100 Jahre Kollektivvertragsrecht
100 Jahre Kollektivvertragsrecht
Entstehungsgeschichte des Kollektivvertragsrechts
Das Kollektivvertragsrecht der Ersten und der Zweiten Republik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Der Kollektivvertrag als Normenvertrag
Der Kollektivvertrag zwischen Autonomie und Grundrechtsbindung
Kollektivvertragsautonomie
Grundrechtsbindung
Kartellrecht
Grundfreiheiten
Der Kollektivvertrag als Instrument der Sozialund Wirtschaftspolitik
Der Kollektivvertrag als sozial- und wirtschaftspolitischer Impulsgeber
Das sozial- und wirtschaftspolitische Konfliktpotential des Kollektivvertrags
Ausblick91
Am 13.1.1920 wurde das „Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge“
, das die Nationalversammlung bereits am 18.12.1919 beschlossen hatte, im Staatsblatt der jungen Republik Österreich verlautbart.* Einen Monat später trat es in Kraft (vgl § 27 leg cit). Dieses Gesetz enthielt zum ersten Mal einen eigenen Abschnitt (IV.) über „kollektive Arbeitsverträge“. Neben einer Definition des Begriffs „Kollektivvertrag“ (§ 11 Abs 2 und Abs 3) wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen seines Zustandekommens (§ 12), seine Hinterlegung und Kundmachung (§ 13), seine Wirkung (§ 14), sowie das Procedere bei Auslegungsschwierigkeiten (§ 15) spezifischen Regelungen zugeführt. Darüber hinaus sah das EAG auch die Möglichkeit vor, dass ein KollV durch Beschluss des Einigungsamtes zur „Satzung“ (§ 16) erklärt werden konnte.
Kollektivverträge gab es freilich bereits vor dem Inkrafttreten des EAG.* Dass sich Arbeiter solidarisieren und als Kollektive in Verhandlungen mit der AG-Seite treten, war ein frühes Phänomen und letztlich ein Akt der Selbsthilfe in einem rechtlichen Umfeld, das seit dem Jahr 1811 von der Idee radikaler Vertragsfreiheit geprägt war. Die Grundannahme des ABGB, dass der auf dem freien Willen der Parteien beruhende Vertragsabschluss zu angemessenen und sachgerechten Vertragsinhalten führt, setzt Vertragspartner voraus, die ein annähernd gleichgelagertes Interesse am Zustandekommen des Vertrages haben. Für den AN ist der Abschluss des Arbeitsvertrages, anders als für den AG, aber von existenzieller Bedeutung. Hinzu kommt, dass in der Regel die Anzahl der Arbeitsuchenden die Zahl der freien Arbeitsplätze übersteigt. Beides stärkt die Verhandlungsposition des AG und führt dazu, dass dieser die Vertragsinhalte im Wesentlichen diktieren kann. Ein einfaches aber effektives Mittel, um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, ist, nicht einzeln zu verhandeln, sondern als Kollektiv. Denn sollte die AG-Seite bestimmte Forderungen nicht erfüllen wollen oder sich überhaupt weigern, in Verhandlungen zu treten, so hat das Kollektiv die Möglichkeit, dem AG die Arbeitskraft gemeinschaftlich zu entziehen und ihn auf diese Weise zum Einlenken zu bewegen bzw an den Verhandlungstisch zu zwingen. Sich zu solidarisieren, stärkt mit anderen Worten die Verhandlungsmacht.
Allerdings stand der Zusammenschluss von AN zu Kollektiven – sogenannten Koalitionen –, um Arbeitsbedingungen zu verhandeln und gegebenenfalls dafür auch zu streiken, die längste Zeit unter Strafdrohung. Erst mit dem Koalitionsgesetz (KoalG) von 1870* und der damit verbundenen Aufhebung der einschlägigen Straftatbestände (vgl § 1 leg cit) wurden die rechtlichen Voraussetzungen für kollektive Vertragsverhandlungen geschaffen. Damit wurde letztlich eine Praxis legalisiert, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Instrument des Wirtschaftslebens geworden war.* Denn auch die AG-Seite erkannte die Vorteile des KollV, da die konsensuale Festlegung von Arbeitsbedingungen und die damit verbundene Reduktion des Streikrisikos die Planbarkeit des Arbeitseinsatzes erhöhte.
