PiperRosa Luxemburg – Ein Leben

Blessing Verlag, München 2019, 832 Seiten, € 32,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Es war 23:45 Uhr, am 15.1.1919, als Rosa Luxemburg durch Angehörige der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, nach Gefangennahme und Misshandlungen, durch einen aufgesetzten Schläfenschuss in Berlin ermordet wurde. An ihrem Begräbnis nahmen 100.000 Personen teil. Rosa Luxemburg war und ist für die AnhängerInnen eines demokratischen Sozialismus eine herausragende Persönlichkeit, eine der historisch bedeutendsten Theoretikerinnen einer Überwindung der Ausbeutung der Arbeit.

Dieser Frau und ihrem aufregenden, von unzähligen dramatischen Situationen gezeichneten Leben hat der Historiker Ernst Piper, Professor für neuere Geschichte an der Universität Potsdam, eine mitreißende, materialreiche, präzise und insb dem Verständnis der Hintergründe dienende Biografie gewidmet. Der Lebenslauf dieser Frau überbietet jeden noch so ausgefeilten Politthriller um Größenordnungen. Sie war Mitglied in nicht weniger als sieben verschiedenen sozialistischen Parteien, sie wurde berühmt für ihre spektakulären Auftritte auf den SPD-Parteitagen, als einzige Frau mit einem Doktortitel, sie entschied sich für ein politisches Engagement in Deutschland auf der Basis einer Scheinehe, sie schrieb unermüdlich ihre Gedanken nieder, auch im Gefängnis, sie riskierte buchstäblich alles. Die LeserInnen lernen in diesem Buch den Reichtum ihrer Lebens- und Denkweisen kennen. Sie war eine ebenso kühne wie sensible Persönlichkeit. Auf sie trifft wie auf keine andere Führungspersönlichkeit der Arbeiterbewegung die Beschreibung von Jutta Dithfurth zu: „Lebe wild und gefährlich“. Nebenbei sei erwähnt, dass das Buch nach seinem Erscheinen auf den relevanten Bestsellerlisten in Deutschland den Platz eins einnahm.

Piper führt, aufbauend auf einer unerhört breiten Quellenbasis, gestützt auf enorme Bestände an Briefen, Aufsätzen, Protokollen etc, vor Augen, wie sich das politische und theoretische Denken dieser Frau entwickelt hat. Es wird deutlich, warum sie sich nie als Jüdin und Feministin definiert hat, sondern ihr ganzes Bestreben auf die Beseitigung des kapitalistischen Systems gerichtet war. Ihr Anspruch war ein konsequent internationalistischer und stand damit in heftigem Widerstreit zu dem nationalistischen Mainstream der deutschen bzw europäischen Sozialdemokratie. Bei aller revolutionären Radikalität war sie nicht dazu bereit, auch das entfaltet diese Biografie, ethische und humanitäre Basiswerte über Bord zu werfen.

Ausführlich geht Piper auf die umstrittene Schrift „Die russische Revolution“ ein, in der Luxemburg auf Distanz zu Lenin geht. Zugespitzt formuliert: Wo Lenin Kontrolle wollte, wollte sie Spontaneität, ohne dass ihre Position ein Plädoyer für Desorganisation war, wie Lenin meinte. Sie trat gegen den Ultrazentralismus der Bolschewiki ein. Visionär war ihre Kritik an der Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees. Ihre Kritik hat ihr den Ruf einer Abweichlerin eingebracht. Wer weiß, was passiert wäre, hätte sie in der UdSSR gelebt.

Pipers Biografie ist durch eine nicht gerade geringe Empathie für Luxemburg grundiert, er macht aber auch auf ihre Fehleinschätzungen (etwa die von ihr eigentlich gegen Marx vertretene „Zusammenbruchstheorie“) und auf nicht verifizierbare Mythen (zB die oft kolportierte Beteiligung sozialdemokratischer Politiker an ihrer Ermordung) aufmerksam. Ihrer wohl berühmtesten Aussage, ihrem Plädoyer für die „Freiheit der Andersdenkenden“, liegt, wie der Autor relativierend entwickelt, kein absoluter Freiheitsbegriff iSd heutigen bürgerlichen Liberalismus zugrunde, sondern ihr schwebte ein sozialistischer Pluralismus im Rahmen einer „Diktatur des Proletariats“ vor Augen. Heute wird ua auch deswegen gegen Rosa Luxemburg vorgebracht, ihre Gesellschaftskonzeption sei mit den Grundwerten einer liberalen Demokratie nicht vereinbar. Ihre Ideen wären daher nur mehr von historischem Interesse. Die vorliegende Biografie macht deutlich, dass einer solchen Sichtweise nicht gefolgt werden kann. Rosa Luxemburg ist Vertreterin eines dritten Weges, der zwar unvereinbar mit liberalbürgerlichen Verfassungskonstruktionen ist, aber doch kompatibel mit Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechten. Es geht ihr um eine andere „Wirtschaftsverfassung“. Ihre zentrale Fragestellung war, wie könnte eine sozialistische Demokratie aussehen, in der die Macht über die Produktionsmittel den Produzenten und nicht den Kapitaleigentümern zusteht. Das ist nicht totalitär, es sei denn, man sieht die heute festgeschriebenen „Grundrechte“ des Kapitals als nicht hinterfragbare Werte an.

