Cerha/Resch/WallnerPrimVG – Primärversorgungsgesetz – Kurzkommentar

Manz Verlag, Wien 2018, 224 Seiten, gebunden, € 68,–

SEBASTIANSCHOLZ (WIEN)

Einen wesentlichen Bestandteil der Gesundheitsreform 2017 (zu dieser umfassend Stöger, Die Gesundheitsreform 2017 im Überblick – Neue Rechtsprobleme in der Gesundheitsplanung, in Baumgartner [Hrsg], Jahrbuch Öffentliches Recht 2018 [2018] 11) stellt das Gesundheitsreformumsetzungsgesetz 2017 (GRUG 2017, BGBl I 2017/131BGBl I 2017/131) dar, durch das die rechtlichen Grundlagen für die sogenannte Primärversorgungseinheiten (PVE) in Österreich geschaffen wurden. Den Inhalt dieses Sammelgesetzes bildet demgemäß neben der Erlassung des Primärversorgungsgesetzes (PrimVG) die dadurch erforderlich gewordene Anpassung zwölf bestehender Gesetze (ua ASVG, GSVG, KAKuG [Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz], G-ZG [Gesundheits-Zielsteuerungsgesetz]).

Mit dem hier besprochenen Buch legen Matthias Cerha, Reinhard Resch und Felix Wallner den bislang ausführlichsten Kommentar zu den rechtlichen Grundlagen der neuen PVE vor. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (S 1-90) widmet sich der Kommentierung des PrimVG. Die Bestimmungen sind zwischen Wallner (§§ 1-8) und Cerha (§§ 9-14 und 17) aufgeteilt; bezüglich der §§ 15 („Verweisungen“) und569 16 („Vollziehung“) sind nur die Gesetzesbestimmungen abgedruckt. Im zweiten Teil (S 91-143) werden die für PVE einschlägigen Bestimmungen des ASVG von Resch kommentiert. Gegenstand des dritten Teils (S 144-200) ist das G-ZG. Die Kommentierungen beziehen sich jeweils auf mehrere Paragraphen des G-ZG und sind auf alle drei Autoren aufgeteilt.

Sämtlichen Kommentierungen sind der Gesetzestext sowie eine Literaturauswahl vorangestellt. Sie sind durchwegs gut lesbar und übersichtlich gegliedert verfasst. Sie beschränken sich auch keineswegs auf eine Wiedergabe des Normtextes, sondern bieten eingehende Analysen der Bestimmungen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass immer wieder verfassungs- und unionsrechtliche Überlegungen zu den einfachgesetzlichen Bestimmungen angestellt werden. Da zum Zeitpunkt der Publikation kaum Literatur und keine Rsp zum neuen Recht der PVE vorlagen, betreten die Autoren naturgemäß Neuland. Eine umfassende Besprechung sämtlicher Kommentierungen kann und soll im vorliegenden Zusammenhang nicht erfolgen. Vielmehr werden im Folgenden lediglich einige zentral erscheinende Rechtsansichten herausgegriffen und allenfalls ergänzt bzw kritisch gewürdigt, wobei sich die Ausführungen auf die Kommentierungen zum PrimVG sowie zum ASVG beschränken.

