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Die Berechnung von Wochengeld, wenn ausschließlich Einkommen in einem anderen Mitgliedstaat erzielt wurde

MANFREDPÖLTL (WIEN)
  1. Erzielen Versicherte während des Beobachtungszeitraums des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG sowohl aus Beschäftigungen in Österreich als auch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einen Arbeitsverdienst, so haben die ausländischen Beschäftigungszeiten bei der Berechnung der Höhe des Wochengeldes als „neutrale“ Zeiten unberücksichtigt zu bleiben (sind daher von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage abzuziehen). Dies gilt nicht für ausländische Zeiten einer Arbeitsunterbrechung infolge Urlaubs ohne Entgeltzahlung, sofern dieser Urlaub die Dauer eines Monats überschreitet.

  2. Die Sonderregelung des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG kommt auch zur Anwendung, wenn im Beobachtungszeitraum nach § 163 Abs 3 Satz 1 ASVG ausschließlich Einkommen aus einem anderen Mitgliedstaat vorliegt.

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Höhe eines der Kl dem Grunde nach unstrittig zustehenden Anspruchs auf Wochengeld für den Zeitraum eines individuellen Beschäftigungsverbots von 15.9.2017 bis 2.10.2017.

Die Kl war von 1.1.2015 bis 31.8.2017 in Deutschland beschäftigt. Ihr erstes Kind wurde am 8.3.2016 geboren. Von diesem Zeitpunkt an bis zum 25.7.2017 befand sich die Kl in Karenz. Vom 26.7.2017 bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses zum deutschen AG mit 31.8.2017 verbrauchte sie ihren offenen Resturlaub, wofür sie vom deutschen AG ein Urlaubsentgelt von 7.729,01 € erhielt.

Vom 1.9.2017 bis zum 14.9.2017 war die in Österreich wohnhafte Kl bei einem österreichischen DG im Inland als DN beschäftigt. Sie verdiente in diesem Zeitraum unstrittig 2.025,90 € netto. Der Arbeitsverdienst der Kl wurde nach Kalendermonaten bemessen und abgerechnet.

Am 15.9.2017 musste die Kl aufgrund von Komplikationen bei einer neuen Schwangerschaft einen vorzeitigen Mutterschutz bis 2.10.2017 in Anspruch nehmen.

[... Mit Bescheid der bekl Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter vom 28.11.2017 wurde der531 Kl ein Wochengeld in Höhe von 22,11 € täglich von 15.9.2017 bis 2.10.2017 zugesprochen. Das Erstgericht sprach der Kl ein tägliches Wochengeld von 27,56 € für den Zeitraum von 15.9.2017 bis 2.10.2017 zu. Im Umfang dieses Zuspruchs erwuchs das Urteil unangefochten in Rechtskraft. Hingegen wies das Erstgericht das Mehrbegehren auf Zuerkennung eines Wochengeldes von täglich (weiteren) 52,99 € ab. Das Berufungsgericht gab der von der Kl gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung Folge und erkannte der Kl ein Wochengeld von 80,55 € täglich für den Zeitraum 15.9.2017 bis 2.10.2017 zu. ...]

Dazu ist auszuführen:

[...]

2.1 Der Versicherungsfall der Mutterschaft trat am 15.9.2017 (§ 120 Z 3 ASVG) ein, sodass der Beobachtungszeitraum des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG im Zeitraum von 1.6.2017 bis zum 31.8.2017 liegt. Die Kl war in diesem Zeitraum in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Da sie aber die Zuerkennung einer Leistung des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit begehrt, liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt iSd Art 2 Abs 1 VO 883/2004 vor. Damit ist der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet.

2.2. [...] Das Wochengeld unterfällt unionsrechtlich dem Versicherungsfall der Mutterschaft, weil es dem Ausgleich von Einkommensverlusten infolge Schwangerschaft und Geburt dient (RIS-Justiz RS0117195; Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union7 Rz 277 mH auf EuGHC-43/99, Leclere/Deaconescu). Damit ist im konkreten Fall auch der sachliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet.

