Auer-MayerMitverantwortung in der Sozialversicherung

Manz Verlag, Wien 2018, LXXX, 604 Seiten, gebunden, € 134,–

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Das vorliegende Werk wurde von der Universität Salzburg als Habilitationsschrift angenommen. Mitverantwortung in der SV ist ein lange Zeit wenig beachtetes, gleichwohl aber weites Feld. Die Autorin beschränkt es vernünftigerweise auf eine handhabbare und wissenschaftlich ertragreiche Größe: Sie bezieht daher nicht jeglichen Humanbedarf mit ein, den die SV nicht als Leistung parat hält, sondern setzt dort an, wo ein bestimmter Gegenstand zum Leistungsangebot der SV gehört, bei dessen „Konsumation“ die versicherte Person mit in die Pflicht genommen wird. Schon der historische Überblick, den die Autorin in diesem Zusammenhang gibt, zeigt wie vielfältig das „in die Pflicht nehmen“ sein kann und wie vielschichtig die Sanktionen bei Pflichtverfehlung. Schon an dieser Stelle führt dies Susanne Auer-Mayer zu weiterreichenden Überlegungen über das Spannungsfeld zwischen Mitverantwortung und den tragenden Grundgedanken der SV, wie der Solidarität. Es wird gezeigt, wie Mitverantwortung in der frühen Historie des Sozialversicherungsrechts geradezu grundgelegt ist. Die aufgeführten Beispiele zeigen sehr schön, dass ein Teil der Fälle (wie die vorsätzliche Herbeiführung einer Körperschädigung oder die unbegründete Verweigerung einer Kontrolluntersuchung) auch ohne besondere Spezialbestimmungen schon mit den Grundgedanken des Rechtsmissbrauchs oder mit jenen der materiellen Beweislast gleichsam im kurzen Weg erledigt werden könnten. Allerdings führte gerade der Solidaritätsgedanke schon in der Frühzeit der SV einerseits zu einem „Mehr“ gegenüber der bloßen Sanktionierung des Rechtsmissbrauchs, indem es den versicherten Personen auch Obliegenheiten auferlegte, wie zB eine Verpflichtung zur Befolgung ärztlicher Anordnungen, deren Nichteinhaltung wohl nicht schon als Missbrauch566 gedeutet werden könnte, aber auch verschuldensfremde Leistungseinschränkungen vorsah, wie zB Selbstbehalte oder Rezeptgebühren. Andererseits finden wir aber auch ein „Weniger“ gegenüber den üblichen Sanktionen des Rechtsmissbrauchs: Denn selbst ein Verhalten, das als Rechtsmissbrauch gedeutet werden kann, führt nicht zu jeglichem Leistungsverlust, sondern wird nur mit dem gänzlichen oder teilweisen Verlust von Geldleistungen sanktioniert, während die Sachleistungen (ärztliche Heilbehandlung, Arzneimittel, Heilmittel udgl) im Wesentlichen uneingeschränkt gebühren. Die Autorin entwirft uns also schon einleitend ein differenziertes Bild eines auf die Besonderheiten der Funktion des Sozialversicherungsrechts Bedacht nehmendes, eigenständiges System der Mitverantwortung als Gegenstand ihrer näheren wissenschaftlichen Untersuchung.

