47Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht durch Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft auch nach kurzem Dienstverhältnis
Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht durch Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft auch nach kurzem Dienstverhältnis
Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht für mindestens sechs Monate aufgrund der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft liegt auch dann vor, wenn Erwerbstätige aus von ihrem Willen unabhängigen Gründen gezwungen waren, ihre Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines Jahres zu beenden, unabhängig davon, ob sie eine Erwerbstätigkeit als AN oder Selbständiger ausgeübt haben oder ob sie einen befristeten Vertrag mit einer Laufzeit von über einem Jahr, einen unbefristeten Vertrag oder jede andere Art von Vertrag geschlossen haben.
Wenn das nationale Recht Personen, die eine unselbständige oder selbständige Tätigkeit nur für einen kurzen Zeitraum ausgeübt haben, vom Vorteil der Rechte auf Sozialleistungen ausschließt, gilt dieser Ausschluss gleichermaßen für Erwerbstätige anderer Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
[...]
9 Der Kl des Ausgangsverfahrens ist ein rumänischer Staatsangehöriger, der erstmals im Mai 2007 nach Irland kam, wo er vom 5. bis 30.7.2007 und vom 15.8. bis 14.9.2007 beschäftigt war. Zwar ist nicht nachgewiesen, dass er sich zwischen 2007 und 2013 in Irland aufhielt, doch steht fest, dass er vom 22.7. bis 24.9.2013 und dann vom 8. bis 22.7.2014 wieder beschäftigt war und für die letztgenannte Beschäftigung ein Gehalt von 1.309 € bezog. Außerdem arbeitete er vom 17.11. bis 5.12.2014 als selbständiger Subunternehmer.
[...]
12 Am 6.11.2014 stellte der Kl des Ausgangsverfahrens einen zweiten Antrag auf den Zuschuss für Arbeitsuchende, der am 26.11.2014 mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass er seit seiner Ankunft in Irland nicht mindestens ein Jahr lang gearbeitet habe und dass die von ihm vorgelegten Belege nicht als Nachweis seines gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat ausreichten.
[...]
16 Am 5.5.2016 hat der Kl des Ausgangsverfahrens gegen die Abweisung seiner Klage Berufung beim vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), eingelegt, nach dessen Auffassung es im Ausgangsrechtsstreit im Kern um die Frage geht, ob einer Person, die weniger als ein Jahr erwerbstätig war, die Erwerbstätigeneigenschaft iSv Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 erhalten bleibt.
[...]
18 Fraglich sei daher, ob davon auszugehen sei, dass dem Kl des Ausgangsverfahrens die Erwerbstätigeneigenschaft iS von Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 erhalten geblieben sei, weil er im Juli 2014 zwei Wochen lang erwerbstätig gewesen sei, so dass er grundsätzlich Anspruch auf den Zuschuss für Arbeitsuchende hätte, da er unfreiwillig arbeitslos geworden sei und sich dem Arbeitsamt zur Verfügung gestellt habe.
[...]
21 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Bleibt einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats der Union, der, nachdem er die ersten zwölf Monate lang sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, im Aufnahmemitgliedstaat ankommt und dort für einen Zeitraum von zwei Wochen (anders als mit einem befristeten Vertrag) arbeitet, wofür er bezahlt wird, und der anschließend unfreiwillig arbeitslos wird, dadurch gem Art 7 Abs 3 Buchst c und Art 7 Abs 1 Buchst a der RL 2004/38 die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens weitere sechs Monate erhalten, so dass er auf derselben Grundlage wie ein gebietsansässiger Staatsangehöriger des Aufnahmemitgliedstaats einen Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder gegebenenfalls Sozialversicherungsleistungen hat? 513
Zur Vorlagefrage
[...]
24 Dabei sieht Art 7 Abs 1 Buchst a der RL 2004/38 vor, dass jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, für einen Zeitraum von über drei Monaten hat, wenn er AN oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist.
25 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht, das dem Gerichtshof hierzu keine Frage gestellt hat, davon ausgeht, dass der Kl des Ausgangsverfahrens aufgrund der Tätigkeit, die er im Aufnahmemitgliedstaat zwei Wochen lang ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft iSd letztgenannten Bestimmung besitzt.