3. Die Koordinierung von Leistungen ua bei Mutterschaft regeln die Bestimmungen der Art 17 ff in Titel III Kapitel 1 der VO 883/2004. Art 21 VO 883/2004 konkretisiert das Prinzip des Exports von Geldleistungen (vgl auch Art 7 VO 883/2004). Die Parteien stellen nicht in Frage, dass das Wochengeld als Geldleistung iSd Art 21 VO 883/2004 anzusehen ist (zum unionsrechtlichen Begriff der Geldleistung vgl nur EuGH Rs C-466/04, Herrera, Rn 30). Sie legen der Berechnung des Anspruchs der Kl übereinstimmend unter Anwendung des Art 21 Abs 2 VO 883/2004 auch nur den von ihr in Österreich im September 2017 erzielten Arbeitsverdienst zugrunde, sodass darauf nicht weiter eingegangen werden muss.

4.1 Das in Art 5 VO 883/2004 enthaltene Gebot der Tatbestandsgleichstellung erfordert, dass jeder Mitgliedstaat (bzw dessen zuständiger Träger) bei der Anwendung und Auslegung des eigenen Rechts der sozialen Sicherheit die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats verwirklichten Rechtstatbestände oder die in einem anderen Mitgliedstaat verwirklichten Sachverhalte berücksichtigt, als hätten sich diese nach den eigenen Rechtsvorschriften oder auf dem eigenen Staatsgebiet ereignet, sofern es sich um gleichartige Verhältnisse oder entsprechende Sachverhalte handelt (10 ObS 148/14h, SSV-NF 29/59; Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 5 VO 883/2004 Rz 9 mwN; [...]).

4.2 Art 5 VO 883/2004 ist unmittelbar primärrechtlich fundiert, diese Bestimmung stärkt und effektuiert das Prinzip der Gleichbehandlung, ist aber speziell dem Recht auf Freizügigkeit verpflichtet. Der Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung ist der allgemeinste Grundsatz zum Äquivalenzprinzip. Er verwirklicht neben der rechtlichen Gleichbehandlung (Art 4 VO 883/2004) die faktische Gleichstellung der Personen, die Freizügigkeit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wahrgenommen haben (Schuler in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 5 VO 883/2004 Rz 2, 3 mwH). Das Ziel des Art 5 VO 883/2004 ist, wie sich aus dem 9. Erwägungsgrund der VO ergibt, dass der Unionsgesetzgeber den in der Rsp des Gerichtshofs der EU entwickelten Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen, Einkünften und Sachverhalten einführen wollte, damit dieser unter Beachtung des Inhalts und des Geistes der Entscheidungen des Gerichtshofs der EU ausgeformt wird (EuGH Rs C-453/14, Knauer, Rn 31).

4.3 Vor diesem Hintergrund sind die Vorinstanzen zutreffend davon ausgegangen, dass die von der Kl in Deutschland zurückgelegten Beschäftigungszeiten für die Berechnung der Höhe des Wochengeldes gem Art 5 VO 883/2004 so zu behandeln sind, als wären sie im Inland zurückgelegt worden. Im Beobachtungszeitraum liegende Zeiten einer in einem anderen Mitgliedstaat aufgenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigung können nicht so behandelt werden, als hätte die Kl in ihnen nicht gearbeitet. Vielmehr sind die auf die Ausübung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat der Union entfallenden Kalendertage für die Berechnung des Wochengeldanspruchs von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage abzuziehen (zu „neutralisieren“; Drs in SV-Komm [191. Lfg] § 162 Rz 64 mwH; Schober in Sonntag, ASVG9 § 162 Rz 30).

5.1 Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit charakterisiert, dass die Kl im gesamten Beobachtungszeitraum von 1.6.2017 bis 31.8.2017 in Deutschland beschäftigt war. Nur im Monat September 2017, in dem der Versicherungsfall der Mutterschaft eintrat, war sie in Österreich beschäftigt.

5.2 Die Kl kann ihren Anspruch auf Wochengeld daher nur auf den Sonderfall (10 ObS 287/02g, SSV-NF 16/116) des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG stützen. Dieser wurde vom Gesetzgeber zur Vermeidung von nicht beabsichtigten Härtefällen geschaffen. Auch Mütter, die erst im Monat des Eintritts des Versicherungsfalls ein Dienstverhältnis begonnen und daher im Beobachtungszeitraum keinen Arbeitsverdienst erzielt haben, sollten auf diese Weise in den Genuss eines Wochengeldanspruchs gelangen (ErläutRV 284 BlgNR 18. GP 32 zu dem mit der 50. ASVG-Novelle, BGBl 1991/676 geschaffenen damaligen Satz 2 in § 162 Abs 3 ASVG).

