„In dem Gesetz über die Einigungsämter zeigt sich der Geist der Demokratie von Paragraph zu Paragraph.“ – Anmerkungen zur Geschichte des „Einigungsamtgesetzes 1920“
„In dem Gesetz über die Einigungsämter zeigt sich der Geist der Demokratie von Paragraph zu Paragraph.“ – Anmerkungen zur Geschichte des „Einigungsamtgesetzes 1920“
Er war Ferdinand Hanusch
, der mit den im Titel dieses kleinen Aufsatzes zitierten Worten das Einigungsamtgesetz 1919 vor dem Kongress der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften zu erläutern suchte.* Mit Recht wies er darauf hin, dass die Arbeiterschaft bislang Einigungsämter abgelehnt hatte, da sie sich nicht „in eine Zwangsdiktatur“
begeben wollten. Stolz wies der Minister und Gewerkschafter darauf hin, dass im nun vorliegenden Gesetz die wichtigsten Fragen „auf das allerglücklichste gelöst“
wurden. Das am 18.12.1919 von der konstituierenden Nationalversammlung (KNV) beschlossene „Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge“ (EAG) stellte zusammen mit dem bereits am 15.5.1919 verabschiedeten „Gesetz betreffend die Errichtung von Betriebsräten“ (BRG)* und dem dann für Februar 1920 in Aussicht gestellten Arbeiterkammergesetz (AKG) die Grundlage der kollektiven Arbeitsverfassung Österreichs dar. In der Regierungsvorlage (RV) zum EAG* wurde der Konnex zum BRG betont: Das EAG wurde als legistisch notwendige „Ergänzung“ des BRG in zweifacher Hinsicht angesehen: Zum einen wurden im BRG „die Entscheidung aller aus der Errichtung und Geschäftsführung eines Betriebsrates entstehenden Streitigkeiten“
einem Einigungsamt zugewiesen. Zum anderen wurde in § 3 BRG den Betriebsräten die Aufgabe erteilt, kollektive Arbeitsverträge zu überwachen und gegebenenfalls „Ergänzungen in jenen Punkten der Tarifverträge zu vereinbaren, deren Sonderregelung in den letzteren selbst nicht vorgesehen ist“
. Nachdem Kollektivverträge bis dahin kaum* Eingang in die Gesetzgebung gefunden hatten, es als „vornehmste Aufgabe“
der zu errichtenden Einigungsämter angesehen wurde, „auf das Zustandekommen von kollektiven Arbeitsverträgen hinzuwirken“
, schien es notwendig, beide Materien in einem Gesetz zu regeln. Die folgenden Anmerkungen beabsichtigen nicht, das EAG 1920 einer rechtswissenschaftlichen Würdigung zu unterziehen,* sondern vielmehr soll einmal mehr* versucht werden, die historische Entwicklung, die zum Beschluss über das EAG führte, in Erinnerung zu rufen.
Mit der in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach Erlassung des Staatsgrundgesetzes und des Vereins- und Versammlungsrechtes (1867) sich langsam unter behördlicher Unterdrückung formierenden Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung* wurde die sogenannte „soziale Frage“ zu einer politischen. Die infolge der fortschreitenden industriellen Entwicklung unter miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen leidende, von Fabriks- und Gewerbeherren wie auch von der monarchischen Administration gleichermaßen unterdrückte Arbeiterschaft erkämpfte 1870 das Koalitionsrecht.* Wenn auch die gewährten staatsbürgerlichen Rechte immer wieder beschränkt wurden und Vertreter von Arbeiter- und Fachvereinen behördlich aus nichtigen Gründen verfolgt wurden, so stellte die junge Arbeiterbewegung zunehmend eine Macht dar, die eine gesellschaftspolitische Herausforderung für den Staat darstellte. Sowohl von der Arbeiterschaft selbst – zwar gespalten in Selbst- und Staatshilfler, letztere darüber hinaus in sogenannte „Gemäßigte“ und „Radikale“ – wie auch von intellektueller Seite wurden Vorschläge zur politischen Mitsprache und Verbesserung der arbeitenden Bevölkerung eingebracht: Erinnert sei etwa an die von Arbeitervereinen an die Regierung und an den Reichsrat eingebrachten Petitionen nach Errichtung von Arbeiterkammern, in welchen diesen auch schiedsgerichtliche Funktionen über Arbeitskonflikte zugedacht waren.* Doch auch in dem 1873 von fortschrittlichen („linken“) Wissenschaftlern („Kathedersozialisten“) gegründeten „Verein für Sozialpolitik“* wurde die „soziale Frage“ 166 zum Inhalt erkenntnisleitender Überlegungen. So wollte der Ökonom und Historiker Gustav Schmoller* 1872 auf die öffentliche Meinung hinwirken, dass die Zeit des „Laissez faire und passer“
vorbei sei.* Er betonte, „bei der Arbeiterfrage handle es sich nicht nur um die wirtschaftliche Lage der Arbeiter, sondern um den gefährlichen, immer schroffer werdenden Gegensatz an Gesittung und Bildung zwischen Besitzenden und Arbeitern“
. Es brauche „Reformen, daß die Schroffheit der Gegensätze zwischen den Ständen ausgeglichen und auch die unteren als zufriedene, fortschreitende Glieder sich der Staatsgesellschaft einfügen“
. Das war weit entfernt von jeglicher „auf dem Boden des Klassenkampfes“ stehender Marxscher und später austromarxistischer Ideologie, vielmehr ginge es um die Herstellung des „sozialen Friedens“: Streiks, Arbeitseinstellungen und Aussperrungen sollten – wie es ein von Hermann Schulze-Delitzsch
in den deutschen Reichstag eingebrachter Gesetzesentwurf vorsah* – durch „Einigungsämter (Arbeitskammern, boards oft concilition and arbitration), d.h. Vermittlungskommissionen gewählter Arbeitgeber und Nehmer“
hintangehalten werden. Denn: „Im Einigungsamt liegt für die Zukunft die Versöhnung des socialen Kampfes.“
In der Folge geisterten Überlegungen zur Errichtung von „Einigungsämtern“ durch die Medien und wurden in Diskussionen im Abgeordnetenhaus des Reichsrates thematisiert. Vorerst ging es im Rahmen von Vorschlägen zur Novellierung der alten Gewerbeordnung um Ersatz der genossenschaftlichen Schiedsgerichte. Dies schien nämlich dann notwendig, wenn die unbeliebten, mit der GewO 1859 geschaffenen Zwangsgenossenschaften abgeschafft werden würden. Unter „Einigungsämtern“ stellte man sich damals in Abgrenzung zu den Schiedsgerichten eine „friedensstiftende“