Vorweg meldet sie aber auch ihre Skepsis gegenüber überzogenen Verhaltenspflichten an, mögen diese auch verhaltenssteuernde Effekte zugunsten der Versichertengemeinschaft insb in finanzieller Hinsicht zeigen können. Denn selbst die in diesem Zusammenhang immer wieder diskutierten „Klassiker“ an „moral hazard“-Zusammenhängen wie Lungenkrebs und Rauchen, Lebererkrankungen und Alkohol, Bluthochdruck und Herzinfarkt, Übergewicht und Diabetes lassen sich zwar medial gut diskutieren, erwecken jedoch nach dem Stand der medizinischen Forschung erhebliche Zweifel an der Berechtigung solcher Vereinfachungen. Bei – wie wir wissen – multikausalen Krankheitsbildern, die ebenso mit anderen Lebensumständen, wie zB mit Wohnen, Bildung, Arbeitsbedingungen ua zusammenhängen, ist es wohl schwierig bis kaum möglich, über statistische Werte hinaus auch rechtsstaatlich belastbare Abgrenzungen und Zuschreibungen im Einzelfall vorzunehmen. Auer-Mayer zweifelt mit eingehender Begründung (46 ff) zurecht an der verhaltenssteuernden Wirkung einer Sanktionierung gesundheitlich ungünstiger Lebensführung, müsste doch – wie sie zeigt – eine drohende schwere Erkrankung wohl eine wirksamere Abschreckung darstellen, als dies Beschränkungen des Leistungsangebots der KV als bloß weitere Sanktion vermöchten

Nach einer ersten Zusammenfassung dieses „Exposés“ wendet sich Auer-Mayer sodann den „rechtlichen Rahmenbedingungen für die Statuierung von Mitverantwortung“ und hier naturgemäß dem Verfassungsrecht und dem Unionsrecht zu. Aus verfassungsrechtlicher Sicht diskutiert die Autorin das Thema zunächst unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten, wobei sie dem Begriffskern des Sozialversicherungswesens aus versteinerungstheoretischer Sicht nachspürt (69 ff). Dies führt zwangsläufig zu verfassungsrechtlichen Fragen der Bildung von Risikogemeinschaften, sowie des nicht äquivalenten Zusammenhanges zwischen Beitrag und Leistung und einer ersten Einbettung der Sanktionsfrage in dieses Geflecht, wobei die grundsätzliche Verträglichkeit von Leistungseinschränkungen oder Kostenbeteiligungen mit den Anforderungen an die Ausgestaltung eines Sozialversicherungssystems aus kompetenzrechtlicher Sicht nicht bezweifelt wird. Als eher kritische Masse sieht die Autorin gänzliche Leistungsverluste in einem Spannungsfeld zur Beitragsverpflichtung.

Bei Diskussion der Frage „Sozialer Ausgleich und Risikounabhängigkeit als wesentliches Prinzip“ gerät die Autorin vor dem Hintergrund bereits früherer Literaturstimmen ein wenig in die Irre: Zunächst ist die Abhängigkeit der Geldleistungen von der „Beitragsgrundlage“ (so aber 90) mE kein Ausdruck des Äquivalenzprinzips (welches ein versicherungsmathematisch geprägtes Verhältnis der Leistungen zu den bezahlten Beiträgen ausdrückt), sondern in erster Linie ein Ausdruck des Niveaus der Lebensstandardsicherung. Bei der Frage, wie weit das „Soziale“ als Kernelement des Kompetenzbegriffs bzw – anders gewendet – der soziale Ausgleich gegenüber dem Versteinerungsmaterial zurückgedrängt werden könnte, lässt sich die Autorin (92) mE zu sehr von Wiederins Einwand beeindrucken, dass die Bejahung des (unbedingten) Erfordernisses gewisser Elemente eines sozialen Ausgleichs bedeuten würde, dass die Einrichtung einer strikt auf dem Äquivalenzgedanken beruhenden SV nicht vom Bund, sondern nur von den Ländern eingerichtet werden könnte. SV und Vertragsversicherung sind beide unstrittig ausschließlich Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung. Tertium non datur: Art 10 Abs 1 Z 11 B-VG regelt das Versicherungswesen kompetenzrechtlich wohl abschließend.