5.3 Die Kl hat zwar ihr österreichisches Dienstverhältnis erst im Monat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft begonnen. Sie war aber vorher in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt und nicht – wie im Regelfall der Anwendung der Sonderbestimmung des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG532 erwerbslos. Bei einem reinen Inlandssachverhalt wäre der nur im Monat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft erzielte und gemäß § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG für die Berechnung des Wochengeldes heranzuziehende Arbeitsverdienst durch sämtliche im Beobachtungszeitraum von drei Monaten liegenden Kalendertage zu dividieren (Drs in SV-Komm Rz 62 und 66; zur Berechnung allgemein 10 ObS 85/87, SSV-NF 1/38; RIS-Justiz RS0084099). Diese Berechnungsmethode kann im vorliegenden Fall nicht herangezogen werden, weil die Kl im Beobachtungszeitraum nicht erwerbslos war.

5.4 Umgekehrt darf der Umstand, dass die Kl in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt war und diese Zeiten infolge der Anwendung des Unionsrechts zu berücksichtigen sind (Art 3 AEUV; Art 5 VO 883/2004) nicht dazu führen, dass die für die Kl günstigere Sonderregelung des § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG deshalb nicht zur Anwendung käme. Denn ungeachtet des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts genießt das für einen Sozialleistungsberechtigten im Einzelfall günstigere innerstaatliche Recht Vorrang, weil das Koordinierungsrecht der Europäischen Union niemals rechtsverkürzend, sondern stets nur rechtserweiternd wirkt (sog „Petroni-Prinzip“, stRsp des EuGH seit C-24/75, Petroni; aus jüngerer Zeit etwa C-548/11, Mulders, Rn 46; C-466/15, Adrien ua, Rn 28; Eichenhofer, Europäisches Sozialrecht7 Rz 88; Schuler in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 5 VO 883/2004 Rz 8, jeweils mwH).

6.1 Der Wochengeldanspruch der Kl errechnet sich daher, ausgehend von 92 Kalendertagen im Beobachtungszeitraum 1.6.2017 bis 31.8.2017 wie folgt:

6.2 Zeitraum 26.7.2017-31.8.2017: Diese Zeit des Bezugs eines Urlaubsentgelts während des Resturlaubsverbrauchs im aufrechten Dienstverhältnis in Deutschland stellt unzweifelhaft eine versicherungspflichtige Beschäftigung der Kl dar, die nach den dargelegten Grundsätzen gem Art 5 VO 883/2004 als Zeit einer inländischen versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichzuhalten ist. [...] Die auf diesen Zeitraum entfallenden 37 Kalendertage sind daher für die Berechnung des Wochengeldanspruchs der Kl von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden Kalendertage abzuziehen (zu „neutralisieren“), um ein unionsrechtskonformes Ergebnis zu erreichen. An diesem Ergebnis ändert die Anordnung in § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG, wonach das im Monat des Eintritts des Versicherungsfalls der Mutterschaft zugeflossene Entgelt (tatsächlicher Arbeitsverdienst, Drs in SV-Komm § 162 ASVG Rz 45 mwH) als (im letzten vollen Kalendermonat) des Beobachtungszeitraums erzielt „gilt“ nichts, weil diese Anordnung lediglich den Zweck verfolgt, einen Arbeitsverdienst für die Berechnung des Wochengeldes heranziehen zu können, der nicht im Beobachtungszeitraum erzielt wurde.

6.3 Zeitraum 1.6.2017-25.7.2017:

[...]

6.3.2 Gem § 162 Abs 3 Satz 6 lit a ASVG (die anderen Tatbestände dieser Bestimmung kommen hier nicht in Frage) haben nur Zeiten der in § 11 Abs 3 ASVG bezeichneten Art bei der Ermittlung des Wochengeldanspruchs „außer Betracht“ zu bleiben. Dazu zählt die Zeit einer Arbeitsunterbrechung infolge Urlaubs ohne Entgeltzahlung, sofern dieser Urlaub die Dauer eines Monats nicht übersteigt (§ 11 Abs 3 lit a ASVG; 10 ObS 445/89, SSVNF 4/19). [...]

