Die Armutskonferenz (Hrsg)Achtung – Abwertung hat System. Vom Ringen um Anerkennung, Wertschätzung und Würde
Verlag des ÖGB, Wien 2018, 256 Seiten, kartoniert, € 19,90
Die Armutskonferenz (Hrsg)Achtung – Abwertung hat System. Vom Ringen um Anerkennung, Wertschätzung und Würde
Der hier besprochene Band besteht aus 27 Einzelbeiträgen. Sie kreisen um die immateriellen, persönlichkeitsbezogenen Aspekte von Armut. Neben dem Fehlen eines ausreichenden Einkommens zur Sicherung der Teilhabe an existenzsichernden Gütern und Dienstleistungen erleiden arme bzw armutsgefährdete Personen vor allem auch Beeinträchtigungen ihres sozialen Status. Anerkennung, Würde und Wertschätzung werden ihnen in überdurchschnittlich hohem Ausmaß vorenthalten. Die Thematik war Gegenstand der 11. Armutskonferenz, die im März 2018 in Salzburg stattgefunden hat und in dieser Aufsatzsammlung einen lesenswerten Niederschlag gefunden hat.
Die Problematik des Respekts gegenüber einkommensschwachen Personen und die Herstellung eines gesellschaftlichen Klimas der Wertschätzung steht in einer langen Tradition an theoretischen Beiträgen und Debatten in Armuts- und Verteilungsforschung. Die Beiträge stellen sich der Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen mangelnder Anerkennung, gesellschaftlichen Abstiegsängsten und dem empirisch nachweisbaren Anstieg an gesellschaftlich wahrnehmbaren Aggressionen, die vor allem gegenüber so genannten Randgruppen zum Ausdruck gebracht werden. Ausgegangen wird von der zweifelsohne richtigen Diagnose, dass das Versprechen, dass Leistung und Arbeitswille soziale Sicherheit, Anerkennung und Achtung garantieren würden, ins Wanken geraten ist.
Das Buch ordnet die vielfältigen Themen und Beiträge drei Kapiteln zu. Im Kapitel „Abwertung hat System“ geht es ua um die Auswirkungen von Algorithmen, die Menschen automatisch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zuteilen. Untersucht und dargestellt werden weiters Erfahrungen mit Sozialhilfereformen in Großbritannien, das Verhältnis von Abwertung und 181 Wertschätzung in Bezug auf die Lebensrealitäten in der Stadt und auf dem Land, der Zusammenhang von Armut und Krise in der Demokratie, die Leistungsdebatten zum Zwecke der Legitimation von sozialer Ungleichheit und Altersarmut in der Sozialberichterstattung. Ein Beitrag greift die Frage auf, ob Zorn auf die Reichen ein angemessenes Gefühl ist.
Das Kapitel „Anerkennung macht stark“ thematisiert ua die blinden Flecken der Anerkennungstheorie (von Axel Honneth), Methoden der Selbstvertretung, die Darstellung von Kinderarmut in den Massenmedien und die Perspektive Armutsbetroffener auf Abwertungs- und Anerkennungsdiskurse. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Situation geflüchteter Kinder, mit der Bedeutung sozialer Grundrechte und der Care-Debatte.
Das letzte Kapitel „Handeln tut not“ präsentiert Orte und Beispiele, in denen Achtung und Selbstbewusstsein gelebt werden. Es handelt sich vor allem um Beiträge und Projekte zur Überwindung von Abwertungssituationen aus eigener Kraft.
Zwei an den Anfang des Bandes platzierte Beiträge (von Nancy Fraser, Axel Honneth/Titus Stahl) bilden einen nützlichen theoretischen Rahmen für die Diskussionen um Anerkennung, Verteilungsgerechtigkeit und Repräsentation. Diese Texte widmen sich der zentralen Frage, ob eine gerechte Verteilung ausreicht, um eine Gesellschaft wirklich gerecht zu machen. Anzumerken ist Frazers kritisch Haltung gegenüber einer identitätspolitischen Ausrichtung in der Armutsdebatte.
Es ist unmöglich, hier auf die Vielzahl von Thesen, Analysen, Befunden und Vorschlägen einzugehen, die in dem Band präsentiert werden. Wegen der Nähe zu rechtlichen Fragestellungen greife ich den Beitrag von Angelina Reif („Ein Recht ohne Anspruch ist kein Recht“) heraus, in dem sie zur Situation der sozialen Grundrechte in Österreich Stellung nimmt. Sie beklagt, dass nach wie vor in Österreich soziale Grundrechte nicht verfassungsrechtlich verankert sind, anders als etwa im GG der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt hier keine Sozialstaatsklausel und keinen Grundrechtsschutz für sozialrechtliche Ansprüche (was in dieser Allgemeinheit nicht ganz richtig ist). Zutreffend wird festgestellt, dass auch die EMRK und die Grundrechtecharta der EU dazu wenig beitragen. ME zu Unrecht kritisch dargestellt wird die restriktive Judikatur des EGMR, der einen Anspruch auf Wohnung oder die Gewährleistung eines Rechts auf ein soziales Existenzminimum, eines Rechts auf Gesundheit in einem Österreich betreffenden Fall oder ein Recht auf Arbeit abgelehnt hat. Diese Rechtsprechungsergebnisse sind aber nur Resultat der Konzeption der EMRK als liberale „Freiheitsrechte“. Nicht erwähnt wird die Koalitionsfreiheit, die als Garantie einer prozeduralen Umsetzung von sozialen Standards (durch Gewerkschaften) wertvolle Dienste leistet. Die Möglichkeiten, die die GRC bietet, in der in den Abschnitten „Gleichheit“ und „Solidarität“ soziale Grundrechte verankert sind, sieht die Verfasserin zu pessimistisch. Die GRC ist entgegen ihrer Auffassung nicht nur auf Rechtsakte der Union anzuwenden, sondern auch die Mitgliedstaaten haben bei „Durchführung des Rechts der Union“ die Grundrechte zu achten.