Institution vor: „Sie müssen ein Mittel sein, um Capital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammenzubringen, in einer friedlichen Weise über Löhne und andere von Zeit zu Zeit auftauchende Fragen und Differenzen zu dicutiren und dadurch womöglich zu einer Verständigung zu gelangen, nicht aber erst eingreifen, wenn der Hader bereits ausgebrochen ist, die Parteien einander feindselig, ja haßerfüllt gegenüberstehen.“
* Allerdings wurde manchen Abgeordneten* sowie auch Zeitungskommentatoren bald bewusst, dass diese Institution nur auf Freiwilligkeit beruhen konnte, was im Übrigen auch von Industriellen gefordert wurde. Als Beispiel wurde im Diskurs immer wieder auf die paritätisch zusammengesetzten englischen Einigungsämter verwiesen.* Diese schienen den Großindustriellen im „liberalen Klub“ des Reichsrates nicht zuletzt deshalb so attraktiv, da durch sie offenbar Lohnreduktionen ohne Konflikt durchgesetzt werden konnten.*
In einem Vortrag in der Plenarversammlung des nö Gewerbevereins am 7.11.1884 trat dessen Sekretär Emil Ausspitzer für die Förderung von Gewerkschaften und die Errichtung von Einigungsämtern mit nachfolgender Begründung ein: „Wer eine in seinem Besitze befindliche Ware verkauft, verkauft das Produkt seiner in der Vergangenheit geleisteten Arbeit und verfügt außerdem über seine zukünftige Arbeitskraft; wer aber seine Arbeit verkauft, hat in der übergroßen Mehrzahl der Fälle über nichts Anderes zu verfügen. Deshalb ist beim Arbeitsvertrag in der Regel der Unternehmer derjenige, welcher die Vertrags-Bedingungen vorschreiben kann, er kann warten, aber der Arbeiter kann nicht warten, sondern muß seine eigene Ware, die Arbeit, losschlagen, um zu leben. Das ist die grausame Thatsache, die oft mit so schwerem Gewichte die Lebensbedingungen ganzer Volksklassen darniederdrückt, die Thatsache, welche die rechtliche Vertragsfreiheit in der Praxis illusorisch macht! Die Association der Arbeiter zu dem Zwecke, um diese rechtliche Vertragsfreiheit auch praktisch wirksam zu machen, ist der Gewerkverein, und das Organ, in welchem ohne Gewaltthätigkeit des Lohnkampfes auf friedlichem Wege zwischen beiden Parteien der freie Vertragsschluß erfolgt, ist eben das Einigungsamt.“
* Im Einvernehmen mit der Wiener Handels- und Gewerbekammer wurde denn auch in die Verhandlungen zu Hauptstück VI der Gewerbeordnung eine Petition eingebracht. Im Rahmen der Debatte zur GewO 1885 beschloss das Abgeordnetenhaus (AH) auf Vorschlag des Gewerbeausschusses eine Resolution, in der die k.k. Regierung aufgefordert wird, „mit thunlichster Beschleunigung eine Gesetzesvorlage betreffend der Errichtung von Einigungsämtern einzubringen“
.*
In der grundsätzlichen Zielsetzung, die als „soziale Frage“ bezeichnete prekäre, menschenunwürdige Lage der Arbeiterschaft zu verbessern, um „socialistische Bestrebungen“
hintanzuhalten, waren sich Liberale und Konservative vielfach einig. In der Regelungskompetenz des Staates schieden sich jedoch die Geister: Ging es den Konservativen um Aufrechterhaltung einer ständisch organisierten Gesellschaft, betonten die Liberalen jedoch das freie Assoziationswesen. Nachdem durch die Ausnahmegesetze 1884 die gewerkschaftlichen Fachvereine behördlich weitgehend zerschlagen wurden 167 oder sich selbst auflösten, griffen die Liberalen 1886 auf die in den siebziger Jahren diskutierte Institution der Arbeiterkammern zurück. In § 2 des Antrages wird bestimmt, dass die zu errichtenden Arbeiterkammern „zur Nominierung für zu errichtende Schiedsgerichte (Einigungsämter) berufen werden“
können.* 1890 brachte der deutschliberale Abgeordnete Ernst von Plener
einen Antrag auf „Errichtung von Einigungsämtern“
ein.* Als deren Zweck wurde „die Herbeiführung eines gütlichen Übereinkommens“
über Lohnverträge, Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen angegeben. Allerdings: „Die Entscheidung über einen aus dem Lohnvertrag entspringenden Streitfall steht dem Einigungsamt nicht zu“
(§ 1). Das Einigungsamt sollte vielmehr auf Auseinandersetzungen, die von mehreren AN gegen einen oder mehrere AG geführt werden, streitschlichtend wirken. Das Ansuchen um Verhandlung vor dem Einigungsamt hatte von mindestens zehn AN auszugehen (§ 16). Im Einvernehmen von AG und AN „können für einzelne Unternehmungen Arbeiterausschüsse zu dem Ende gebildet werden, um als Vertreter der Arbeiterschaft eine Verständigung mit dem Arbeitgeber über den Lohnvertrag und die sonstigen Arbeitsbedingungen und die Beilegung hierüber vor Anrufung des Einigungsamtes herbeizuführen“
(§ 27). Über die Errichtung von Einigungsämtern und über die Anzahl der von den AG und AN zu wählenden Beisitzer sollte von der Landesbehörde mit der AK „sofern eine solche besteht“
, der Handels- und Gewerbekammer und den Gewerbegenossenschaften ein Einvernehmen hergestellt werden. Der Vorstoß Pleners
scheiterte nicht nur infolge der vehementen Ablehnung der Arbeiterschaft, sondern auch infolge der Wahlrechtsfrage im Reichsrat.*
Dessen ungeachtet forderte der Kaiser in Anbetracht der Zunahme der Arbeitskämpfe in seiner Thronrede vom 11.4.1891 die Regierung auf, Maßnahmen zur Förderung des „sozialen Friedens“ zu setzen. Das Handelsministerium erarbeitete hierauf einen Gesetzesentwurf, nach dem sich die Fabriken in Fabriksgenossenschaften zusammenzuschließen hatten und Arbeiterausschüsse und „berufsgenossenschaftlich organisierte Einigungsämter“
zu errichten seien.* Parallel dazu erarbeitete das Ackerbauministerium eine ähnliche Vorlage für die Bergbauunternehmungen.* Auf Grundlage dieser Zwangsgenossenschaften sollten Streitschlichtungsämter (Einigungsämter) errichtet werden, deren Beisitzer von den Genossenschaften zu wählen waren. Die Vorlagen der Regierung wurden in der Folge sowohl in der Wissenschaft wie im Reichsrat heftigst diskutiert, wobei es um die zentralen Fragen ging, ob die zu schaffenden Genossenschaften und Arbeiterausschüsse obligatorisch oder nur fakultativ normiert werden sollten.*