6.3.3 Da die durch die Karenz bedingte Arbeitsunterbrechung der Kl iSd § 162 Abs 3 Satz 6 lit a ASVG schon während des Beobachtungszeitraums des § 162 Abs 3 Satz 1 ASVG länger als einen Monat dauerte, wäre diese Zeit auch bei einem reinen Inlandssachverhalt nicht bei der Ermittlung des durchschnittlichen Arbeitsverdienstes „außer Betracht“ zu lassen gewesen. Weder aus Art 4 noch aus Art 5 VO 883/2004 kann der Schluss gezogen werden, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat der EU verbrachte und für eine Leistungsberechnung heranzuziehende vergleichbare („entsprechende“) Zeit günstiger behandelt werden sollte, als eine gleichartige inländische Zeit.

[...]

8. Im konkreten Fall sind daher von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden 92 Kalendertage 37 Kalendertage der versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland von 26.7.2017-31.8.2017 abzuziehen (zu „neutralisieren“), nicht hingegen die auf die Zeit der Karenz der Kl in Deutschland entfallenden 55 Kalendertage von 1.6.2017 bis 25.7.2017. Der Betrag von 2.025,90 € netto ist demgemäß durch die Anzahl von 55 Kalendertagen zu dividieren, woraus sich ein Tagessatz von 36,83 € und – bei Hinzurechnung des Zuschlags von 17 % für Sonderzahlungen – ein täglicher Wochengeldanspruch von 43,10 € errechnet. [...]

ANMERKUNG
1.
Berechnung von Leistungen in grenzüberschreitenden Sachverhalten in der Judikatur des EuGH

Der EuGH hat bereits einige Urteile gefällt, aus denen Rückschlüsse gezogen werden können, wie in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt eine Leistung zu berechnen ist, wenn im Beobachtungszeitraum Einkommen aufgrund einer Erwerbstätigkeit ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat erzielt wurde.

In der Rs Bergström, C-257/10, EU:C:2011:839, ging es um die Berechnung einer schwedischen Familienleistung, deren Gewährung nach den schwedischen Rechtsvorschriften von der Zurücklegung von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig ist. Im Regelfall wird nach schwedischem Recht die Familienleistung wie ein Krankengeld berechnet, ansonsten in der Höhe eines niedrigeren Grundbetrags. Für die Berechnung von Krankengeld in einem grenzüberschreitenden Fall kam grundsätzlich Art 23 VO 1408/71 zur Anwendung, wonach, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates bei der Berechnung von Geldleistungen533ein Durchschnittseinkommen zugrunde zu legen ist, der zuständige Träger dieses Durchschnittseinkommen ausschließlich aufgrund der Einkommen, die für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates zurückgelegten Zeiten festgestellt worden sind, ermittelt (die VO 883/2004 enthält nunmehr in Art 21 eine analoge Regelung). Im Ausgangsverfahren hatte Frau Bergström in der Anwartschaftszeit von 240 Tagen jedoch kein Einkommen in Schweden erzielt. Der EuGH löste diesen Widerspruch wie folgt auf: Damit die einschlägigen Bestimmungen in der Verordnung praktische Wirksamkeit erlangen und dem Gebot der Gleichbehandlung entsprochen wird, war das krankengeldwirksame Einkommen von Frau Bergström unter Berücksichtigung des fiktiven Einkommens einer Person zu berechnen, die in Schweden eine Tätigkeit ausübt, die hinsichtlich beruflicher Erfahrung und Qualifikation mit der von Frau Bergström in der Schweiz ausgeübten Tätigkeit vergleichbar ist (Rz 52). Die Anwendung der schwedischen Regelung zum Grundbetrag lehnte der EuGH ab, da Frau Bergström im Beobachtungszeitraum Einkommen hatte, wenn auch aus einem anderen Staat des EWR, und die Gewährung einer niedrigen Grundleistung daher diskriminierend wäre.

Das Urteil aus dem Jahr 1996 in der Rs C-251/94, Lafuente Nieto, EU:C:1996:319, ging in eine ähnliche Richtung. Nach Art 47 Abs 1 Buchst e VO 1408/71 (siehe nunmehr Art 56 Abs 1 Buchst c VO 883/2004) war der Berechnung des theoretischen Betrags einer Rente nur Pauschalarbeitseinkommen aus dem zuständigen Staat zugrunde zu legen. Nach spanischem Recht trat, wenn für einen Teil oder die gesamte Dauer des Bezugszeitraums keine Beitragspflicht in Spanien bestand, eine in der Regel deutlich niedrigere Mindestbemessungsgrundlage teilweise oder ganz an die Stelle der Durchschnittsgrundlage.

