KrügerDas Stinnes-Legien-Abkommen 1918-1924 – Voraussetzungen, Entstehung, Umsetzung und Bedeutung

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2018, 342 Seiten, gebunden mit SU, € 59,90

KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

Im November 1918 schlossen die deutschen Gewerkschaften mit AG-Verbänden ein bedeutendes Abkommen über ua Tarifautonomie, Kollektivvereinbarungen und die Einführung des 8-Stunden-Tages. 100 Jahre später wurde die unter dem Namen der beiden zentralen Verhandlungspartner, des Großindustriellen Hugo Stinnes (1870-1924) und des Gewerkschafters Carl Legien (1861- 1920), als „Stinnes-Legien-Abkommen“ in die Geschichte der Arbeitsbeziehungen eingegangene Vereinbarung von „Gesamtmetall“, der Organisation der deutschen AG-Verbände der Metall- und Elektroindustrie, zum Anlass einer Festveranstaltung genommen. Im Rahmen dieser wurde auch die von Gesamtmetall herausgegebene vorliegende historische Publikation vorgestellt. Die Erinnerung an diesen „sozialpolitischen Kompromiss der ersten deutschen Demokratie“ (Bundespräsident Joachim Gauck 2015) geschah aus politischer Absicht: Die deutschen AG-Verbände sehen sich derzeit durch Eingriffe des Staates (Mindestlohn, Zeitarbeit, Arbeitsschutz, Arbeitszeit und Weiterbildung) nach eigenen Worten „stark benachteiligt“ und meinen – wie es der Präsident von Gesamtmetall Rainer Dugles ausdrückte – „niemand kann hier bessere, realitätsnähere Lösungen finden als Arbeitgeber und Gewerkschaften. Gemeinsam, ohne Staat“. Allerdings: Ohne die Forderungen der deutschen Gewerkschaften nach tragfähigen Flächentarifverträgen mit Tarifbindung ohne Opting-out zu erfüllen, wird es wohl nicht gehen. Soviel als Hintergrundinformation zum Anlass der Herausgabe des Buches durch den AG-Verband der deutschen Metallindustrie.

In der Tat war das zu Kriegsende in Berlin während der sogenannten „Revolutionszeit“, nicht ganz eine Woche nach der Ausrufung der Republik und der Bildung des „Rates der Volksbeauftragten“ am 15.11.1918, geschlossene Abkommen gegenüber der Vorkriegszeit ein Meilenstein in der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen. Die von einer Gruppe einflussreicher Industrieller und auf Gewerkschaftsseite ua von den Führern der drei Richtungsgewerkschaften – Carl Legien für die weitaus mitgliederstärksten sozialdemokratischen „freien“, Adam Stegerswaldfür die christlichen und Gustav Hartmann für die liberalen Gewerkschaften – unterzeichnete Vereinbarung umfasste ua die Anerkennung der Gewerkschaften „als berufene Vertretung der Arbeiterschaft“, mithin die Ächtung der arbeitgebernahen („gelben“) Werkvereine, die Festsetzung der Arbeitsbedingung durch Kollektivvereinbarungen, die Einsetzung von „Arbeitsausschüssen“ (Betriebsräten) in Betrieben von über 50 Beschäftigten, die Einsetzung von Schlichtungsausschüssen („Einigungsämtern“), die Einführung des 8-Stunden-Tages und zur Durchführung der Vereinbarung und zur Behandlung der Demobilisierung sowie weiterer wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die Errichtung eines paritätisch zusammengesetzten Zentralausschusses (ZAG) mit beruflich gegliederten „Reichsarbeitsausschüssen“ (RAG).