Der Gesetzgeber trug dieser Entwicklung ab dem beginnenden 20. Jahrhundert zunehmend Rechnung, wenn auch zunächst nur äußerst zaghaft.* Der Begriff des KollV findet sich erstmals im HandlungsgehilfenG 1910.* § 6 leg cit stellte klar, dass „Art und Umfang der Dienstleistung sowie das dafür gebührende Entgelt“
durch den „Kollektivvertrag“
bestimmt werden kann, vorausgesetzt, dass die „vertragsschließenden Teile Vereinigungen von Dienstgebern und Dienstnehmern angehören“
. Das galt freilich nur, soweit die Vertragsparteien nichts Abweichendes vereinbart hatten. Weiterführende Regelungen zum Zustandekommen von Kollektivverträgen, zu den Abschlussparteien und zu seiner Wirkung enthielt das HandlungsgehilfenG nicht. Allerdings lässt sich aus § 6 leg cit ableiten, dass der KollV zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls noch keine zwingende Wirkung hatte. Abweichende Regelungen waren ausdrücklich erlaubt. Auch eine Normwirkung lässt sich dem HandlungsgehilfenG noch nicht entnehmen. Darüber hinaus ging der Gesetzgeber des HandlungsgehilfenG offenkundig davon aus, dass nur auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Vereinigungen von AG und AN in der Lage waren, Kollektivverträge abzuschließen. Mangels spezifischer Regelungen zur Abschlussfähigkeit musste es sich um freiwillige Vereinigungen mit Rechtspersönlichkeit und damit letztlich um Vereine iSd VereinsG handeln.
Der Begriff des „kollektiven Arbeitsvertrags“ findet sich in weiterer Folge auch im BetriebsräteG (BRG) 1919.* Den neu geschaffenen Betriebsräten wurde nämlich gem § 3 Z 1 lit a leg cit die Kompetenz eingeräumt, „die Durchführung und Einhaltung dieser kollektiven Arbeitsverträge“
zu überwachen. Regelungen zum Zustandekommen oder zur Wirkung kollektiver Arbeitsverträge sah jedoch auch das BRG 1919 nicht vor. Das BRG 1919 regelte also den KollV nicht, sondern fand diesen vor. In diesem Zusammenhang lässt sich freilich eine interessante Feststellung machen. Der Gesetzgeber des BRG 1919 war – im Gegensatz zu jenem des HandlungsgehilfenG 1910 – offenkundig mit der Praxis konfrontiert, dass nicht nur AG- und AN-Verbände als Abschlussparteien fungierten, sondern Kollektivverträge auch mit einzelnen AG abgeschlossen wurden. § 3 Z 1 lit a BRG 1919 spricht von kollektiven Arbeitsverträgen, die „zwischen dem Unternehmer oder dem Unternehmerverbande einerseits, den Gewerkschaften der Arbeiter und den Angestelltenorganisationen
92andererseits abgeschlossen“
werden. Dh, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl Verbandskollektivverträge als auch Firmenkollektivverträge existierten. Letztere scheinen sogar der Regelfall gewesen zu sein.* Dass sich der Gesetzgeber des BRG 1919 damit begnügte, die Realität abzubilden und nicht danach trachtete, eine Dogmatik des Kollektivvertragsrechts zu entwickeln, zeigt sich daran, dass die Betriebsräte ua gem § 3 Z 1 lit b dazu ermächtigt wurden, unter Beiziehung der Gewerkschaft Vereinbarungen mit dem Betriebsinhaber zu treffen, mit denen Ergänzungen zu bestehenden Kollektivverträgen auf Grundlage entsprechender kollektivvertraglicher Ermächtigungen vorgenommen werden konnten. Diesen ergänzenden Vereinbarungen wurde ausdrücklich „der Charakter eines Kollektivvertrags“ zugesprochen. Nach heutigem Verständnis besteht freilich kein Zweifel, dass es sich hierbei nicht um Kollektivverträge, sondern um Betriebsvereinbarungen handelte.*
Eine Legaldefinition des Begriffs des „Kollektivvertrags“ erfolgte kurz darauf im Rahmen des Gesetzes über den achtstündigen Arbeitstag vom 17.12.1919.* Der primäre Regelungsinhalt dieses Gesetzes bestand eigentlich darin, die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden zu beschränken. Das sollte jedoch gem § 5 Abs 1 leg cit dann nicht gelten, wenn durch einen „kollektiven Arbeitsvertrag“ die maximal zulässige Wochenarbeitszeit mit 48 Stunden festgelegt worden war. Als „kollektive Arbeitsverträge“
gem § 5 Abs 2 leg cit galten Vereinbarungen, „die zwischen Berufsvereinigungen der Arbeiter oder Angestellten und einem oder mehreren AG oder Berufsvereinigungen der letzteren abgeschlossen wurden und die gegenseitigen, aus dem Arbeits- oder Dienstverhältnisse entsprechenden Rechte und Pflichten oder sonstigen Angelegenheiten regeln, die für das Arbeits- oder Dienstverhältnis von wirtschaftlicher Bedeutung sind“
.