Beide Zweige der Versicherung unterscheiden sich in ihren wesentlichen Elementen: Versicherungen, die ohne Elemente eines sozialen Ausgleichs im Wesentlichen dem versicherungsmathematischen Äquivalenzmodell entsprechen, dürfen ausschließlich privatrechtlich im Rahmen des Vertragsversicherungswesens organisiert werden. Eine staatliche „Sozial“-Versicherung, die im Wesentlichen Elemente der Vertragsversicherung aufweist, also versicherungsmathematisch geprägt ist, wäre daher schlicht unzulässig und würde nicht etwa in die Kompetenz der Länder fallen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Kompetenzartikel am 1.11.1925 waren im Übrigen – der Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre geschuldet – das in der Frühzeit noch angewendete Kapitaldeckungssystem aus dem Sozialversicherungssystem verschwunden und damit im Wesentlichen alle Merkmale der Vertragsversicherung; es galt sowohl in der KV der ArbeiterInnen und Angestellten als auch in der PV der Angestellten mittlerweile das Umlageverfahren (vgl Lederer, Sozialrecht2 [1932] 436).

Es ist daher nicht nur nicht ausgeschlossen, wie

Auer-Mayer
eher zurückhaltend meint (92), dass ein Kern an „Sozialem“ kompetenzrechtlich Wesensmerkmal der SV ist; dies ist vielmehr ihr Wesenskern und alleinige Rechtfertigung ihrer Existenz in Abgrenzung zur Vertragsversicherung. Dieses Element hätte in der versicherungsmathematisch grundgelegten Vertragsversicherung keinen wie immer gearteten Platz; in der SV dürfen wieder – wie sich auch aus der von Auer-Mayer verarbeiteten Rsp des VfGH ergibt – die sozialen Grundelemente der Risikosolidarität und der Einkommenssolidarität nicht abgeschafft oder durch risikobezogene Beitragssysteme ersetzt werden. Die SV ist darüber hinaus versteinerungstheoretisch aus denselben Gründen in ihren Möglichkeiten intrasystematischer Weiterentwicklung wohl auf ihre traditionellen Kerngebiete beschränkt; der Gesetzgeber dürfte daher zB nicht nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen eine Berufshaftpflichtversicherung der Ärzte organisieren (vgl Näheres zu dieser Frage bei R. Müller, Der Schutzbereich der Unfallversicherung für Patienten in Rehab-Einrichtungen, in Kietaibl/Mosler/Pacic [Hrsg], GS Robert Rebhahn [2019] 361 [374 f]).567

Ein umfangreicher grundrechtlicher Teil, der die Rsp des VfGH aufarbeitet, bildet den Hauptteil der verfassungsrechtlichen Untersuchung (98-234). Es werden dabei – fast könnte man sagen: erwartungsgemäß – kaum Grenzen für gesetzliche Anforderungen an Mitverantwortung der Versicherten sichtbar (153). Ein bisher wenig beackertes Feld und demgemäß spannend ist der Teil über die staatlichen Gewährleistungspflichten aus Art 2 und 3 EMRK (156 ff): die Zulässigkeit eines sanktionsweisen Verlustes des Sachleistungsanspruchs auf medizinische Leistungen in der gesetzlichen SV wird von der Autorin zutreffend unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person die Behandlungskosten entweder aus eigenen Mitteln selbst tragen oder aus „anderen Töpfen“ realisieren kann, ohne dass dies zu einer Gefährdung iSd Art 2 oder 3 EMRK führt.