[...]
29 Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 sieht aber vor, dass dem Unionsbürger „bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit
“ ebenfalls die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt.
30 Schon aus dem Wortlaut von Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38, insb aus der Verwendung der gleichordnenden Konjunktion „oder“, ergibt sich, dass diese Vorschrift in zwei Fällen die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft – als AN oder Selbständiger – während mindestens sechs Monaten vorsieht.
[...]
33 Das vorlegende Gericht möchte deshalb wissen, ob ein Erwerbstätiger wie der Kl des Ausgangsverfahrens, der im Aufnahmemitgliedstaat während eines Zeitraums von zwei Wochen anders als aufgrund eines befristeten Vertrags beschäftigt war und dann unfreiwillig arbeitslos wird, unter den zweiten Fall einzuordnen ist, der jeden Erwerbstätigen betrifft, der sich in der Situation „im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit“ befindet.
[...]
39 Im vorliegenden Fall ergibt sich zunächst aus Art 7 Abs 1 Buchst a iVm Art 7 Abs 3 der RL 2004/38, dass die in Art 7 Abs 3 vorgesehene Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft jedem Unionsbürger zuerkannt wird, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit gleich welcher Art ausgeübt hat, dh, gleich ob er eine Erwerbstätigkeit als AN oder Selbständiger ausgeübt hat (vgl in diesem Sinne Urteil vom EuGH 20.12.2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn 37 und 38).
[...]
42 So garantiert Art 7 Abs 1 der RL 2004/38 jedem AN oder Selbständigen insb ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat für mehr als drei Monate.
43 Ferner garantiert Art 7 Abs 3 der Richtlinie jedem vorübergehend nicht erwerbstätigen Unionsbürger die Aufrechterhaltung seiner Erwerbstätigeneigenschaft und infolgedessen seines Rechts auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, indem er bei den Voraussetzungen dieser Aufrechterhaltung ebenfalls eine Abstufung vornimmt, die [...] zum einen vom Grund seiner Untätigkeit, im vorliegenden Fall je nachdem, ob er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls arbeitsunfähig ist, unfreiwillig arbeitslos ist oder sich in einer Berufsausbildung befindet, und zum anderen von der ursprünglichen Dauer seiner Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat, dh je nachdem, ob diese Dauer länger oder kürzer als ein Jahr ist, abhängt.
[...]
45 Dagegen bleibt dem Unionsbürger, der weniger als ein Jahr lang im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als AN oder Selbständiger ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nur für einen Zeitraum erhalten, dessen Dauer der Mitgliedstaat festlegen darf, wobei sie nicht weniger als sechs Monate betragen darf.
46 Der Aufnahmemitgliedstaat darf nämlich die Dauer der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft des Unionsbürgers, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als AN oder Selbständiger ausgeübt hat, begrenzen, doch darf er sie gem Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 nicht auf weniger als sechs Monate verkürzen, wenn dieser Bürger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen arbeitslos wird, bevor er ein Jahr Erwerbstätigkeit zurücklegen konnte.
[...]
48 Ausgehend von dem in dieser Bestimmung genannten zweiten Fall muss dies auch in all den Situationen der Fall sein, in denen ein Erwerbstätiger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen gezwungen war, seine Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines Jahres zu beenden, unabhängig von der Art der ausgeübten Erwerbstätigkeit und der Art des hierzu geschlossenen Arbeitsvertrags, dh unabhängig davon, ob er eine Erwerbstätigkeit als AN oder Selbständiger ausgeübt hat und ob er einen befristeten Vertrag mit einer Laufzeit von über einem Jahr, einen unbefristeten Vertrag oder jede andere Art von Vertrag geschlossen hat.