Diese Definition des KollV wurden nahezu wortgleich (lediglich das Erfordernis der Schriftform ist hinzugekommen) in das nur einen Tag später beschlossene EAG übernommen. Freilich begnügte sich der Gesetzgeber des EAG nicht bloß damit, zu definieren, was unter einem KollV zu verstehen ist. Vielmehr wurde im Abschnitt IV erstmals ein systematisches Regelungswerk geschaffen,* welches letztlich Vorbild sowohl für das KollVG 1947 als auch für das ArbVG 1974 war.* Nicht der KollV selbst, sondern das Kollektivvertragsrecht feiert also in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag.
Das Kollektivvertragsrecht der Ersten Republik unterschied sich in einigen Punkten zentral von jenem der Zweiten Republik. Das betrifft zum einen die Abschlussparteien des KollV. Sowohl die Beschränkung auf Organisationen bzw Vereinigungen als auch die Notwendigkeit des Nachweises der „Kollektivvertragsfähigkeit“ war dem EAG – anders als dem KollVG 1947* und später dem ArbVG 1974* – noch fremd. Insb auf AG-Seite konnten neben einzelnen AG auch „mehrere Arbeitsgeber“ sowie jede „Berufsvereinigung“ der AG Kollektivverträge abschließen. Das EAG schuf damit die Möglichkeit zum Abschluss von Kollektivverträgen mit ganz unterschiedlichen fachlichen und räumlichen Zuschnitten. Neben Firmenkollektivverträgen, die mit einzelnen AG abgeschlossen werden konnten, hatten AG die Möglichkeit, sich zu losen Interessengemeinschaften zusammenzuschließen, um auf diese Weise einheitliche Arbeitsbedingungen für die dort beschäftigten AN zu erwirken. Gesetzliche Vorgaben, nach denen diese Interessengemeinschaften zu bilden waren, gab es keine. Insb bedurfte es keines Nachweises einer objektivierbaren gemeinsamen Interessenlage, wie zB der Ausübung eines gemeinsamen „Berufes“. Das ergibt sich klar aus dem Wortlaut des § 11 EAG, der neben den „Berufsvereinigungen“ ausdrücklich auch „mehrere AG“ als mögliche Abschlusspartei nennt. „Mehrere AG“ sind offenkundig etwas anderes als „Berufsvereinigungen“. Der Unterschied besteht zum einen darin, dass es sich nicht um einen Zusammenschluss von AG desselben „Berufes“ handeln muss. Zum anderen ist nicht erforderlich, dass sich der Zusammenschluss in irgendeiner Weise verfestigt oder institutionalisiert hat.* Es muss sich eben gerade nicht um eine „Vereinigung“ handeln. Darüber hinaus mussten weder die losen Zusammenschlüsse der AG noch die „Berufsvereinigungen“ den Nachweis einer bestimmten Mindestgröße bzw Mitgliederanzahl erbringen. Auch darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum KollVG 1947 bzw ArbVG 1974. Das galt auch für die AN-Seite, wobei hier der Gesetzgeber zumindest ein Minimum an institutioneller Verfestigung sowie gleichgelagerten Interessen auf Grund der Ausübung desselben „Berufes“ verlangte. Neben firmen- und berufsspezifischen Kollektivverträgen waren in der Zwischenkriegszeit also auch Kollektivverträge mit einem rein gewillkürten fachlichen Anwendungsbereich denkbar. Oder anders ausgedrückt: das Kollektivvertragssystem der Zwischenkriegszeit war ein plurales, dezentrales und staatsfernes, das auf dem Grundprinzip der Autonomie basierte.