Das „Sozialpartnerabkommen“ brachte den Unternehmungen im revolutionär aufgepeitschten „Umbruch“ 1918/19 eine gewisse Sicherheit bei der Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft und war – wie es Hugo Stinnes ausdrückte – geeignet, den programmatischen Forderungen der freien Gewerkschaften nach Nationalisierung („Sozialisierung“) der Industrie den Boden zu entziehen. Den Gewerkschaften brachte die Vereinbarung jene Anerkennung durch die Industrie, die sie vor dem Krieg weitgehend vermissten, und schien ihnen Einflussnahme auf die zukünftige wirtschaftliche und soziale Gestaltung des Staates zu ermöglichen. Es stand jedoch unter heftiger Kritik syndikalistischer, linksorientierter und kommunistischer Bewegungen. Auch auf AG-Seite mussten die Protagonisten des Abkommens, die ohne Einbindung der großen Unternehmerverbände verhandelten, Überzeugungsarbeit leis ten. So etwa begründete der einflussreiche Vertreter der oberschlesischen 177 Schwerindustrie Ewald Hilger vor dem „Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“ das Abkommen mit den Worten: „Ich bin einer der eifrigsten Verfechter des Nichtverhandelns mit den Gewerkschaften von jeher gewesen. Ich habe meinen Standpunkt vollständig aufgegeben. (...) Ich stehe heute vor ihnen als ein aus einem Saulus gewordener Paulus. Wir kommen heute ohne die Verhandlungen mit den Gewerkschaften nicht weiter. (...) denn nur durch die Verhandlungen speziell mit den Gewerkschaften können wir Anarchie, Bolschewismus, Spartakusherrschaft und Chaos (...) verhindern.“

Immerhin konnte ein zentraler Konflikt in den Verhandlungen durch die Ankündigung einer befristeten Einführung des 8-Stunden-Tages durch den „Rat der Volksbeauftragten“ entschärft werden. Allerdings gelang es den AG, den Gewerkschaften die Zusatzvereinbarung abzuringen, dass „eine Regelung des Achtstundentages nur dann dauernd eingeführt werden kann, wenn er für alle Kulturverbände durch internationale Versicherung festgesetzt wird.“ Nur mit Mühe und unter hinhaltendem Widerstand einzelner Unternehmen gelang es in der Folge, jene im Abkommen vorgesehene paritätisch zusammengesetzte „Zentralarbeitsgemeinschaft“ (ZAG) mit 14 nach Branchen gegliederten „Reichsarbeitsgemeinschaften“ (RAG) als institutionelle Gremien der vereinbarten sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit zu gründen. Die Sozialpartner wollten gegenüber Bürokratie, Regierung und Gesetzgeber durch gemeinsam gefasste Beschlüsse auftreten, somit die Rolle des Staates in sozialen und wirtschaftspolitischen Materien zurückdrängen. Doch bald zeigte sich, dass es weder der AN-Seite noch den AG gelang, für alle ihre Mitglieder bzw Mitgliedsverbände gültige Vereinbarungen zu treffen, sodass dann doch der Gesetzgeber einzuschreiten hatte. Während es beispielsweise in der Chemieindustrie zu einem gedeihlichen modus vivendi zwischen den Gewerkschaften und den Industriellen kam, wehrten sich Teile des „Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller“ gegen den Abschluss von Tarifverträgen, was teils zu „wilden Streiks“ und Aussperrungen sowie bereits im Oktober 1919 zum Austritt des „deutschen Metallarbeiterverbandes“ aus der ZAG führte.

Nachdem der Metallarbeiterverband mit 1,6 Mio Mitgliedern die stärkste Branchengewerkschaft im 1919 von den freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften gegründeten „Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbund“ (ADGB) darstellte, war das für die ZAG ein herber Schlag. Darüber hinaus zeigte sich bereits in Stellungnahmen zum von den Gewerkschaften mit einem Generalstreik bekämpften „Kapp-Putsch“ im Jahr 1920, dass Teile der Industrie wieder oder noch immer mit antidemokratischen Kräften liebäugelten. Während es in der ZAG weitgehend gelang, die Probleme der Demobilisierung zu meistern und durch vereinbarte Wiedereinstellungsmaßnahmen eine große Arbeitslosigkeit zu verhindern, kam es jedoch in Fragen der Inflationsbekämpfung, eines Ausgleichs der Preissteigerungen durch entsprechende Lohnerhöhungen und in der Beurteilung der Sanierungs- und Reparationspolitik zu nahezu unüberbrückbaren Gegensätzen. Die unnachgiebige Haltung der AG in Fragen der Arbeitszeit und der damit zusammenhängenden Lohnpolitik (Forderungen nach Verlängerung der Arbeitszeit, nach Mehrarbeit und Verzicht auf Lohnanpassungen) führte im Jahr 1924 zum Austritt des ADGB aus der ZAG und somit zum Scheitern des sozialpartnerschaftlichen Experiments. Dennoch ist dem „Stinnes-Legien-Abkommen“ als sozialpartnerschaftliches Projekt ein tragender Einfluss auf Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung wie auch auf die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in der Weimarer Republik nicht abzusprechen.