In einer Versammlung der Gesellschaft österreichischer Volkswirte zeigte sich der sozialdemokratische Reichsratsabgeordnete Engelbert Pernersdorfer skeptisch über den Regierungsentwurf über Arbeiterausschüsse und Einigungsämter, zumal man „im Sinne der Conservativen die Arbeiterschaft von oben herab organisieren“
wolle und dies „aber mit dem Classenbewusstsein der Arbeiter in Conflict gerathen“
werde. Victor Adler, der 1888/89 durch den Parteitag in Hainfeld die Sozialdemokraten einen konnte, bezeichnete sowohl die Arbeiterausschüsse als auch die Einigungsämter, solange keine schlagkräftige Organisation der Arbeiterschaft bestehe, als „wertlos, weil hinter jenen Mitgliedern derselben, die Arbeiter wären, keine Macht stehe, die ihrem Votum Nachdruck verleihen könnte“
.* In der Folge forcierte Victor Adler die Gründung von (sozialdemokratischen) gewerkschaftlichen Fachvereinen, die sich 1893 durch die Gewerkschaftskommission eine starke zentrale Vertretung schaffen konnten.* In dem zu jener Zeit dynamischen Industrialisierungsschub wurde mit der (sozialdemokratischen) Gewerkschaftskommission, der sich immer mehr Fachvereine anschlossen, erstmals eine Gegenmacht der AN gegen die bisherige Vorherrschaft des industriellen Kapitals und des Kleingewerbes geschaffen. Der Dritte Österreichische Gewerkschaftskongress der Freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften 1900 beschloss die gewerkschaftlich „offizielle“ Anerkennung von Tarifverträgen in Österreich. Doch erst einige Jahre später sollte es zu wesentlichen Fortschritten im Tarifvertragswesen kommen.*
In der Gewerbeordnungsnovelle 1907* wurde bekanntlich* erstmals eine gesetzliche Regelung über die Vereinbarung kollektiver Arbeitsverträge für das Kleingewerbe getroffen. Im Einvernehmen mit der Gehilfenversammlung sind von der Genossenschaftsversammlung „innerhalb der
168gesetzlichen Vorschriften Bestimmungen über den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit der Hilfsarbeiter, über die Arbeitspausen, über die Zeit und die Höhe der Entlohnung und über die Kündigungsfrist festzusetzen“.*
Dieser kollektive Arbeitsvertrag muss allerdings von Genossenschafts- und Gehilfenversammlung jeweils mit zwei Drittel Mehrheit beschlossen werden und ist von der politischen Landesbehörde zu genehmigen. Wenn auch – wie vom Reichsrat in der damaligen Zusammensetzung nicht anders zu erwarten – diese kollektivvertragliche Regelung nach Gesetz, Arbeitsordnung und individuellem Arbeitsvertrag in der Hierarchie bestimmender Arbeitsnormen für den Einzelnen erst an letzter Stelle Gültigkeit erlangt, so wurde damit doch arbeitsrechtliches Neuland betreten. Pate für diese Bestimmung stand wohl die Förderung des „Gemeinschaftsbewußtseins auf beiden Seiten“
. Denn dieses sollte ein Bewusstsein dafür schaffen, „daß die kollektive Festsetzung der Arbeitsbedingungen den immerwährend drohenden Arbeitskonflikten unter Umständen vorzuziehen sei, daß der Tarif- oder Kollektivvertrag gleichsam das kleinere Übel gegenüber Aussperrungen und Ausständen darstellte“
.* Wohl infolge der doch komplizierten Erreichung von Kollektivverträgen (bedingt durch die Notwendigkeit von Zwei-Drittel-Mehrheiten in den jeweiligen Versammlungen) kam es letztlich nur zu relativ wenigen Abschlüssen. Kozak* führt nach Schöndorf* für 1908 sechs Abschlüsse nach § 114b GewO idF 1907 an, die bis 1912 auf 19 Abschlüsse stiegen. 1913 vertrat das Gewerbegericht die Ansicht, dass die zwischen den Gehilfenorganisationen und den Meisterverbänden vereinbarten Löhne auch dann einzuhalten sind, wenn zwischen einzelnen Meistern und ihren Gesellen ein niedrigerer vereinbart wurde.* Es sei gleichgültig, ob der Gehilfe organisiert sei oder nicht. Die Unbedingtheit des KollV wurde somit anerkannt.*
Im Unterschied zum genossenschaftlich organisierten Kleingewerbe nahm die Anzahl der Kollektivverträge in der Industrie durch die zunehmende Stärke der Gewerkschaften zu: 1904 bis 1907 wurden bereits insgesamt 1.598 Tarifverträge für rund 590.000 AN abgeschlossen.* Die Sozialdemokratie forderte denn auch vehement ein „einheitliches Gesetz über das Arbeitsverhältnis“
, in welchem ua die „heute so stark zur Geltung kommende Form eines Arbeitsvertrages zwischen der Gesamtheit der Arbeiter eines Berufes mit einem oder mehreren Unternehmen desselben Berufes“
geregelt werden sollte.* Die Schwierigkeit sei, dass der KollV im Unterschied zum Individualvertrag keine rechtliche Grundlage hat: „Das Wesen des Kollektivvertrages besteht aber gerade darin, daß eine Reihe von Personen die Grundzüge für andere festsetzt, von denen sie sicher keine ausdrückliche Vollmacht haben.“
Nachdem der KollV jedoch auch für jene gelten soll, „die zu seinem Abschluss auch nicht einen Finger gerührt haben“
, muss es Aufgabe der Gesetzgebung sein, „eine Form für dieses neue Vollmachtsverhältnis“
zu finden.* 1908 forderte Heinrich Beer,* Obmann des Metallarbeiterverbandes und sozialdemokratischer Reichsratsabgeordneter im Budgetausschuss des Abgeordnetenhauses vom k.k. Handelsministerium „die an die Industriellen zu vergebenden Lieferungen nur an solche Unternehmer zu vergeben, die die von den Arbeiterorganisationen in Kollektivverträgen vereinbarten Lohntarife anerkennen“