Die Prüfung der Obliegenheiten zur Duldung medizinischer Maßnahmen erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Art 2 und 3 EMRK ebenso wie unter jenem des Art 8 EMRK. Unterstellt man das Vorliegen gesetzlicher Regelungen und in der Regel ohnehin zulässiger Ziele, dann läuft alles auf die Frage der Verhältnismäßigkeit der Obliegenheit hinaus (171). Die Maßstäbe des OGH für die Zumutbarkeit des Duldens invasiver medizinischer Eingriffe werden – ua einer Kritik des Rezensenten folgend – als tendenziell zu weitgehend beurteilt. Sehr interessant sind die Ausführungen zur Problematik der Verweigerung von Bluttransfusionen aus religiösen Gründen vor dem Hintergrund des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit: Auer-Mayer kommt für die UV zutreffend zum Ergebnis, dass eine solche Weigerung, wenn sie zum Tod führt, keinen Kausalzusammenhang mit einem vorangegangenen Arbeitsunfall, der ohne diese Weigerung nicht zum Tod geführt hätte, herzustellen vermag; dies verstößt auch nicht gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit (183). Überlegungen zur Steuerung des Nachfrageverhaltens, insb im Verhältnis WahlärztInnen-VertragsärztInnen (wobei die Autorin auch hier einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sieht) und zu Art 34 und 35 der GRC schließen das umfangreiche verfassungsrechtliche Kapitel ab.

Im IV. Teil wendet sich die Autorin dem EU-Wettbewerbsrecht und den Grundfreiheiten des Unionsrechts zu. Die Rsp des EuGH wird umfassend dargestellt und gewürdigt. In deren Nutzanwendung vertritt die Autorin eine umfassende Ausnahme der Sozialversicherungsträger aus dem EU-Wettbewerbsrecht und schließt sich auch der Rsp des OGH an, dass Sozialversicherungsträger bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht im geschäftlichen Verkehr handeln, dh nicht Unternehmen iSd Wettbewerbsrechts sind. Das alles gilt freilich nicht mehr in PPP-(Public Private Partnership-)Modellen. Darüber hinaus prüft und bejaht die Autorin die Frage, ob die Sozialversicherungsträger als Monopolisten nicht Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen, was sie ebenfalls von den Ketten des Wettbewerbs – insb auch des Beihilfenrechts – befreien würde. Dabei wird deutlich, wie sehr der EuGH in seiner Rsp eine enge Verbindung zwischen den Prinzipien der Solidarität, die einer Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt geradezu im Wege stehen, und einer – auch ausnahmslos gestalteten – Pflichtmitgliedschaft herstellt (266 f), all dies freilich unter der Voraussetzung, dass die Eignung besteht, den Bedarf nach der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auch tatsächlich zu decken. Die Autorin weist auch – entgegen vereinzelt gegenteiliger Meinungen im Schrifttum – überzeugend nach, dass der EuGH weder in der Rs Ambulanz Glöckner (EuGH 25.10.2001, C-475/99) noch in der Rs Mobil Oil (EuGH 3.10.2013, C-59/12) implizit von seiner Rechtsprechungslinie abgewichen ist. Es ist daher – ungeachtet des vorhin diskutierten kompetenzrechtlichen Abgrenzungsproblems – in erster Linie unionsrechtlich geboten, dass das Sozialversicherungssystem „Aufgaben mit ausschließlich sozialem Charakter“ erfüllt. Elemente risikobezogener Beitrags- oder Leistungsäquivalenz oder umfassendere Wahlmöglichkeiten sind für die Qualifikation „des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses“ Gift. In diesem Zusammenhang hätte sich der Rezensent ergänzend eine Problematisierung der Elemente der Freiwilligkeit in der gesetzlichen SV gewünscht, die in den letzten Jahrzehnten auf eine Weise ausgebaut wurden, dass sie nicht bloß zur Lückenfüllung nach Ende einer Pflichtversicherung dienen, sondern eine solche zur Gänze auch ersetzen können; man denke nur an die Selbst- und daran anschließend Weiterversicherung in der KV, aber auch an die Weiterversicherung in der PV, deren Gestaltungsmöglichkeiten überdies zu „schlechten Risiken“ für die PV führen. In Wahrheit bewegen sich diese über eine bloße Lückenschließung hinausgehenden Modelle im Graubereich zur Vertragsversicherung und damit auch zur Anwendung des unionsrechtlichen Wettbewerbsrechts.