49 Diese Auslegung entspricht dem mit der RL 2004/38 in erster Linie verfolgten Ziel, das – wie in Rn 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt – darin besteht, das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu stärken, und dem speziell mit ihrem Art 7 Abs 3 verfolgten Ziel, das darin besteht, durch die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft das Aufenthaltsrecht der Personen zu sichern, die ihre Berufstätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit aufgegeben haben, der auf von ihrem Willen unabhängigen Umständen beruht (vgl in diesem Sinne Urteile vom 15.9.2015, Alimanovic, C-67/14, EU:C:2015:597, Rn 60, vom 25.2.2016, García-Nieto ua, C-299/14, EU:C:2016:114, Rn 47, und vom 20.12.2017, Gusa, C-442/16, EU:C:2017:1004, Rn 42).
[...]
51 Dem zehnten Erwägungsgrund der RL 2004/38 ist zwar zu entnehmen, dass die Richtlinie zu vermeiden versucht, dass Personen, die ihr Aufenthaltsrecht514ausüben, während ihres ersten Aufenthalts die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.
52 Insoweit ist indessen festzustellen, dass die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gem Art 7 Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 entsprechend den Ausführungen in den Rn 24 bis 29 des vorliegenden Urteils voraussetzt, dass der betreffende Bürger zum einen vor seinem Zeitraum unfreiwilliger Arbeitslosigkeit tatsächlich die Erwerbstätigeneigenschaft iSd Richtlinie besessen und sich zum anderen dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt hat. Zudem darf der betreffende Aufnahmemitgliedstaat die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft während eines Zeitraums unfreiwilliger Arbeitslosigkeit auf sechs Monate begrenzen.
[...]
54 Folglich ist Art 7 Abs 1 und Abs 3 Buchst c der RL 2004/38 dahin auszulegen, dass einem Unionsbürger, der sich in einer Situation wie der des Kl des Ausgangsverfahrens befindet und aufgrund der Erwerbstätigkeit, die er zwei Wochen lang ausgeübt hat, bevor er unfreiwillig arbeitslos geworden ist, die Erwerbstätigeneigenschaft iS von Art 7 Abs 1 Buchst a der Richtlinie erworben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt hat.
55 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass nach dem 20. Erwägungsgrund und Art 24 Abs 1 der RL 2004/38 vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im AEU-Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie, insb ihres Art 7 Abs 3 Buchst c, wonach dem Bürger die Erwerbstätigeneigenschaft als AN oder Selbständiger erhalten bleibt, im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des AEU-Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießt.
56 Folglich gilt [...] in dem Fall, dass das nationale Recht Personen, die eine unselbständige oder selbständige Tätigkeit nur für einen kurzen Zeitraum ausgeübt haben, vom Vorteil der Rechte auf Sozialleistungen ausschließt, dieser Ausschluss gleichermaßen für Erwerbstätige anderer Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben.
57 Demnach ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts allein zuständig ist, festzustellen, ob der Kl des Ausgangsverfahrens in Anwendung des nationalen Rechts und im Einklang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung den im Rahmen des Ausgangsverfahrens geltend gemachten Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder Sozialversicherungsleistungen hat [...].
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art 7 Abs 1 Buchst a und Abs 3 Buchst c der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der VO (EWG) 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/ EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/ EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch die Tätigkeit, die er dort für einen Zeitraum von zwei Wochen anders als aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags ausgeübt hat, die Erwerbstätigeneigenschaft iS von Art 7 Abs 1 Buchst a der Richtlinie erworben hat, bevor er unfreiwillig arbeitslos wurde, die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens weitere sechs Monate im Rahmen dieser Vorschriften erhalten bleibt, sofern er sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt.
Das vorlegende Gericht hat zu klären, ob dieser Staatsangehörige in Anwendung des in Art 24 Abs 1 der RL 2004/38 gewährleisteten Grundsatzes der Gleichbehandlung infolgedessen wie ein Staatsangehöriger des Aufnahmemitgliedstaats Anspruch auf Sozialhilfezahlungen oder gegebenenfalls auf Sozialversicherungsleistungen hat.