.* Mit dieser Thematik, die bald auch auf die Lieferungen an das Heer ausgedehnt wurde, befasste sich auf Antrag der Gewerkschafter in der Folge der 1898 gegründete Arbeitsbeirat des Arbeitsstatistischen Amtes. Das Gremium setzte sich aus Gewerkschaftern, Unternehmern, Wissenschaftern und Ministerialvertretern zusammen und hatte die Aufgabe, vor allem sozialpolitische Vorhaben zu besprechen und zu initiieren.* Unternehmer und Ministerien wehrten sich beharrlich, Maßnahmen für den Arbeiterschutz (wozu auch das Vorhandensein eines KollV gehörte) in die Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe aufzunehmen. Dadurch kam es trotz einzelner Beschlüsse und Empfehlungen bis Kriegsausbruch zu keiner entsprechenden administrativen Maßnahme.* 1912 versuchten die sozialdemokratischen Gewerkschafter, die gesetzliche Anerkennung von Kollektivverträgen im Berggesetz zu verankern, was allerdings von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt wurde.*
Rückte zunehmend die Forderung der sozialdemokratischen GewerkschafterInnen nach einer gesetzlich normierten Allgemeingültigkeit von Kollektivverträgen in den Mittelpunkt ihrer arbeitsrechtlichen Bestrebungen, so favorisierte die Christlichsoziale Partei die gesetzliche Errichtung von Einigungsämtern. Ein diesbezüglicher von den christlichsozialen Abgeordneten Josef Sturm und Leopold Kunschak 1907 in den Reichsrat eingebrachter Antrag fand keine Erledigung. Den Kollektivverträgen wurde von Seiten der christlichsozialen AN zwar die Absicht attestiert, „das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
169wenigstens für eine bestimmte Zeit vor Streiks oder Aussperrungen zu bewahren“
, doch letztlich seien sie in ihrer Wirkung doch nur „die zivilisiertere Form des Krieges“
.* Da der KollV aber „keinen eigentlichen Rechtstitel“
bildet, somit nur „von der Anständigkeit oder dem Respekt“
sowie der gegenseitigen Macht der Vertragsabschließenden abhängig sei, könne der Streik nicht ausgeschlossen werden. Deshalb müsse „nach anderen Möglichkeiten, den Streik auszuschalten“
, gesucht werden. 1912 brachte der christlichsoziale Abgeordnete Ämilian Schöpfer
erneut einen neuen Gesetzesentwurf in den Reichsrat ein, der wiederum auf die Errichtung von Arbeiterausschüssen und Einigungsämtern zielte. Arbeiterausschüsse sollten in den einzelnen Betrieben vermittelnd wirken, während den Einigungsämtern die für alle bindende Entscheidung über Arbeitskonflikte zufallen sollte.* Der Antrag, der sich zum einen gegen die sozialdemokratische Vertrauensmännerorganisation in den Betrieben richtete und zum anderen den Einigungsämtern die Möglichkeit bot, Arbeitskämpfe durch Schiedsspruch zu verbieten, wurde im Abgeordnetenhaus nicht weiter behandelt.
Nach dem Regierungsentwurf des Jahres 1907 sollten für Handlungsgehilfen bezüglich Dienstleistung und Entlohnung der „Ortsgebrauch“
gelten. In den Erläuterungen zu § 4 wurde bemerkt: „Ein zwischen einem oder mehreren Dienstgebern und einer Organisation der Dienstnehmer abgeschlossener Kollektivvertrag (Tarifvertrag) wird regelmäßig als stillschweigende Vereinbarung anzusehen sein.“
* Doch dem Unterausschuss des Volkswirtschaftlichen Ausschusses des Abgeordnetenhauses „schien es notwendig, bei diesem Anlasse auch die rechtliche Bedeutung des Kollektivvertrages für die Arbeitsbedingungen besonders hervorzuheben“
.* Voraussetzung des KollV war selbstverständlich, dass AN und AG den den KollV abschließenden Vereinigungen angehören. Im Übrigen war die Geltung des KollV nur eine dispositive, „sofern nämlich nicht von Parteien abweichende Vereinbarungen getroffen worden sind“
. In den Zeitungen wurde die Erwähnung des KollV im HGG als „bemerkenswert“
bezeichnet.* Zwar sprach sich in Übereinstimmung mit dem Verband der österreichischen Industrie die Kärntner Handelsund Gewerbekammer „für die glatte Ablehnung“
von Tarifkommissionen für Handlungsangestellte aus, „weil Kollektivverträge für Beamte und geistige Arbeiter nicht passen“
,* doch die 1908 vom Ausschuss und Plenum angenommene Formulierung fand als § 6 Eingang in das dann erst 1910 beschlossene HGG.*
Bereits Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurden Rahmenverträge zwischen Krankenkassen und Ärzten abgeschlossen, allein fehlte es an einer rechtlichen Legitimation. So etwa bestand zwischen den Ärzten und dem Verband der Genossenschaftskrankenkassen Wiens „wenn auch nicht formell, so doch tatsächlich“
ein „Kollektivvertrag“
:* Mit den Vertretern der Ärzte wurde ein Vertragsformular ausgearbeitet, welches allen Ärzten zuging und dessen Änderung nur mit der Zustimmung der Ärztevertretung möglich war. Auch das Honorarschema wurde kollektivvertraglich geregelt. Im Rahmen der Diskussion um den Ausbau der SV 1908 hieß es in der „Wiener medizinischen Wochenschrift“: „Die Ärzte fordern den Kollektivvertrag, damit nicht unerfahrene Ärzte zu Schaden kommen, ebenso ist die Festsetzung des Honorars nach Kopf und Jahr nötig, um die Ärzte gerecht zu entschädigen.“
* Die Forderung der Ärzte und wohl auch der Krankenkassen wurde dann erst durch eine in Kriegsdiktatur 1917 erlassene kaiserliche VO über Änderungen des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt: Der § 6e sah die Möglichkeit vor, dass die Krankenkassen mit den „Organisationen der Ärzte ihres Sprengels Abmachungen über den Inhalt der mit den einzelnen Kassenärzten zu schliessenden Verträge treffen (Rahmenverträge, Vertragsschema)“
.* Den Einzelverträgen war dieser kollektive Vertrag „zugrunde zu legen“
, womit wohl erstmals die „Unbedingtheit des Kollektivvertrages“ gesetzlich normiert wurde. Für die aus diesem Vertragsverhältnis entstehenden Streitigkeiten war eine paritätisch zusammengesetzte „Einigungskommission“ zuständig, die bei Bedarf von der Landesbehörde zu errichten war. Sofern der Spruch der Einigungskommission von den Vertragsparteien nicht anerkannt wurde, war er nicht bindend.* Als die VO im wieder einberufenen Reichsrat zur Behandlung kam, begrüßte der Berichterstatter Johann Smitka
– sozialdemokratischer Abgeordneter und Obmann des Verbandes der Schneider und Schneiderinnen – die kollektivvertragliche Regelungsmöglichkeit.* Die entsprechenden Bestimmungen wurden dann auch vom Reichsrat beschlossen.*