Der EuGH führte aus, dass Herr Lafuente Nieto in dem maßgeblichen Zeitraum zwar nicht in Spanien, aber in einem anderen Mitgliedstaat beitragspflichtig beschäftigt war und Wander-AN keine Verminderung der Höhe ihrer Leistung erleiden dürfen, die sie als Nicht-Wander-AN erhalten hätten. Ist deshalb nur die Höhe der Beiträge zu berücksichtigen, die nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates entrichtet worden sind, so ist dieser Betrag zu aktualisieren und anzupassen, sodass er dem Betrag entspricht, den der Betroffene tatsächlich entrichtet hätte, wenn er in dem betreffenden Mitgliedstaat weiterhin unter den gleichen Bedingungen beschäftigt gewesen wäre (Rz 37-40). Art 58 VO 1408/71 enthielt nämlich eine vergleichbare Regelung wie Art 23, wonach nur Erwerbseinkommen aus dem zuständigen Staat zu berücksichtigen ist (nunmehr Art 21 VO 883/2004).

Das Urteil des EuGH vom 9.11.2006 in der Rs C-205/05, Nemec, EU:C:2006:705, betraf einen AN, der zunächst in Frankreich und später in Belgien gearbeitet hatte. Zehn Jahre nach Beendigung seiner Tätigkeit in Frankreich stellte Herr Nemec einen Antrag auf eine französische Leistung zugunsten von asbestexponierten AN bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Der französische Träger berechnete die Leistung unter Zugrundelegung der Arbeitsentgelte, die Herr Nemec während der letzten zwölf Monate seiner AN-Tätigkeit in Frankreich (dh vor zehn Jahren) erhalten hatte.

Art 58 VO 1408/71 enthielt nämlich eine vergleichbare Regelung wie Art 23, wonach nur Erwerbseinkommen aus dem zuständigen Staat zu berücksichtigen ist (nunmehr Art 21 VO 883/2004).

Der EuGH verwies darauf, dass die Leistungen für Wander-AN die gleichen sein müssen, wie wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hätten. Daher ist zwar nur das Arbeitsentgelt aus dem zuständigen Mitgliedstaat zu berücksichtigen; dieses ist aber so zu aktualisieren und anzupassen, dass es dem Arbeitsentgelt entspricht, das der Betroffene bei normaler beruflicher Entwicklung erhalten hätte, wenn er weiterhin in dem betreffenden Mitgliedstaat beschäftigt gewesen wäre (Rz 39-42). Somit verlangte der EuGH auch hier die Ermittlung eines fiktiven Einkommens im zuständigen Mitgliedstaat. Dass Herr Nemec infolgedessen eine Leistung aufgrund von Berechnungsgrundlagen erhielt, für die er keine adäquaten Beiträge geleistet hat, nahm der EuGH in Kauf, um die Freizügigkeit zu schützen.

In der zurzeit anhängigen Rs C-32/18, Moser, EU:C:2019:182, geht es um die Berechnung eines allfälligen Anspruchs auf österreichisches einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld für Herrn Moser, der selbst kein Einkommen in Österreich erzielt hat. Der Generalanwalt sprach sich unter Hinweis auf das Bergström-Urteil dafür aus, das leistungswirksame Einkommen von Herrn Moser für die Berechnung der Höhe der österreichischen Familienleistung unter Bezugnahme auf das Einkommen, das ein Erwerbstätiger mit vergleichbaren Qualifikationen und vergleichbarer Erfahrung im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Österreich) hypothetisch erzielt hätte, festzusetzen (Rz 51).