Das Urteil des EuGH in der Rs Tarola reiht sich ein in die mittlerweile lange Liste der Entscheidungen an der Schnittstelle des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts und des Zugangs zu sozialen Rechten. Es sind mehrere Aspekte, die dieses Urteil interessant machen: Zunächst klärt der EuGH die Frage, ob die Erwerbstätigeneigenschaft auch nach sehr kurzer Erwerbstätigkeit für mindestens sechs Monate aufrechterhalten wird oder ob für diese Aufrechterhaltung eine gewisse Nachhaltigkeit der vorangegangenen Erwerbstätigkeit nötig ist, weiters die Frage, ob die Wortfolge „im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit
“ sich auf die Einreise oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bezieht. Zuletzt ist die vom Gerichtshof nicht thematisierte (oder besser ignorierte) Frage der mittelbaren Diskriminierung bei bloß formaler Gleichbehandlung beim Bezug von Sozialleistungen erwähnenswert.
Wenn UnionsbürgerInnen in einem anderen Mitgliedstaat erwerbstätig waren, behalten sie nach Ende dieser Erwerbstätigeneigenschaft zumindest temporär ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat. Ausgangspunkt des Verfahrens war ein tatsächlich sehr kurzes Dienstverhältnis bzw kurze Phasen der Erwerbstätigkeit (siehe oben Rn 9 des Urteils), im Zuge des Verfahrens wurde daher die Frage aufgeworfen, ob es eine Nachhaltigkeitsschwelle bzw allenfalls eine515 „Bagatellgrenze“ gibt, unterhalb derer eine Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft nicht bewirkt wird. Diese Frage zerfällt wieder in zwei Teile: Zum einen, ob es in zeitlicher Hinsicht eine Schwelle gibt, über der eine Erwerbstätigkeit den AN-Begriff erfüllt, und zum anderen, wenn AN-Eigenschaft vorliegt, ob daraufhin in allen Fällen eine Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft folgen muss.
In stRsp hat der EuGH zum Begriff der unselbständigen Arbeit folgende Definition herausgearbeitet: „Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht aber darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.
“ (EuGH 3.7.1986, C-66/85, Lawrie Blum, Rn 17; EuGH 11.9.2008, C-228/07, Petersen, Rn 45). Explizit unschädlich für diese Begriffsdefinition ist, wenn lediglich eine geringe Anzahl von Wochenstunden gearbeitet wird oder die betreffende Person nur eine geringe Vergütung erhält (EuGH Rs Lawrie Blum, Rn 21). Außer Betracht bleiben lediglich Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (siehe dazu anstatt vieler EuGH 4.2.2010, C-14/09, Hava Genc, Rn 26). Zwar ist umstritten, ob diese Definition für alle Bereiche des EU-Arbeitsrechts anwendbar ist (Barnard, EU Employment Law4 [2012] 144; kritisch Risak/Dullinger, Der ArbeitnehmerInnenbegriff im EU-Arbeitsrecht – Status Quo und Veränderungspotenzial, DRdA 2018, 206); es besteht mE aber kein Anlass, daran zu zweifeln, dass diese vom Gerichtshof herausgearbeitete Formel für die Erwerbstätigeneigenschaft und deren Aufrechterhaltung iSd Art 7 RL 2004/38/EG relevant ist.
Die Frage, ob im konkreten Fall ein Dienstverhältnis vorlag, das die Schwelle der AN-Freizügigkeit überschritt, hat der EuGH überbrückt, da das Gericht „hierzu keine Frage gestellt“ habe (Rn 25). Das ist erstaunlich, da es viele Beispiele für Urteile des EuGH gibt, in denen der Gerichtshof die Fragen umformuliert hat, um (aus seiner Sicht) sachgerechte Antworten geben zu können (siehe zB EuGH 19.9.2013, C-140/12, Brey, Rn 32; vgl auch Windisch-Graetz, Zugang zu Sozialleistungen unter Berücksichtigung des Aufenthaltsstatus, DRdA 2015, 444). Zwar kann explizit auch ein Dienstverhältnis mit lediglich 5,5 Arbeitsstunden pro Woche vom AN-Begriff umfasst sein, wenn ein Tarifvertrag anwendbar ist, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall möglich ist sowie bezahlter Urlaub vorgesehen ist (EuGH Rs Hava Genc, Rn 26 f), allerdings sind bei der Beurteilung der Frage, ob es sich um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt, die beschränkte Dauer der im Rahmen eines Vertrags über Gelegenheitsarbeit tatsächlich erbrachten Leistungen zu berücksichtigen und können ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind (EuGH 26.2.1992, C-357/89, Raulin, Rn 14).