Im Gegensatz zum Wettbewerbsrecht steht die grundsätzliche Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Grundfreiheiten auf die gesetzliche SV seit den 1998 entschiedenen Rs Kohll und Decker nicht in Frage. Die Autorin sieht die an diese Entscheidungen anknüpfende Judikaturlinie – wie schon manche AutorInnen vor ihr – kritisch, insb was die uneingeschränkte Anwendung der Grundfreiheiten auf ein Rechtsgebiet betrifft, hinsichtlich dessen die Europäische Union kein normatives Gestaltungsrecht besitzt. Aber wir kennen andererseits viele andere, der Regelungsbefugnis per Unionsrecht noch viel fernere Rechtsgebiete, bei denen die Anwendung der Grundfreiheiten dazu führt, dass hinderliche Bestimmungen auf allen denkbaren Rechtsgebieten hinweggefegt werden. Da kann das Sozialversicherungsrecht wohl zurecht auf keine Ausnahme hoffen.

Im dritten Teil des rezensierten Werks beschäftigt sich die Autorin schließlich mit Fällen gefahrerhöhenden bzw -schaffenden Verhaltens im Zusammenhang mit der Herbeiführung oder Beseitigung des Leistungsfalls, einschließlich normativer Verhaltensobliegenheiten. Das Feld ihrer Untersuchung ist weit gespannt. Es umfasst die Fälle der Versagung, Verwirkung und Entziehung von Geldleistungen, ebenso wie zur Sperre von Geldleistungen führende Obliegenheitsverletzungen in der AlV. Behandelt werden ferner Untersuchungsobliegenheiten während des Leistungsbezuges in der KV und PV einschließlich der Rehabilitation. Die Autorin problematisiert in diesem Zusammenhang mit Recht die Überbetonung des Delikts „Raufhandel“ bei der Versagung des Krankengeldes im Verhältnis zu anderen, durchaus schwereren Strafdelikten, wenn diese zu einem Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit infolge 568 Krankheit führen (350), lehnt aber eine von Radlingmayr vor mehr als zehn Jahren ins Spiel gebrachte analoge Ausweitung des Versagenskataloges mit Recht ab. Es sei in diesem Zusammenhang vom Rezensenten angemerkt, dass Raufhandel und Trunkenheit als Gründe für die gänzliche oder teilweise Entziehung des Krankengeldes explizit schon seit 1888 im KVG (in einer Regelungsermächtigung für die Kassenstatuten – § 24 Z 2 KVG) vorkommen und historisch wohl auch kausal eng miteinander zusammenhängen: Die heute kaum mehr vorstellbare soziale Lage der Arbeiterschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie ua Max Winter in seinen Sozialreportagen auch für uns Heutige noch nachvollziehbar schildert, war letztlich der Nährboden für beides. Das Vertrinken des spärlichen Arbeitslohns am Freitag war noch in den 1950er-Jahren ein allgegenwärtiges Problem. Dieses ehemalige Massenphänomen, das der Gesetzgeber im Krankenversicherungsrecht schon früh normativ erfassen wollte, existiert heute in dieser Form wohl nicht mehr, sodass es hoch an der Zeit wäre, die Versagensgründe des § 142 ASVG einer zeitgemäßen Reform zu unterziehen. Bei einer solchen Reform könnte im Übrigen auch § 144 Abs 2 lit c ASVG endlich gestrichen werden, wonach sich eine erkrankte Person gegebenenfalls verpflichtend in Anstaltspflege einweisen lassen muss, wenn sie den Bestimmungen der Krankenordnung wiederholt zuwidergehandelt hat – eine Bestimmung, die wohl längst totes Recht ist und zweifelsfrei dem Grundrecht auf persönliche Freiheit widerspricht.

