Dann geht es wirklich los: Man erscheint zur vereinbarten Schicht und schaltet die App ein, über die dann die Aufträge hereinkommen, was nicht immer lückenlos der Fall ist. Das Essen wird im Restaurant abgeholt und den KundInnen zugestellt. Viele Aufträge sind gut, da sich das Entgelt aus einem Fixum (€ 4,– pro Stunde) und einem Zustellentgelt von € 2,– samt allfälligen Trinkgeldern zusammensetzt. Außerdem ist es warm, wenn man Fahrrad fährt; das Warten im Winter und bei schlechtem Wetter kann dagegen schon sehr unangenehm sein. Breiter Raum wird der digitalen Steuerung der ZustellerInnen über den Algorithmus gewidmet, der ja der Kern des Geschäftsmodells ist. Er ist quasi der omnipräsente Boss im Smartphone, der die Aufträge zuteilt, per Geotracking weiß, wo sich die FahrerInnen befinden und wie schnell sie ihre Aufträge abwickeln sowie ob die KundInnen zufrieden sind. Bei der Essenszustellung spielt daneben auch die Schichteinteilung eine große Rolle, die nicht immer ohne Konflikte abläuft. Auch wenn die Flexibilität der FahrerInnen immer hervorgehoben wird, müssen diese beachten, wann KundInnen ihr Essen haben wollen. Und wenn dann jemand kurzfristig ausfällt, wird auch schon mal Druck ausgeübt, damit die Schicht ausreichend personalisiert ist.
Neben der Verschärfung der Verträge schildert Herr zwei Entwicklungen, die für das beschriebene fiktive Unternehmen sehr wesentlich sind: Einerseits geht es um die Schließung des Depots, das ein Ort der Zusammenkunft der FahrradbotInnen und für deren Gemeinschaftsgefühl sehr wichtig war. Andererseits geht es um die kollektive Interessenvertretung, die Aktivität unterschiedlicher Gewerkschaften in diesem Segment und auch die Betriebsratsgründung bei der Plattform „Foodora“. Die Frage der arbeits- und sozialrechtlichen Einordnung der FahrerInnen wird hingegen nur kurz behandelt im Zusammenhang damit, dass es sich hier wohl um Scheinselbständigkeit handle. Zur Vertiefung sei Interessierten das Kapitel von Dullinger in Lutz/Risak, Arbeit in der Gig-Economy (2017) ans Herz gelegt (auch online unter www.gigeconomy.atwww.gigeconomy.at).
Das Buch „Ausgeliefert“ lebt vor allem von den vielen unmittelbaren Erfahrungen des Autors und den farbenfrohen Erzählungen seiner FahrerkollegInnen – damit bekommen diese ein Gesicht und der ansonsten unsichtbare, aber nicht immer klaglos ablaufende Zustellvorgang wird sichtbar. Nach der Lektüre des Buches regt sich wohl niemand mehr über fünf Minuten Verspätung bei der Ankunft des bestellten Essens auf oder erwägt es einmal, kein Trinkgeld zu geben. Dafür weiß man als LeserIn nach der Lektüre dieses Buches zu viel. Es kann daher allen bestens empfohlen werden, die einen Einblick in die tatsächlichen Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft gewinnen möchten.563