Einer der ersten Gesetzesvorlagen, die das im Dezember 1917 gegründete „Ministerium für soziale Fürsorge und Volksgesundheit“* in das 1917 wieder einberufene Abgeordnetenhaus des Reichsrates einbrachte, war das Heimarbeitergesetz.* Die miserable Lage der HeimarbeiterInnen – von 170 den GewerkschafterInnen immer wieder aufgezeigt – beschäftigte den Arbeitsbeirat des k.k. Arbeitsstatistischen Amtes und die Legislative seit Jahrzehnten. Bemerkenswert an diesem Entwurf ist, dass neben der Mindestfestsetzung der Löhne und Arbeitsbedingungen für HeimarbeiterInnen durch Satzung einer von AN und AG besetzten Zentralheimarbeitskommission auch die – von den Gewerkschaftern bereits 1910 geforderte* – Möglichkeit des Abschlusses von Kollektivverträgen vorgesehen wurde.* In den Erläuterungen zur RV wird unmissverständlich festgestellt: „Es besteht bei allen Sachkennern kein Zweifel darüber, daß die aus dem lebendigen Interessengegensatze der Parteien geborenen, diesen Gegensatz ausgleichenden, von Gruppe zu Gruppe geschlossenen Vereinbarungen vor jeder noch so fein durchdachten autoritären Regelung unbedingt den Vorzug verdienen.“
* Dementsprechend sollte die Satzung über allen Einzelvereinbarungen der Parteien stehen, der KollV jedoch die Satzung brechen. Sollten „die Parteien in Einzelverabredungen von den Bestimmungen des Kollektivvertrages abweichen, gelten die Vorschriften der Satzungen.“
* Die GewerkschafterInnen gingen jedoch offenbar davon aus, dass ein allfälliger KollV von der Zentralheimarbeitskommission zur Satzung erklärt wird, denn dann hat er für alle HeimarbeiterInnen zu gelten und die darin vereinbarten Löhne können durch Einzelverabredungen nicht unterboten werden.* Als Satzung gelten die Bestimmungen auch für jene AN und AG, die nicht Mitglieder der den KollV ursprünglich abschließenden Organisationen sind. Die genannten Bestimmungen sollten auch für die entsprechenden Vereinbarungen der Gewerbegenossenschaften gelten.* Die noch unter monarchischem Regime vereinbarten Bestimmungen wurden in das letztlich von der Provisorischen NV beschlossene Gesetz übernommen.*
Bereits Ende 1917 fand eine Enquete über die Dienst- und Lohnverhältnisse der Handlungsgehilfen statt, in der es um eine Weiterentwicklung des HGG 1910 ging. In der Folge brachten die sozialdemokratischen Abgeordneten einen Antrag über eine Abänderung und Ergänzung des HGG 1910 in den Reichsrat ein,* der dem Ministerium für soziale Fürsorge zur weiteren Behandlung zugewiesen wurde. In dem sozialdemokratischen Antrag ging es um die gesetzliche Normierung eines „angemessenen Entgelts“ für Handlungsangestellte. Die Angemessenheit sollte im Streitfall das zuständige Gericht auf Grund eines Gutachtens einer „Einigungs- und Lohnkommission“ entscheiden. Die „Einigungs- und Lohnkommission“ hatte ein „ortsübliches Mindestgehalt“ festzusetzen (§ 6e). Die Angemessenheit ist aber auch dann gegeben, wenn es eine kollektivvertragliche Vereinbarung gibt. Individualvereinbarungen zwischen AN und AG sind solchen Vereinbarungen „gleichzuhalten“, „welche zwischen einer Berufsvereinigung des Dienstnehmers mit seinem Dienstgeber oder dessen Berufsvereinigung abgeschlossen worden sind (Kollektivverträge)“
. Diese Kollektivverträge können im „Verordnungswege“ auch für andere Gruppen von DN „als rechtsgültig erklärt werden“. Bestimmungen des KollV können durch „anderweitige Vereinbarungen“ nur dann abgeändert werden, wenn sie für den DN günstiger sind. Im Übrigen ist jeder KollV, auch wenn er keiner behördlichen Genehmigung unterliegt, „als gültige Vereinbarung anzusehen, wenn sein Vorhandensein vom Dienstgeber oder Dienstnehmer bewiesen wird“
(§ 6d). Mit diesen Bestimmungen erhofften die sozialdemokratischen Gewerkschafter, ihre zentralen Forderungen nach Unbedingtheit des KollV und nach räumlicher und branchenmäßiger Erweiterung durchzusetzen. Im Ministerium wurde nun – unter Federführung von Karl Pribram
* – ein Gesetzesentwurf erarbeitet, der „die Vorlage“ für alle weiteren ähnlichen Gesetzesvorhaben werden sollte. Der Ministerialentwurf eines „Gesetzes über Tarifkommissionen für den Dienstvertrag der Handelsangestellten“* sah vor: In jedem Sprengel einer Handels- und Gewerbekammer wird eine Tarifkommission errichtet (§ 1). Jeder KollV über Dienstverträge ist bei dieser Tarifkommission zu hinterlegen. Ab der Veröffentlichung sind Individualvereinbarungen zwischen AG und AN nur insoweit gültig, als sie für den AN günstiger sind bzw Angelegenheiten betreffen, die im KollV nicht geregelt wurden (§ 2). In § 3 versucht der Entwurf – nun erstmalig – eine Definition des KollV: „Unter Kollektivvertrag wird in diesem Gesetz jedes Uebereinkommen verstanden, das zwischen einer Vereinigung von Dienstnehmern und einem oder mehreren Dienstgebern oder einer Vereinigung der letzteren abgeschlossen wurde und die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Dienstgebern und Dienstnehmern oder sonstige Angelegenheiten regelt, die für das Dienstverhältnis von Bedeutung sind.“
Die nach § 144 der GewO von der Genossenschaftsversammlung im Einvernehmen mit der Gehilfenversammlung vereinbarten Dienstverträge haben als Kollektivverträge zu gelten. Die Tarifkommission kann den KollV als „Satzung“ beschließen, sodass er auch für jene Dienstverträge Gültigkeit hat, die außerhalb des Geltungsbereiches eines KollV abgeschlossen wurden (§ 4). Die §§ 5 und 6 regeln die Verhandlungen und die Aufgaben der Tarifkommission. Bei Streitigkeiten, die aus Dienstverträgen zwischen mehreren AN und AG entstehen, ist ein Vergleich anzustreben. Sollte dieser nicht zustande kommen, ist eine „einigungsamtliche Verhandlung der Tarifkommission“