Es ist daher durchaus möglich, dass bei einem kurzen Dienstverhältnis als „Gelegenheitsarbeiter“ (Herr Tarola war als Gelegenheitsarbeiter tätig; SA GA Szpunar, 15.11.2018, C-483/17, Tarola) AN-Eigenschaft iSd Art 45 AEUV nicht vorliegt. Ob bei einem Dienstverhältnis von kurzer Dauer bzw wenigen geleisteten Stunden die AN-Eigenschaft vorliegt, kann daher nur in jedem Einzelfall beurteilt werden. Fest steht aber, dass Umstände vor Beginn und nach Ende der Erwerbstätigkeit für die Beurteilung, ob die Tätigkeit völlig untergeordnet war, nicht relevant sind (EuGH 6.11.2003, C-413/01, Ninni Orasche, Rn 32).
Wenn ein solches kurzes Dienstverhältnis von der AN-Freizügigkeit umfasst ist, bleibt die Frage, ob es nach dem Sekundärrecht (Art 7 Abs 3 lit c RL 2004/38/EG) die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate davon abhängig gemacht werden darf, dass diese Tätigkeit eine gewisse Nachhaltigkeit hatte. Art 7 Abs 3 RL 2004/38/EG kennt zwei Abstufungen der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft und differenziert, ob eine Erwerbstätigkeit länger oder kürzer als ein Jahr gedauert hat: Im ersten Anwendungsfall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft grundsätzlich unbefristet vorhanden (aber nur, wenn und solange die Personen in der Lage sind, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen [vgl in diesem Sinn EuGH 13.9.2018, C-618/16, Prefeta, Rn 37, allerdings zu nicht rechtmäßiger Erwerbstätigkeit von UnionsbürgerInnen während der Geltung von Übergangfristen auf dem Arbeitsmarkt]), war die Dauer der Erwerbstätigkeit kürzer als ein Jahr, wird diese für mindestens sechs Monate aufrecht erhalten. Bereits in der Rs Alimanovic hat der EuGH eine stark am Wortlaut der RL 2004/38/EG orientierte Auslegung der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gewählt (vgl EuGH 15.9.2015, C-67/14, Alimanovic, Rn 60). Auch in diesem Fall orientiert sich die Auslegung primär am Wortlaut (Rn 58). Der Gerichtshof folgt damit dem GA, der die Meinung vertritt, dass die Mitgliedstaaten die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft nicht davon abhängig machen dürfen, dass Betroffene eine unselbständige Tätigkeit während einer anderen Mindestdauer als der in Art 7 Abs 3 Buchst c RL 2004/38 festgelegten ausgeübt hat, da andernfalls eine zusätzliche Begrenzung eingeführt würde, die der Unionsgesetzgeber nicht vorgesehen hat (SA GA Szpunar, C-483/17, Rn 58).
Dieses Ergebnis ist mE auch nicht zu beanstanden: Es ist klar, dass AN ein Aufenthaltsrecht haben, solange sie eine nicht völlig untergeordnete Erwerbstätigkeit ausüben, es ist auch unstrittig, dass Art 7 Abs 1 lit a RL 2004/38/EG einheitlich ausgelegt werden muss. Art 7 Abs 3 lit c RL 2004/38/EG schließt direkt an diese Bestimmung an: Gäbe es die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft nicht, würde das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht unmittelbar mit Ende der Beschäftigung enden (siehe aber [innerstaatlich] zur Bestandskraft einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts VwGH 16.5.2019, Ro 2019/21/0004), allenfalls würde (aber nicht in allen Fällen) ein Aufenthaltsrecht aufgrund der allgemeinen Personenfreizügigkeit folgen, wenn aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld Unterhaltsmittel516in ausreichender Höhe sowie eine KV vorliegen. Daher ist klar, dass auch die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft in allen Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden muss (EuGH Rs Tarola, Rn 36 mit Verweis auf EuGH 21.12.2011, C-424/10 und C-425/10, Ziolkowski und Szeja, Rn 32). Aus diesem Grund ist die Ansicht von einigen Regierungen, die sowohl von einer Grenze ausgehen, unterhalb derer eine Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft nicht zwingend sei, als auch vertreten, deren Festlegung sei jeweils den nationalen Behörden überlassen, nicht haltbar. Die Regierungen begründen diese Ansicht mit ErwGr 10, wonach UnionsbürgerInnen die Sozialhilfe nicht „unangemessen“ in Anspruch nehmen sollen (SA GA SzpunarC-483/17, Rn 53). Es gibt daher keine Mindestbeschäftigungsdauer für die Frage der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft (zur Geltung bei selbständiger Erwerbstätigkeit siehe EuGH 20.12.2012, C-442/16, Gusa, Rn 43 ff), sodass diese – bei Erfüllung der Voraussetzungen – auch nach einer sehr kurzen Erwerbstätigkeit eintritt.