2.
Neutralisierung von Beschäftigungszeiten im anderen Mitgliedstaat oder Bildung einer fiktiven Versicherungskarriere?

Der OGH ist im Grundsatz der in der österreichischen Rsp und Literatur vertretenen Meinung gefolgt (Drs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm [191. Lfg] § 162 Rz 64 mwH; Schober in Sonntag, ASVG9 § 162 Rz 30), dass Nachteile für Wander-AN durch das System der „Neutralisierung“ von mitgliedstaatlichen Beschäftigungszeiten zu verhindern sind. Der offenkundige Vorteil der Methode der Neutralisierung liegt sicherlich in ihrer administrativen Einfachheit. Dem steht allerdings als Nachteil gegenüber, dass sie zu Ergebnissen führen kann, die die Erwerbskarriere der Versicherten in den letzten Monaten vor dem Mutterschutz nicht realistisch widerspiegeln, weil sie – unter Heranziehung einer Auffangregelung des nationalen Rechts – ausschließlich auf Einkommen aus dem zuständigen Staat abstellt und möglicherweise signifikante Unterschiede zu dem im anderen Mitgliedstaat erzielten Einkommen in keiner Weise berücksichtigt. Im Unterschied zu rein nationalen Situationen, für die § 162 Abs 3 dritter Satz konzipiert wurde, hat die Versicherte im vorliegenden Fall im Beobachtungszeitraum534 nämlich Erwerbseinkommen bezogen, wenn auch aus einem anderen Mitgliedstaat. Aus den Urteilen Bergström und Lafuente Nieto ist abzuleiten, dass solche subsidiären Regelungen im nationalen Recht in grenzüberschreitenden Situationen diskriminierend sein können, wenn Wander-AN dadurch eine niedrigere Leistung bekommen, als wenn sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hätten.

Unter dieser Prämisse und der oben genannten Judikatur folgend wäre für die Beschäftigungszeiten in Deutschland ein fiktives Entgelt zugrunde zu legen, das die Betroffene für eine vergleichbare Tätigkeit in Österreich bezogen hätte. Für die Anwendung von § 162 Abs 3 dritter Satz ASVG bestünde kein Raum, da die Betroffene im Beobachtungszeitraum ein, wenn auch fiktives, Entgelt bezogen hätte. Diese Vorgehensweise wäre zwar für den zuständigen Träger mit einigem administrativen Aufwand verbunden, würde aber Verletzungen der Freizügigkeit definitiv ausschließen und zu einem Wochengeldanspruch in einer Höhe führen, das ohne Ausübung der Freizügigkeit gebührt hätte, und zwar unter Beachtung des Grundsatzes, dass Einkommen aus dem unzuständigen Staat nicht der Berechnung zugrunde zu legen ist. Die Möglichkeit, dass die Leistungsberechnung nur auf der Grundlage von Einkommen aus dem zuständigen Staat zu niedrigeren Leistungen führen kann, besteht grundsätzlich auch in Situationen, in denen im Beobachtungszeitraum österreichisches Einkommen vorliegt. Aus der Judikatur ist abzuleiten, dass die entsprechenden Berechnungsregeln in der Verordnung nicht stringent angewendet werden dürfen. Zumindest in Extremfällen scheint daher die Bildung einer fiktiven Versicherungskarriere im zuständigen Staat erforderlich, um Benachteiligungen von Wander-AN auszuschließen.*

3.
Die korrekte Anwendung der Methode der Neutralisierung bei der Berechnung von Wochengeld unter Anwendung von § 162 Abs 3 dritter Satz ASVG

Für den Fall, dass die vom OGH angewendete Methode aufgrund des in Österreich erzielten Einkommens nicht zu relevanten Unterschieden in der Leistungshöhe führt, scheint die Methode der Neutralisierung die Rechte von Wander-AN hinreichend zu schützen (aus dem Urteil ist nicht ersichtlich, ob dieser Aspekt geprüft wurde). Dass die konkrete Anwendung dieser Methode aber unklar ist, zeigt, dass alle drei befassten Gerichte bei der Berechnung unterschiedlich vorgegangen sind.

Der OGH neutralisierte den Zeitraum 26.7. bis 31.8.2017 komplett, da es sich um die Zeit einer versicherungspflichtigen Beschäftigung der Kl handelte, die nach den Grundsätzen von Art 5 VO 883/2004 als Zeit einer inländischen versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichzuhalten ist. § 162 Abs 3 Satz 3 ASVG verfolge lediglich den Zweck, einen Arbeitsverdienst für die Berechnung des Wochengeldes heranziehen zu können, der nicht im Beobachtungszeitraum erzielt wurde.