Ein abschließender Teil des Werks befasst sich schließlich mit verhaltensbedingten Grenzen des Sozialversicherungsschutzes, insb mit den in der Rsp zur UV entwickelten Topoi des „gefahrenerhöhenden Verhaltens“ bzw der „selbst geschaffenen Gefahr“, die sie – dem Rezensenten folgend – ablehnt. Sie erblickt darin vielmehr zutreffend ein Problem der Abgrenzung des Schutzbereichs der UV vom nicht geschützten eigenwirtschaftlichen Bereich (522 ff). Auer-Mayer kritisiert mit eingehender Begründung aber auch zurecht die Einführung von Elementen des zivilrechtlichen Gebotes zur Schadensminderung in das Sozialversicherungsrecht via Schöpfung allgemeiner Mitwirkungs- und Duldungspflichten durch die Rsp des OGH: Sie tritt statt dessen für die Beachtlichkeit der schlichten Besserungsmöglichkeit beim Leistungsausschluss ein bzw – für verbleibende Problemfälle – für eine Analogie zu § 88 Abs 1 Z 1 ASVG und gibt einer solchen Analogie den Vorzug vor einer Heranziehung des Gedankens des Rechtsmissbrauchs (542 ff [556]). Die Arbeit rundet ein Schlusskapitel ab, in der auf eine Zusammenfassung der wesentlichen Vorschläge der Autorin eine Übersicht über die Ergebnisse der Untersuchung folgt.

Die vorliegende Arbeit Auer-Mayers behandelt ihr Thema nicht nur enzyklopädisch, sondern auch in wissenschaftlicher Tiefe, wobei sie auch vor den (Un-)Tiefen des Verfassungsrechts und des Unionsrechts nicht zurückschreckt. 27 Seiten Verzeichnis der aufgearbeiteten Literatur und ebenso viele Seiten Verzeichnis verarbeiteter Judikatur sprechen für sich. Vereinzelte kritische Anmerkungen des Rezensenten betreffen demgegenüber lediglich Petitessen, die den Wert der Arbeit in keiner Weise hinterfragen. Das Werk Auer-Mayers enthält zu den gesetzlichen Bestimmungen, in denen Mitverantwortung zum Ausdruck kommt, unter Einschluss des meist eher stiefmütterlich behandelten Arbeitslosenversicherungsrechts, umfassende Darstellungen des letzten Standes der Lehre und der Rsp. Die Fülle der Vorschläge, sei es für neue Orientierungen in der Gesetzesinterpretation, sei es für den Gesetzgeber de lege ferenda, kann in einer Rezension nicht annähernd widergegeben werden. Raschen LeserInnen sei daher der „Schluss“ (Vierter Teil) des Buches zur Primärlektüre empfohlen – dies aber nur, um die Neugier auf den „Rest“ zu wecken. Man wird es nicht bereuen, diese Arbeit zur Hand genommen zu haben.

Rechtspolitisch liegt der Wert des Buches darüber hinaus in der Verdeutlichung dessen, dass es der soziale Gedanke ist, der das Sozialversicherungsrecht seit alters her, und überdies verfassungs- und unionsrechtlich unverzichtbar prägt, und dass dieses Rechtsgebiet aber zugleich vom Grundgedanken der Mitverantwortung in vielerlei Hinsicht schon seit 1888/89 durchzogen war und ist, sodass es nicht etwa dessen Einführung bedarf, wie dies mitunter in Unkenntnis der Rechtslage diskutiert wird. Die Änderungs- und Verbesserungsvorschläge der Autorin sind der Entwicklung geschuldet und sollten daher nicht unbeachtet bleiben. Die wenigen inhaltlichen Anmerkungen des Rezensenten zeigen, dass das Werk auch zur Diskussion anregen kann und zahlreiche Anknüpfungspunkte für (hoffentlich) weitere, künftige Forschungsvorhaben der Autorin enthält. Das Sozialversicherungsrecht wird noch lange nicht zu Ende gedacht sein! In diesem Sinne kann allen Interessierten dringend empfohlen werden, mit diesem Buch einmal zu beginnen.