Allerdings existiert doch eine solche „Bagatellgrenze“: Ist nämlich die zuvor ausgeübte Tätigkeit wie oben beschrieben völlig untergeordnet, liegt von vornherein kein Ausnützen der AN-Freizügigkeit vor und es kann folglich auch die Erwerbstätigeneigenschaft nicht aufrechterhalten werden. Umgekehrt aber folgt jeder Erwerbstätigkeit, die unionsrechtlich beachtlich ist, die Phase der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft (wenn nicht ohnehin bereits gem Art 16 RL 2004/38/EG ein Daueraufenthaltsrecht erworben wurde).
Gem Art 7 Abs 3 lit c zweiter Fall RL 2004/38/EG wird die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten, wenn sich die betreffenden UnionsbürgerInnen bei „im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung
“ stellen. Bei reiner Betrachtung des Wortlautes des Art 7 Abs 3 lit c RL 2004/38/EG kann tatsächlich unklar sein, ob sich die genannten zwölf Monate auf die Einreise oder die Aufnahme der Erwerbstätigkeit beziehen. Wenig überraschend kommt der EuGH zum Ergebnis, dass die genannten zwölf Monate mit Aufnahme der anspruchsbegründenden Erwerbstätigkeit zu laufen beginnen, da die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft dann eintritt, wenn Erwerbstätige aus von ihrem Willen unabhängigen Gründen gezwungen waren, ihre Erwerbstätigkeit vor Ablauf eines Jahres zu beenden, unabhängig, ob sie einen befristeten Vertrag mit einer Laufzeit von über einem Jahr, einen unbefristeten Vertrag oder jede andere Art von Vertrag geschlossen haben (EuGHRs Tarola, Rn 48). Für eine andere Auslegung kann es mE auch keinen Raum geben, erstaunlich ist eigentlich nur, dass dies Teil einer Vorlagefrage war.
An dieser Stelle hätte der EuGH die Prüfung auch beenden und die Vorlagefrage (Rn 21 des Urteils) letztlich mit einem simplen „Ja“ beantworten können. Der Gerichtshof gibt aber noch weitere Hinweise zur Frage der Gewährung von Sozialleistungen bei Vorliegen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts: Art 24 RL 2004/38/EG garantiere die Gleichbehandlung mit eigenen StaatsbürgerInnen: Wenn also das nationale Recht alle Personen, die eine Erwerbstätigkeit nur für kurze Zeit ausgeübt haben, von bestimmten Sozialleistungen ausschließe, gelte dieser Ausschluss „gleichermaßen für Erwerbstätige anderer Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben
“ (EuGH Rs Tarola, Rn 56).