Zu Recht werden die schwachen individuellen Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten der UN-Pakte kritisiert, Gleiches würde wohl auch für die Standards der ESC gelten, mit denen zB das derzeitige Lohnniveau im Niedriglohnsektor in Österreich nicht vereinbar wäre. Der Beitrag geht aber auf das eigentliche Kernproblem der Verankerung sozialer (auch ökologischer uä) Grundrechte nicht ein. Anders als bei den liberalen Abwehr-Grundrechten erfordern positive Grundrechte eine Art richterlicher Ersatzgesetzgebung. Das wird vielfach als eine Beschneidung der Rechte des Parlaments gesehen. Will man also soziale Grundrechte effektiv installieren, muss man einen nicht unerheblichen Systembruch in unserer Verfassungsordnung in Kauf nehmen. Dazu kommt, dass soziale Grundrechte hochgradig von der jeweiligen Wirtschaftslage abhängig sind. Übrigens zeigt das Beispiel Deutschland, dass die Sozialstaatsklausel etwa Maßnahmen wie Hartz IV nicht verhindern konnte. ME ist nach wie vor davon auszugehen, dass soziale Grundrechte mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht vereinbar sind. Insofern liegt dieser Beitrag auf einer Linie mit anderen Texten dieses Bandes, die den Zusammenhang von Kapitalismus (heutigen Typus insb) und Armut ausblenden.
Ein zweiter Beitrag sei herausgegriffen, weil seine Fragestellung doch recht originell erscheint: Martin Schürz schreibt zum Thema „Zorn auf die Reichen? Gedanken zur Angemessenheit eines Gefühls“. Die Fragestellung interessiert auch deswegen, weil es dabei um den alten Streit zwischen einer moralischen versus einer strukturellen Sicht von „Missständen“ in unserer Gesellschaft geht. Derzeit ist ein Trend festzustellen, die tatsächlich oft unerträglichen Verhältnisse zu moralisieren, zu emotionalisieren oder sie in identitätspolitische Debatten zu verwickeln. Schürz meint, dass das Ungerechtigkeitsempfinden der Menschen gerne abgewertet und dabei Neid und Zorn als Motiv unterstellt werden. Für den Autor ist „Zorn“ ein unerlässlicher Antrieb, gegen Ungerechtigkeit anzukämpfen. Schürz entwickelt eine lesenswerte „Kritik der Zornkritik“, überaus unfreundlich geht er mit Senecas „De ira“ um und herbe Kritik erfährt auch Sloterdijks berüchtigtes Plädoyer für Großzügigkeit (statt Umverteilung). Dem Autor sind die Widersprüche einer Emotionalisierung (sozial-)politischer Fragen aber nicht entgangen. Aktuell richtet sich der „Zorn“ ja weniger gegen die Reichen denn gegen Flüchtlinge und Arme. Zu einer radikalen Schlussfolgerung kann sich der Verfasser aber nicht durchringen: Der bessere Ratgeber zur Veränderung der Verhältnisse sind nicht Zorn und Aggressivität, sondern Bildung und Vernunft. Zorn ersetzt keine Strategie. Die „Reichen“ sind die personelle Manifestation des Kapitalverhältnisses, in dem letztlich auch die „Armen“ gefangen sind. Jedenfalls ein lesenswerter und zum Nachdenken animierender Beitrag.
Zusammenfassend kann dieser Sammelband auf Grund seiner Vielfalt und seiner durchwegs lesenswerten Beiträge empfohlen werden. Er bildet eine Brücke zwischen Theorien der Armutsforschung und den Szenarien, sie sich im Sozialsystem tagtäglich vor unseren Augen abspielen. Die Ansätze erscheinen mir aber nicht ausreichend „systemkritisch“ und sind daher auch rechtspolitisch etwas naiv. Nicht wenige Beiträge neigen zu einer Moralisierung der Problematik oder zu einer stark karitativ geprägten Sichtweise. Hauptverdienst der Texte ist es, auf die nicht materiellen Aspekte des Armutsproblems aufmerksam zu machen.
Einige grundsätzliche Probleme bleiben ausgespart, auch weil sie die politische Orientierung der armutspolitisch 182 Engagierten in Frage stellen könnten. Es könnte sich zeigen, dass das Armutsproblem kein verteilungspolitisches ist, sondern für 90 % der Bevölkerung die Lebensverhältnisse unabhängig vom Einkommen erfasst. Hauptverdienst der Texte ist es, auf die nicht materiellen Aspekte des Armutsproblems aufmerksam zu machen. Ob hier die Situation leichter verbessert werden kann als auf der Ebene der monetären Verteilung, darf man aber bezweifeln. Ausgrenzung könnte sich als anthropologische Grundkonstante als sehr hartnäckig erweisen.