Der Zeitraum 1.6.-25.7.2017 wurde nicht neutralisiert, da er auch bei einem reinen Inlandssachverhalt nicht bei der Ermittlung des durchschnittlichen Arbeitsverdienstes „außer Betracht“ zu lassen wäre. Der Analyse des OGH, dass hier keine Bindung an die deutsche Qualifikation dieses Zeitraumes besteht, ist wohl zuzustimmen, weil es sich um einen Anwendungsfall von Art 5 VO 883/2004 handelt. Darüber hinaus hat die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Art 71 und 72 VO 883/2004) in Beschluss Nr H 6 (ABl 2011/C 45/04) auch in Bezug auf Art 6 festgehalten, dass die Mitgliedstaaten für die Festlegung der nationalen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit zuständig bleiben, sofern diese Voraussetzungen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden. Der OGH kam somit auf 37 neutrale Tage im Beobachtungszeitraum.

Aus meiner Sicht ist es verfehlt, lediglich das Einkommen aus Österreich im Monat September zu berücksichtigen, nicht aber die Tage der Beschäftigung in Österreich, mit dem Argument, § 162 Abs 3 ASVG sehe für den letzten Monat im Beobachtungszeitraum eine bloße Rechengröße vor. Dies zeigt sich schon daran, dass in einem Fall, in dem die Mutter im Beobachtungszeitraum durchgängig im anderen Mitgliedstaat beschäftigt war, der gesamte Zeitraum zu neutralisieren wäre und somit bei der Berechnung des Wochengeldes der Nenner 0 wäre und zu keinem Ergebnis führen würde. Auch die Beschäftigungstage in Österreich sind daher bei der Berechnung im Nenner zu berücksichtigen und die 14 Beschäftigungstage in Österreich müssten auf den Monat August umgelegt werden. Allerdings sollte nicht der gesamte Monat aus der Neutralisierung fallen, wie vom Erstgericht vertreten, sondern lediglich diese 14 Tage; 17 Tage wären zu neutralisieren. Damit würde eine Berechnungsmethode zur Anwendung kommen, die auch der Methode im Regelfall entspricht: Das österreichische Einkommen wird durch die Anzahl der österreichischen Beschäftigungstage und der beschäftigungslosen Tage in Österreich und im Mitgliedstaat dividiert.

Im konkreten Fall wären daher von der Gesamtanzahl der im Beobachtungszeitraum liegenden 92 Kalendertage 23 Kalendertage der versicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland von 26.7.-17.8.2017 abzuziehen (zu „neutralisieren“), nicht hingegen die auf die Zeit der Karenz der Kl in Deutschland entfallenden 55 Kalendertage von 1.6. bis 25.7.2017 und die 14 Beschäftigungstage535 in Österreich, die auf den Zeitraum 18.8. bis 31.8. umgelegt werden. Der Betrag von € 2.025,90 netto ist demgemäß durch die Anzahl von 69 Kalendertagen zu dividieren, woraus sich ein Tagessatz von € 36,83 und – bei Hinzurechnung des Zuschlags von 17 % für Sonderzahlungen – ein täglicher Wochengeldanspruch von € 34,36 errechnet.

4.
Zusammenfassung

Mit dieser E hat der OGH festgestellt, dass in einem Fall, in dem im Beobachtungszeitraum ausschließlich Einkommen aus einem anderen Mitgliedstaat vorliegt, bei der Berechnung von Wochengeld die Methode der Neutralisierung unter Anwendung von § 162 Abs 3 dritter Satz ASVG zur Anwendung kommt. Diese für die Träger administrativ einfache Vorgehensweise dürfte in Fällen, in denen sie zu einer Leistungshöhe führt, die der Erwerbskarriere und dem Einkommen der Versicherten im Beobachtungszeitraum insgesamt (dh auch im anderen Mitgliedstaat) entspricht, ausreichen, um die europarechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.

In Fällen jedoch, in denen bei Berücksichtigung nur des österreichischen Einkommens das Wochengeld deutlich niedriger bemessen wird, als wenn die Versicherte von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hätte, scheint diese Methode die Rechte der Wander-AN nicht ausreichend zu schützen. Aus der Judikatur des EuGH ist die Verpflichtung ableitbar, die Leistung unter Berücksichtigung des fiktiven Einkommens einer Person zu berechnen, die in Österreich eine Tätigkeit ausübt, die hinsichtlich beruflicher Erfahrung und Qualifikation mit der von der Versicherten im Mitgliedstaat ausgeübten Tätigkeit vergleichbar ist.