Nach klarer Meinung des EuGH kann ein Mitgliedstaat offenbar solche Regelungen einführen, ohne dabei gegen Unionsrecht zu verstoßen. Der Gerichtshof erwähnt mit keinem Wort eine mögliche mittelbare Diskriminierung, die nach stRsp des EuGH ebenso wie eine unmittelbare Ungleichbehandlung verpönt ist (ausführlich Windisch-Graetz, Art 45 AEUV, in Jäger/Stöger, EUV/AEUV (132. Lfg 2012) Rn 63). Dabei liegt es auf der Hand, dass Voraussetzungen für den Bezug einer Sozialleistung, für die eine Mindestbeschäftigungszeit oder ein gewöhnlicher Aufenthalt von einer bestimmten Dauer (vgl Ablehnung des ersten Antrages von Herrn Tarola, Rn 10) erforderlich ist, idR von eigenen StaatsbürgerInnen leichter erfüllt werden können als von UnionsbürgerInnen, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates sind.
Nun kann eine solche mittelbare Diskriminierung grundsätzlich gerechtfertigt werden, ua wenn die Unterscheidung nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderläuft (Windisch-Graetz Art 45, Rn 65; Streinz, Europarecht9 [2012] Rn 804 und 811). Der hier offenbar ausgestellte „Persilschein“ ist aber verwunderlich: Zwar ist klar, dass die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft per se nicht zum Erhalt von Sozialleistungen, sondern nur zur Gleichbehandlung mit eigenen StaatsbürgerInnen berechtigt. Der EuGH gibt aber zu erkennen (vgl Rn 56), dass der Ausschluss von Personen, die etwa zu kurz gearbeitet haben bzw zu kurz im betreffenden Mitgliedstaat aufhältig waren, im jeweiligen nationalen Recht verankert werden kann, ohne dass unionsrechtliche Schranken zu beachten wären (in diesem Sinn Strumia, Unemployment, residence rights, social benefits at three crossroads in the Tarola ruling [2019], http://eulawanalysis.blogspot.com/2019/04/unemployment-residencerights-social.htmlhttp://eulawanalysis.blogspot.com/2019/04/unemployment-residencerights-social.html [11.9.2019]). Damit soll zwar wohl nicht die Judikatur zu mittelbarer Diskriminierung aufgehoben werden, aber es soll offenbar bei sozialen Rechten für Personen, die eine Erwerbstätigeneigenschaft aufrechterhalten, bei der Prüfung einer möglichen mittelbaren Diskriminierung ein großzügiger Maßstab angelegt werden. Solche Regelungen517 wären aber geeignet, das Recht auf Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft de facto zu unterminieren. Erst eine mögliche Folgejudikatur wird zeigen, ob der Gerichtshof seine frühere Judikatur zu mittelbarer Diskriminierung auch bezüglich Sozialleistungen für aktuell nicht erwerbstätige UnionsbürgerInnen aufrechterhalten möchte.
Das Urteil in der Rs Tarola beginnt wenig spektakulär: Es ist einleuchtend, dass – nach einer unionsrechtlich beachtlichen Erwerbstätigkeit – keine weitere Nachhaltigkeitsschwelle für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft eingezogen werden darf, zumal der EuGH mangels vom vorlegenden Gericht gestellter Frage offen lässt, ob nicht die AN-Eigenschaft von Herrn Tarola zu hinterfragen gewesen wäre. Ebenso logisch ist, dass die Rechtsfolge der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft für alle Erwerbstätigen gilt, die in den ersten zwölf Monaten nach Aufnahme der Erwerbstätigkeit unfreiwillig arbeitslos werden. Nicht nachvollziehbar ist aber, dass der EuGH offenbar innerstaatliche Regelungen, die unterschiedslos für UnionsbürgerInnen und eigene StaatsbürgerInnen gelten, nicht auf das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung zumindest einer Prüfung unterzieht. Eine einschränkende Sicht auf eine mittelbare Diskriminierung würde aber faktisch das Recht auf Gleichbehandlung von UnionsbürgerInnen einschränken, in manchen Fällen abschaffen. Damit schließt sich auch wieder der Kreis zu den vorangegangenen Urteilen an der Schnittstelle des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts zu sozialen Rechten (EuGH-Urteile in den Rs C-140/12, Brey, C-333/13, Dano, C-67/14, Alimanovic, C-299/14, Garcia Nieto und C-308/14, UK/KOM): Die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, Sozialleistungen „an den Rändern“ der AN-Freizügigkeit bzw Personenfreizügigkeit einzuschränken, werden immer größer.