Rosa Luxemburg war Anhängerin einer „Rätedemokratie“. Dieses Konzept hat im österreichischen Betriebsverfassungsrecht einen bedeutenden Niederschlag gefunden. Das Projekt wurde (leider) nicht weiterverfolgt, obwohl es einen Weg in einen demokratischen Sozialismus und in eine Wirtschaftsdemokratie weist, der sich einerseits vom Kollektivvertragssystem als liberale Alternative und andererseits von einer Planwirtschaft nach sowjetischem Muster unterscheidet. Mit der im ArbVG 1974 vorgenommenen Abschaffung der staatlichen Wirtschaftskommission als Behörde mit wirtschaftslenkenden Funktionen wurde wohl ein historisch höchst interessantes Projekt endgültig zugunsten des in einem „kapitalistischen Rahmen“ deutlich besser angepassten Systems der Kollektivverhandlungen begraben.

Rosa Luxemburg war Anhängerin einer „Rätedemokratie“. Dieses Konzept hat im österreichischen Betriebsverfassungsrecht einen bedeutenden Niederschlag gefunden. Das Projekt wurde (leider) nicht weiterverfolgt, obwohl es einen Weg in einen demokratischen Sozialismus und in eine Wirtschaftsdemokratie weist, der sich einerseits vom Kollektivvertragssystem als liberale Alternative und andererseits von einer Planwirtschaft nach sowjetischem Muster unterscheidet. Mit der im ArbVG 1974 vorgenommenen Abschaffung der staatlichen Wirtschaftskommission als Behörde mit wirtschaftslenkenden Funktionen wurde wohl ein historisch höchst interessantes Projekt endgültig zugunsten des in einem „kapitalistischen Rahmen“ deutlich besser angepassten Systems der Kollektivverhandlungen begraben.

Rosa Luxemburg war, wie sich in der Biografie durchgehend zeigt, Verfechterin einer strikt wissenschaftlichen Herangehensweise an gesellschaftliche Fragen, stand also im Gegensatz zum revolutionstheoretischen Pragmatismus von Lenin und dem theoretisch unbegründbaren reformistischen Pragmatismus der Sozialdemokratie. Kaum jemand hat wie Rosa Luxemburg der Theorie und der Wissenschaftlichkeit einen eindeutigen Vorrang bei politischen Entscheidungen eingeräumt.

Piper geht auch auf die wohl recht überraschenden privaten Eigenheiten der Persönlichkeit von Rosa Luxemburg ein. Sie scheinen so gar nicht zu der harten und unnachgiebigen Aktivistin zu passen. Etwa, dass sie anfangs in Zürich Vorlesungen in Allgemeiner Zoologie und einen zoologisch-mikroskopischen Übungskurs belegte. Sie bekannte auch: „Ich bin über beide Ohren in der Geologie, die mich außerordentlich anregt und beglückt.“ Sie schuf über viele Jahre hinweg aus Blüten und Blättern grafische Kunstwerke. Ihr großartiges Herbarium wurde kürzlich wiederentdeckt und im Dietz Verlag publiziert. Wir vernehmen, dass sie den Garten und ein Feld mit Hummeln und Gräsern einem Parteitag vorzog. Sie kannte Goethe und Mörike in- und 179 auswendig. Sie beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und war literarisch außerordentlich gebildet. In ihren Briefen geht es etwa um einen „herrlichen Christbaum“, um Vogelkästen, um Sonnenuntergänge und um Froschkonzerte. Alles Zeugnisse einer tragischen Zerrissenheit. Rosa Luxemburg hat ganz offensichtlich ihr eigentliches Leben dem Dienst an einer Änderung der Gesellschaft geopfert.

Piper hat ein sensationell gutes Buch über eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der antikapitalistisch-emanzipatorischen Bewegungen geschrieben. Die Lebensgeschichte trifft heute auf eine Epoche, in der es ratsam erscheint, einige der Ideen von Luxemburg wieder aufzugreifen, denn die gemütliche Phase des Kapitalismus neigt sich dem Ende zu. Es mehren sich die Symptome eines Kollapses, wenn auch viel später und deutlich anders, als es Luxemburg vermutet hat. Themen wie Internationalismus, Wirtschaftsdemokratie oder eines „dritten Weges“ iS einer Kombination aus Rechtsstaat, erweiterten demokratischen Prozessen und einer von Grundrechten geprägten sozialistischen Gesellschaft sind wieder aktuell. Am Ende stellt man unweigerlich die Frage nach Führungspersonen, die mit theoretischen Begabungen und persönlichen Qualitäten, wie sie Rosa Luxemburg gelebt hat, für einen Pfad des Humanismus und der Gerechtigkeit so kompromisslos eintreten.