anzuordnen. Sollte es zu keiner Einigung kommen, so ist 171 ein Schiedsspruch zu fällen, dem sich die Parteien nicht unterwerfen müssen (§ 7). Der Gesetzesentwurf wurde von der Mehrzahl der Handels- und Gewerbekammern abgelehnt.* Zum Unterschied von der Kaufmannschaft, die den Entwurf grundsätzlich befürwortete, kam vom Reichsverband der österreichischen Industrie eine besonders harsche Ablehnung.* Die Industriellen sahen ua das Vertrauensverhältnis zwischen AN und AG durch eine Zugehörigkeit der AN zur Gewerkschaft gestört. Ein KollV sei kein „Friedensinstrument“, sondern vielmehr ein „Kampfziel“ und widerspreche vollständig den Dienstobliegenheiten eines Industrieangestellten. Und die AG-Zeitung sah infolge dieses Gesetzesentwurfs überhaupt grauenvolle Zeiten auf die Unternehmer zukommen: „Der Besitzer eines kleines Geschäftsladens und der Inhaber eines Welthauses, der Engrossist und der Detaillist, der Kommissionär und der Spediteur und wie diese tausenderlei Arten und Abarten der Geschäftswelt sonst heißen mögen, sie werden nach dem Kriege einen großen Teil ihrer Machtbefugnisse verlieren und nicht mehr das sein, was sie bisher waren: Unumschränkte Herren im eigenen Hause. Der Prinzipal steht dem Angestellten nicht mehr unmittelbar gegenüber; er wird von ihm durch zwei neue Einrichtungen getrennt: durch den Kollektivvertrag und die Tarifkommissionen.“
* Waren die Unternehmer 1912 noch der irrigen „festen Ueberzeugung“
, dass die AG in Zukunft „jedem, der ihnen den Abschluß eines Kollektivvertrages anzuraten wagen wird, den Laufpaß geben werden“
,* so drohten sie nun ihren Mitgliedern mit dem Ausschluss aus dem Verband, wenn diese einen KollV mit ihren Angestellten abschließen sollten.* Durch den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie im Herbst 1918 wurde die Arbeit an dem Gesetzesentwurf eingestellt, zumal es nun darum ging, erste wichtige sozialpolitische Maßnahmen zur Bewältigung der „Übergangswirtschaft“ zu treffen. Die mit dem Gesetzesentwurf über die Tarifkommissionen für Handelsangestellte gemachten legistischen Erfahrungen im Ministerium erwiesen sich für die nun unter Staatssekretär Ferdinand Hanusch geplanten Gesetzesvorhaben als überaus wertvoll.
Bekanntlich traf der von den monarchischen Regierungen Österreichs und des Deutschen Reiches herbeigeführte Krieg die Gewerkschaften schwer. Sie hatten durch Einberufungen zum Kriegsdienst, jedoch besonders durch die ihre Freiheit radikal einschränkenden Kriegsgesetze zu leiden. Insb in den militärischen Betrieben nahmen die Repressionen und Drangsalierungen gegenüber den völlig rechtlosen AN zu. Bedingt durch die militärischen Rückschläge um die Jahreswende 1916/17 und durch Klagen und Forderungen des von über 1.000 Delegierten besuchten „Arbeitertages“ am 5.11.1916 sah sich die monarchische Regierung zu einem Minimum an sozialpolitischen Zugeständnissen bereit. Dem Verband der Metallarbeiter und der Gewerkschaftskommission gelang es nach langen Verhandlungen, das Kriegsleistungsgesetz etwas zu entschärfen: Mit Kaiserlicher VO vom 18.3.1917 wurden sogenannte „Beschwerdekommissionen
“ für „den militärischen Zwecken dienenden Betrieben“ errichtet.* Aufgabe dieser aus fünf Mitgliedern bestehenden Kommission (vom Minister für Landesverteidigung ernannten Vorsitzenden, einem vom zuständigen Minister ernannten Mitglied, einem Richter und je einem Vertreter der AN und AG) war die Behandlung von Lohnforderungen und Änderungen in den Arbeitsbedingungen.* Nachdem sich die Beschwerdeführer durch „Berufsvereinigungen“ vertreten lassen konnten (§ 7), bedeutete dies de facto auch eine gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften.*
Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie in Folge des verlorenen Krieges, der Konstituierung einer Provisorischen NV für „DeutschÖsterreich“ und der Übernahme der Staatsgewalt durch einen Staatsrat unter Karl Renner
wurde am 30.10.1918 der bisherige Vorsitzende der (sozialdemokratischen) Gewerkschaftskommission Ferdinand Hanusch
mit der Leitung des Staatssekretariats für soziale Fürsorge betraut. Grundsätzlich ist zur Legistik des weltweit einzigartigen Sozialwerks Hanuschs
anzumerken, dass die Gesetze und Verordnungen unter seiner Ägide meist in einem sehr kurz bemessenen Zeitraum von Beamten des Ressorts formuliert, bis Mitte 1919 einer aus Vertretern des Hauptverbandes der Industrie und der Gewerkschaften paritätisch zusammengesetzten „Industriekommission“ zur Begutachtung vorgelegt und nach dem Plazet der Gewerkschaftskommission zur Beschlussfassung an den Staatsrat und die NV weitergeleitet wurden.* Eine der ersten Maßnahmen des „Staatsamtes für soziale Fürsorge“ war, die bestehenden Beschwerdekommissionen in Einigungsämter umzuwandeln. Durch Vollzugsanweisung vom 4.11.1918 hatten die Beschwerdekommissionen die Aufgabe von Einigungsämtern zu übernehmen: „Ihre Tätigkeit erstreckt sich innerhalb jener Sprengel und Berufsgruppen, für die sie errichtet sind, auf alle Streitigkeiten, die aus dem Arbeitsverhältnis zwischen mehreren Arbeitern und Angestellten und ihren Arbeitgebern entstehen.“
* Die Einigungsämter bestanden aus einem vom Staatssekretär für Justiz bestimmten 172 Richter als Vorsitzenden, von einem vom zuständigen Staatssekretär ernannten Mitglied und je einem Vertreter der AN und AG (§ 2). Sollte es zu keiner Einigung in der Streitfrage (§ 6) kommen, hatte das Einigungsamt einen Schiedsspruch zu fällen, der allerdings für die Parteien nicht bindend war. Allerdings war die Bedeutung dieser „ersten Einigungsämter“ marginal.*
Nicht erst im Achtstundentagsgesetz des Jahres 1919,* sondern bereits in jenem für die „fabrikmäßig betriebenen Gewerbeunternehmen“