In welchen Organisationsformen PVE geführt werden können, normiert § 2 Abs 5 PrimVG. An einem Standort kann eine PVE gem § 2 Abs 5 Z 1 PrimVG entweder in der Organisationsform einer Gruppenpraxis nach § 52a ÄrzteG oder als selbstständiges Ambulatorium gem § 2 Abs 1 Z 5 KAKuG betrieben werden. Wird eine PVE als an mehreren Standorten als Netzwerk, „zB in Form eines Vereins, geführt, so kann diese“ gem § 2 Abs 5 Z 2 PrimVG „nur aus freiberuflich tätigen Ärztinnen und Ärzten, Gruppenpraxen sowie anderen nichtärztlichen Angehörigen von Gesundheits- und Sozialberufen oder deren Trägerorganisationen gebildet werden“. Wie sich aus § 8 Abs 1 Z 3 lit a PrimVG ergibt, kann ein PVE-Netzwerk zudem als Gruppenpraxis an mehreren Standorten („dislozierte Gruppenpraxis“) geführt werden (Cerha, § 9 PrimVG Rz 1). Demgegenüber darf eine PVE an mehreren Standorten weder in der Betriebsform eines Ambulatoriums geführt werden noch ist die Beteiligung eines Ambulatoriums an einem PVE-Netzwerk gesetzlich zulässig (Wallner, § 2 PrimVG Rz 25). Für diese Differenzierung zwischen Gruppenpraxen und Ambulatorien ist aus Sicht des Rezensenten keine sachliche Rechtfertigung ersichtlich (eine solche wird auch nicht in den Gesetzesmaterialien dargeboten), was jedoch im Kommentar nicht moniert wird.

Nach § 2 Abs 4 PrimVG muss eine PVE „über einen auf dem Sachleistungsprinzip beruhenden Primärversorgungsvertrag (§ 8) mit den in Betracht kommenden Krankenversicherungsträgern verfügen, wobei jedenfalls die örtlich zuständige Gebietskrankenkasse Vertragspartner der Primärversorgungseinheit sein muss“. Das bedeutet jedenfalls, dass „reine Wahl-PVE“ nicht möglich sind (Wallner, § 3 PrimVG Rz 32). Daraus folgt aber nach zutreffender Ansicht von Wallner (§ 3 PrimVG Rz 30 f) nicht, dass eine Kostenerstattung nach § 131 ASVG stets ausgeschlossen ist. Vielmehr gilt es im Einzelfall zu klären, inwieweit eine Kostenerstattung im sogenannten „kassenfreien Raum“ möglich ist, was freilich in Rsp und Lehre überaus uneinheitlich beantwortet wird.

Die §§ 9 und 10 PrimVG beinhalten marktzugangsbezogene leges speciales für PVE in der Organisationsform von Gruppenpraxen bzw Ambulatorien, die von den einschlägigen Vorschriften des ÄrzteG bzw des KAKuG abweichen. Besonders bemerkenswert ist die in § 10 Z 4 PrimVG normierte Gesellschafterbeschränkung für PVE in der Organisationsform eines Ambulatoriums (dazu auch Stöger in Baumgartner 32 f). Demnach „dürfen Gesellschafterinnen und Gesellschafter von Primärversorgungseinheiten in Form von selbständigen Ambulatorien nur gemeinnützige Anbieter gesundheitlicher oder sozialer Dienste, gesetzliche Krankenversicherungsträger, Gebietskörperschaften bzw. von Gebietskörperschaften eingerichtete Körperschaften und Fonds sein“. Zutreffend stuft Cerha (PrimVG § 10 Rz 27) die Gesellschafterbeschränkung auf gemeinnützige AnbieterInnen sowohl aus Sicht der innerstaatlichen Grundrechte (Erwerbsfreiheit und Gleichheitssatz) als auch der EU-Niederlassungsfreiheit als problematisch ein. Zu ergänzen ist, dass dies vor allem deshalb gilt, weil Gruppenpraxen sehr wohl gewinnorientiert eine PVE führen dürfen (dazu näher Potacs/Scholz, Ambulatorien und Gruppenpraxen, in Pfeil/Schrattbauer [Hrsg], Organisation guter PatientInnenversorgung – Anspruch und Wirklichkeit [in Druck]). Gerade aus unionsrechtlicher Sicht erscheint eine Rechtfertigung dieser Privilegierung von ärztlichen Gruppenpraxen gegenüber selbstständigen Ambulatorien kaum möglich. Hat doch der EuGH in der Rs Hartlauer eine Besserstellung von zahnärztlichen Gruppenpraxen gegenüber Zahnambulatorien für unzulässig befunden und dabei betont, dass sich „die zahnmedizinische Versorgung in selbständigen Ambulatorien als rationeller erweisen“ kann, „wenn man ihre Organisationsweise, die Vielzahl der Ärzte und die Bündelung medizinischer Apparate und Ausstattung berücksichtigt, die es ihnen erlaubt, die Betriebskosten zu senken“ (EuGH 10.3.2009, C-169/07, Hartlauer, ECLI:EU:C:2009:141, Rn 62).