Das Abkommen ist bisher in der historischen Literatur relativ ausführlich behandelt und bewertet worden. Die Einschätzungen reichen von einer Kritik an den Gewerkschaften, die sich 1918 von den Indus triellen „über den Tisch ziehen ließen“, bis hin zu moderaten Feststellungen, welche die Vereinbarung als „Magna Charta“ in der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen bezeichnen und in ihr eine Initialzündung für die diversen sozialpartnerschaftlichen Initiativen nach 1945 sehen.

Der mit dem Verfassen des vorliegenden Buches von Gesamtmetall betraute deutsche Zeithistoriker Dieter Krüger versucht in seiner Erzählung über die Entstehung des Abkommens und über die von Konflikten zwischen AG und AN beherrschten Verhandlungen in der ZAG, vor allem die durchaus unterschiedlichen Stellungnahmen, Meinungen, Bewertungen und Wünsche der Industriellen zu Wort kommen zu lassen, ohne jedoch jene der Vertreter der Richtungsgewerkschaften zu vernachlässigen: „Den heute außerhalb der Zunft der Sozialhistoriker fast vergessenen Organisationen und Persönlichkeiten, ihren Motiven und Handlungsspielräumen, ihren Ringen um die gemeinsame Schnittmenge ihrer gegensätzlichen Interessen, ihren Visionen, ihren Erfolgen und ihren Niederlagen soll ein historiografisches Denkmal gesetzt werden“, schreibt der Verfasser in der Einleitung seiner Monografie, die er als „Erinnerungsbuch“ tituliert haben will.

Mit Bedauern muss jedoch festgestellt werden, dass es der Autor verabsäumt, die unterschiedlichen Inter essenlagen im AG-Lager detaillierter zu strukturieren, zumal nur dann die im Buch zitierten zahlreichen Wortmeldungen von Verbands- und Industriemanagern verständlich werden. Desgleichen wird auf industrieller Seite die Motivation seiner maßgeblichen Akteure und der Hintergrund ihrer Konflikt- bzw Kompromissbereitschaft gegenüber den Gewerkschaften nur unzureichend beleuchtet. Vielfach werden Verhandlungen in der ZAG protokollarisch abgehandelt, ohne die Bedeutung einer Forderung für AN oder AG funktional zu analysieren. Nicht nachvollziehbar ist die Bilanz, die der Autor zieht: Er sieht im „Klassenkampfdenken auf beiden Seiten“ das Scheitern des Abkommens. Auf Gewerkschaftsseite kann davon allerdings keine Rede sein, es sei denn, man interpretiert irrig die Verteidigung des 8-Stunden-Tages und Forderungen nach höheren Löhnen als klassenkämpferische Bestrebungen.

Abschließend bleibt festzuhalten: LeserInnen, welchen die ersten Jahre der Weimarer Republik und die Durchsetzungsstrategien industrieller und gewerkschaftlicher Interessenpolitik und ihrer Akteure nicht geläufig sind, werden sich schwer tun, der Darstellung dieses „Erinnerungsbuches“ zu folgen. Dennoch bleibt es ein Verdienst dieser Arbeit, auf einen wichtigen Aspekt in der Geschichte der deutschen Arbeitsbeziehungen durch eine die neueste Literatur und auch Archivbestände berücksichtigende Darstellung hingewiesen zu haben.178