vom 19.12.1918,* wurde der KollV einer ersten gesetzlichen Definition zugeführt, die bis zu den Verhandlungen über das EAG Norm war. § 5 Abs 1 schränkte die Vorschriften des § 1 ein, wenn durch einen KollV eine andere Regelung vereinbart war. In dem folgenden Abs 2 wurde der KollV wie folgt definiert: Unter KollV „wird jedes Übereinkommen verstanden, das zwischen einer Vereinigung der Arbeiter und einem oder mehreren Arbeitgebern oder einer Vereinigung der letzteren abgeschlossen wurde und die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten regelt, die für das Arbeitsverhältnis von Bedeutung sind“
.* Es wurde somit auf jene Definition des KollV – siehe weiter oben – zurückgegriffen, die im Zuge einer Novellierung des HGG im Frühjahr 1918 im monarchischen Ministerium für soziale Fürsorge erarbeitet worden war. Diese Präzisierung wurde dann auch – auf „Arbeiter und Angestellte“ erweitert – in die RV zum Achtstundentagsgesetz vom 17.12.1919 aufgenommen. Vom sozialpolitischen Ausschuss der NV wurde sie mit dem von den Deutschnationalen gewünschten einschränkenden Zusatz einer nur „wirtschaftlichen“ Bedeutung für das Dienstverhältnis angenommen.* Am Tag vor der parlamentarischen Beschlussfassung über das Achtstundentagsgesetz wurde im sozialpolitischen Ausschuss um eine entsprechende Definition des KollV für das EAG gerungen. Wie der christlichsoziale Abgeordnete Franz Spalowsky
im Plenum der NV am 17.12.1919 berichtete, wurde in diesen Verhandlungen einvernehmlich eine Definition des KollV für das EAG gefunden, die jedoch nicht mit jener für das Achtstundentagsgesetz vorgeschlagenen ident war. Um Übereinstimmung der beiden Gesetze herzustellen, beantragte Spalowsky
im Plenum im Einvernehmen mit den Mitgliedern des Ausschusses und dem Ministerium die Definition des KollV in § 5 Abs 2 Achtstundentagsgesetz an jene für das EAG vorgesehene anzupassen. Er brachte die neue Definition als mündlichen Antrag ein. In der Eile vergaß er jedoch den im Ausschuss für das EAG vereinbarten Zusatz, dass die entsprechenden kollektiven Vereinbarungen „schriftlich“ abzufassen sind. Dadurch weicht die Definition des KollV im Achtstundentagsgesetz von jener im EAG im Wortlaut geringfügig ab: § 5 Abs 2 Achtstundentagsgesetz und § 11 Abs 2 EAG lauten: „Unter Kollektivverträgen werden in diesem Gesetze jene Vereinbarungen verstanden, welche zwischen Berufsvereinigungen der Arbeiter oder Angestellten und einem oder mehreren Arbeitgebern oder Berufsvereinigungen der letzteren schriftlich
[Achtstundentagsgesetz ohne „schriftlich“] abgeschlossen wurden und die gegenseitigen, aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten oder sonstige Angelegenheiten regeln, die für das Arbeitsverhältnis von Bedeutung sind.“
Anzumerken wäre noch, dass damals der Industrielle und deutschnationale Abgeordnete Viktor Wutte
* einen Gegenantrag einbrachte, der sich gegen jede Form der Organisierung der AN richtete („Dieses erzwungene Hineinzerren von Organisationen halten wir für verfehlt.“
), den „Werkstättenvertrag“ ohne Gewerkschaften ermöglichen wollte und überdies die AN gleichsam als „Besitz“ der AG bezeichnete: „Als kollektiver Arbeitsvertrag gilt jedes Übereinkommen, das zwischen dem Arbeitgeber und seinen Arbeitnehmern, oder zwischen mehreren Arbeitgebern und deren Arbeitnehmern, oder zwischen Berufsorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossen wurde.“
Der Antrag, hier nur als Illustration der politischen Debatte wiedergegeben, wurde von den Sozialdemokraten und christlichsozialen Abgeordneten einvernehmlich abgelehnt.
Mit der Gründung der Republik und der Übernahme des Sozialressorts durch den führenden Gewerkschafter Ferdinand Hanusch
ging es den Gewerkschaften arbeitsrechtlich vor allem um
die gesetzliche Normierung ihrer bislang bereits in vielen Kollektivverträgen errungenen Erfolge (zB Arbeitszeit, Urlaub),
eine rechtliche Anerkennung der von den Gewerkschaften abzuschließenden Kollektivverträge,
die Erreichung einer Allgemeingültigkeit (Unbedingbarkeit) des KollV.
Mit Recht wurde die Erreichung eines kollektiven Arbeitsvertrages als erfolgreiches Ergebnis des immerwährenden Kampfes der Gewerkschaften um gerechten Lohn und bessere Arbeitsbedingungen für die AN gesehen. Für die solidarische Organisation der AN in Gewerkschaften waren ihre Bemühungen und ihr Kampf um die Erreichung eines KollV von zentraler Bedeutung. Allein im Gebiet der Republik stieg die Anzahl der (sozialdemokratischen) freien Gewerkschaften von 224.000 Mitgliedern 1910 auf rund 900.000 im Jahr 1920. Deshalb wehrten sich die Gewerkschaften auch erfolgreich gegen alle syndikalistischen Bestrebungen, die den Betriebsräten das Recht auf den Abschluss von Arbeitsverträgen auf Betriebsebene 173 geben wollten. Karl Pribram, wie bereits erwähnt als Legist im Sozialressort (1917-18: k.k. Ministerium für soziale Fürsorge, 1918-19: Staatsamt für soziale Fürsorge, 1919-20: Staatsamt für soziale Verwaltung) tätig, führt drei Gründe an,* die zum EAG führten:
Nachdem in der Habsburgermonarchie wie auch in anderen Staaten die vorherrschende Meinung davon ausging, dem Einzelvertrag gegenüber dem kollektiven Arbeitsvertrag den Vorzug zu geben, war es eine
„selbstverständliche Forderung der Gewerkschaften“
die Unabdingbarkeit der Kollektivverträge zu erreichen.Bereits in der Vorkriegszeit, aber insb mit Beendigung des Krieges, wurden die Kollektivverträge durch die wachsende Macht der Gewerkschaften in der Übergangs- und Nachkriegsphase
„sehr bald im industriellen und gewerkschaftlichen Leben Österreichs die beherrschende Form für die Ordnung der Arbeits- und Lohnverhältnisse, und erwiesen sich umso unentbehrlicher zur Verhütung wilder Streiks und erbitterter Lohnkämpfe in Einzelbetrieben, je mehr die Revolution aller Preise fortschritt, und die Nominallöhne immer wieder unter das Existenzminimum herabdrückte“
.Der unmittelbare Anlass für das EAG lag im BRG, das
„von der Auffassung beherrscht ist, daß der Arbeitsvertrag seine Regelung in kollektiven Vereinbarungen zu finden habe“
.