Im Hinblick auf den Gleichheitssatz und die Erwerbsfreiheit, aber vor allem vor dem Hintergrund der erläuterten Rsp des EuGH in der Rs Hartlauer, erscheint auch die Bevorzugung von VertragsärztInnen und Vertragsgruppenpraxen gegenüber nicht gewinnorientierten Ambulatorien mit Kassenvertrag im Rahmen des Auswahlverfahrens für PVE nach § 14 PrimVG als überaus problematisch (dazu eingehend Potacs/Scholz in Pfeil/Schrattbauer [Hrsg], Organisation guter PatientInnenversorgung – Anspruch und Wirklichkeit). Darauf wird allerdings im Kommentar (Cerha, § 14 PrimVG) nicht eingegangen, was somit ein Desiderat für eine zweite Auflage wäre.

Resch bietet eine tiefgreifende Kommentierung der für PVE relevanten Bestimmungen des ASVG (insb §§ 342-343 und 348). Dabei analysiert er auch das Verhältnis zwischen den PVE und den kasseneigenen Ambulatorien (Vor § 342 ASVG Rz 18 ff). Zutreffend gelangt er aufgrund einer systematischen Interpretation zum Ergebnis, dass eine kasseneigene Einrichtung nicht als PVE geführt werden kann (Vor § 342 ASVG Rz 19). Beizupflichten ist Resch auch darin, dass die Regelung des § 3 Abs 9a KAKuG, wonach eine Errichtungsbewilligung für ein kasseneigenes Ambulatorium jedenfalls dann zu erteilen ist, wenn ein Auswahlverfahren570 nach § 14 PrimVG erfolglos geblieben ist, nur dann sachgemäß erscheint, wenn im vorangegangenen Auswahlverfahren die Bedarfsfrage unstrittig war (Vor § 342 ASVG Rz 24 ff, insb 26). § 3a Abs 9 KAKuG ist mE einer dementsprechenden verfassungskonformen Interpretation zugänglich. Nicht zu überzeugen vermag hingegen die Auffassung, dass im Fall der Kündigung eines Primärversorgungsvertrags nach § 342c Abs 8 Z 4 ASVG für das Wiederaufleben eines vor dem Zusammenschluss zu einer PVE bestandenen Einzelvertrages ein „Verlangen des betroffenen Arztes“ erforderlich ist (so Resch, § 342c Rz 39). Denn nach der ausdrücklichen Anordnung in § 342c Abs 12 ASVG leben in diesem (und einem weiteren) Kündigungsfall „die bisherigen (Gruppenpraxis-)Einzelverträge wieder auf“. Zum Wiederaufleben des ursprünglichen Einzelvertrages kommt es demnach auch ohne Zutun der betroffenen ÄrztInnen. Diese können den Einzelvertrag nach allgemeinen Regeln (§ 343 Abs 4 ASVG) kündigen.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es sich bei dem besprochenen Kommentar um eine überaus lesenswerte Auseinandersetzung mit dem neuen Recht der PVE handelt, die stets die Querbezüge der Regelungen des PrimVG zu anderen Rechtsgebieten (insb Krankenanstalten-, Ärzte- und Sozialversicherungsrecht) im Blick behält. Er ist daher allen mit einschlägigen Rechtsfragen in Wissenschaft und Praxis Befassten nachdrücklich zu empfehlen.571