In der revolutionären Situation des Frühjahres 1919, in welchem durch die Räterepubliken in Ungarn und Bayern auch die Angst in Österreich vor der Rätebewegung einen Höhepunkt erreichte und das wirtschaftliche Leben zu lähmen drohte, brachten die christlichsozialen Abgeordneten Josef Resch, Franz Spalowsky
und Leopold Kunschak
einen Antrag über die gesetzliche Normierung von Tarifverträgen in die NV ein.* Der Antrag wurde dem sozialpolitischen Ausschuss zugewiesen, der ihn dann zusammen mit dem EAG behandelte.* Sollte der Antrag vor allem wohl ein Zeichen an die christlichsozialen Gewerkschaften sein, so zeigte sich andererseits, dass die Christlichsozialen doch geneigt waren, von ihrer den individuellen Arbeitsvertrag und staatliche Streikverhinderungsämter favorisierenden politischen Linie abzurücken.
Die Legistik im Sozialressort konnte bei der Formulierung des EAG weitgehend auf ihre Erfahrungen für den seinerzeitigen Gesetzesentwurf für Tarifkommissionen für Handelsangestellte zurückgreifen. Mit Recht stellt deshalb Kozak fest, dass damit die These untermauert wird, „dass die Arbeitsrechtsgesetzgebung in den Anfängen der I. Republik inhaltlich nicht revolutionär war, da sie sich auf bereits langjährige Entwicklungen und Entwürfe stütze“
.* Gleichwohl ist mit ihm festzuhalten, dass sie „erst durch die politischen Umbrüche durch den Untergang der Monarchie und die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratischen Partei in Gesetzen verankert werden“
konnte.* Die RV zum EAG gliederte sich in VII Abschnitte. Der erste behandelt die Organisation der Einigungsämter. Der zweite das einigungsamtliche Verfahren. Im dritten Abschnitt wird die rechtsprechende Tätigkeit der neuen Ämter festgestellt. Der vierte Abschnitt geht auf die im Einigungsamt zu registrierenden Kollektivverträge ein und definiert die kollektiven Arbeitsverträge. Der nächste Abschnitt behandelt den Beschluss des Einigungsamtes, einen KollV zur Satzung zu erklären. Die Errichtung eines Obereinigungsamtes beim Staatsamt für soziale Verwaltung bildet den 6. Abschnitt. Der letzte Abschnitt behandelt, abgesehen von Übergangsbestimmungen, Vorschriften für die Bürogeschäfte der Einigungsämter und des Obereinigungsamtes. Soweit kurzgefasst ein Überblick über den Inhalt des EAG, der hier angesichts entsprechender rechtswissenschaftlicher Literatur nicht weiter erläutert werden soll.* Anzumerken ist, dass die Gewerkschaftskommission in ihrer Stellungnahme zum Regierungsentwurf* die „explizite Nennung der sozialisierten Unternehmungen“
bei der Aufzählung der geltenden Arbeitsverhältnisse wünschte. Darüber hinaus wollte sie die Ausdehnung des Gesetzes auf Beamte und die Antragsgewährung zur Schaffung eines Einigungsamtes für die zu errichtenden Arbeiterkammern. Das Staatsamt lehnte die Wünsche ab, den letzteren mit dem Hinweis, dass man dann auch den Handelskammern dieses Pouvoir erteilen müsste. Die Hauptstelle der industriellen AG-Organisationen lehnte überhaupt die Bestimmungen über die tarifamtliche Tätigkeit der Einigungsämter ab. Dazu stellte das Staatsamt lapidar fest, dass es doch „gerade im Interesse der Unternehmerorganisationen gelegen sein muß, wenn den Kollektivverträgen, die meist nach mühsamen Verhandlungen zustande kommen, bindende Kraft beigelegt wird und wenn es möglich ist, die außerhalb der Organisation stehenden, an die Kollektivverträge nicht gebundenen Unternehmer, den Bestimmungen der letzteren durch Feststellung von Satzungen zu unterwerfen“
.* Interessant ist festzuhalten, dass sich auch das Staatssekretariat für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten gegen die Möglichkeit der Satzungen aussprach, da in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation eine starre Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen unbillig wäre. Der christlichsoziale Staatssekretär Johann Zerdik
wandte sich dann auch im Kabinettsrat vergeblich gegen die Satzung.
Der sozialpolitische Ausschuss beschäftigte sich sehr ausführlich mit der Materie, legte einen historischen Rückblick vor und kam einvernehmlich zu dem Beschluss, dass zwei Tatsachen klar und unzweideutig aus der Historie hervorgingen: „Erstens die zunehmende Bedeutung der Kollektivverträge für die wichtigsten Arbeitsverhältnisse
174und zweitens die Notwendigkeit, schwerwiegende Folgen des modernen Lohnkampfes durch staatliche Einigungsämter möglichst zu vermeiden.“
* Zur Regierungsvorlage hat der Ausschuss „neben manchen stilistischen Änderungen und Ergänzungen (...) keine besonderen Veränderungen vorgenommen“
.* Auf die im letzten Moment vorgenommene Neudefinition des Begriffes des KollV wurde bereits hingewiesen.
Die konstituierende Nationalversammlung nahm das EAG in der vom sozialpolitischen Ausschuss vorgeschlagenen Fassung mit einigen marginalen von den Christlichsozialen eingebrachten Abänderungsanträgen an. Nur die Deutschnationalen brachten ihre bereits im Ausschuss vorgebrachten, industriefreundlichen Anträge erneut vor, die jedoch wiederum mehrheitlich abgelehnt wurden. Festzuhalten ist, dass es weder den sozialdemokratischen noch den christlichsozialen Abgeordneten damals bewusst war, dass sie mit diesem Gesetz nach dem BRG einen Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen kollektiven Arbeitsrechtes setzten. Sowohl Ferdinand Hanusch
wie auch der Obmann des Zentralvereins der kaufmännischen Angestellten Österreichs und Mitglied der Gewerkschaftskommission der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften Karl Pick
betonten in ihren Stellungnahmen die der Realität nachhinkende Arbeitsrechtsgesetzgebung. Hanusch
erklärte, dass es schon lange Kollektivverträge gibt: „Es war also in Wirklichkeit so, daß Kollektivverträge vorhanden waren, es gab aber eigentlich kein Gericht, welches über Kollektivverträge zu entscheiden gehabt hätte, ein Zustand, der bei dem heutigen Organisationsleben auf Seiten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer selbstverständlich nicht mehr geduldet werden kann.“
* Und Karl Pick sah in dem EAG zwar einen „Fortschritt auf dem Wege einer modernen Sozialpolitik“
, meinte jedoch, dass „seine Wirkungen in letzter Linie konservativ“
seien: Nachdem der kollektive Arbeitsvertrag im letzten Jahrzehnt zu einer allgemeinen Erscheinung wurde, war das Gesetz nur „berufen, vorhandenen Tatsachen Rechnung zu tragen“
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