Damit unterscheidet es sich diametral von jenem der Zweiten Republik, das unmittelbar nach dem Ende der NS-Diktatur im Jahr 1947 wieder eingeführt worden war. Der Gesetzgeber des KollVG 1947 behielt das Recht, Kollektivverträge abzuschließen 93, ausschließlich „kollektivvertragsfähigen Körperschaften“ vor (vgl § 2 Abs 1 leg cit). Gleichzeitig stellte er sicher, dass lediglich wirtschaftlich bedeutsame und in einem größeren fachlichen Wirkungsbereich tätige Körperschaften die Kollektivvertragsfähigkeit – entweder ex lege oder kraft behördlicher Zuerkennung – erlangten (vgl § 3 leg cit). Damit führte der Gesetzgeber erhebliche Zugangsschranken ein, die im Ergebnis eine Konzentration des Kollektivvertragssystems auf einige wenige Akteure bewirkten. Einzelne AG waren – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr befugt, Kollektivverträge abzuschließen. Das bedeutete eine Marginalisierung des Firmen-KollV zu Gunsten des Flächen-KollV.* Das Kollektivvertragssystem der Nachkriegszeit war demnach ein exklusives, zentralisiertes und staatlich reguliertes. Dieser Systemwechsel war den labilen ökonomischen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschuldet.* Durch eine maßvolle Lohnpolitik volkswirtschaftlich agierender und nicht bloß interessengeleiteter Akteure sollte die Grundlage für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft geschaffen werden.* Der Gesetzgeber des ArbVG hielt freilich unter ganz anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen an diesem System fest.
Ein zweiter wesentlicher Unterschied zum heutigen Kollektivvertragsrecht besteht darin, dass die Rechtswirkungen des KollV im EAG noch nicht klar bestimmt waren. Während § 11 ArbVG unmissverständlich anordnet, dass die materiellen Bestimmungen des KollV „unmittelbar rechtsverbindlich“ sind, sah § 14 Abs 1 EAG lediglich vor, dass die Bestimmungen des KollV ab seiner Kundmachung „als Bestandteil jedes Vertrages, der zwischen einem Unternehmer und einem Arbeiter oder Angestellten abgeschlossen wurde,“
gelten sollten. Diese Formulierung findet sich bereits in früheren gesetzlichen Regelungen* und wurde später auch ins KollVG 1947 übernommen.* Der Wortlaut ist durchaus mehrdeutig. Er trägt die Interpretation des KollV als bloße Vertragsschablone. Man kann darin aber auch bereits die Anordnung einer Normwirkung sehen.* Für letzteres spricht, dass von den kollektivvertraglichen Vorgaben mittels „Sondervereinbarungen“, soweit solche nicht ohnehin gänzlich ausgeschlossen waren, nur zu Gunsten des AN abgewichen werden durfte. Diese Formulierung findet sich noch heute in § 3 Abs 1 ArbVG. Sie stellt klar, dass der KollV im Regelfall einseitig zwingende Wirkung hat. Daraus lässt sich durchaus folgern, dass der Gesetzgeber des EAG den KollV nicht nur mit zwingender, sondern auch mit normativer Wirkung ausstatten wollte. Das entspricht auch der herrschenden Lesart des nahezu wortgleichen § 9 KollVG 1947.*
Auch eine sogenannte „Außenseiterwirkung“ iSd § 12 ArbVG – dh, die Anwendung von Kollektivvertragsbestimmungen auf AN, die nicht Mitglied der kollektivvertragsschließenden Berufsvereinigung sind – kannte das EAG ursprünglich nicht oder jedenfalls nicht ausdrücklich.* Diese wurde erst im Jahre 1930 durch das AntiterrorG* ins EAG, konkret in § 14 Abs 3, eingefügt. Durch diese Regelung sollte der Druck vom Einzelnen genommen werden, einer Gewerkschaft beitreten zu müssen, um in den Genuss der Vergünstigungen eines KollV zu kommen. Das lässt sich klar aus dem Regelungszweck des AntiterrorG – konkret aus § 1 leg cit – ableiten. Zum damaligen Zeitpunkt bestand allerdings noch die Möglichkeit, die Außenseiterwirkung mittels Einspruchs des BR außer Kraft zu setzen.* Im Zuge der Novellierung des EAG wurde auch die Frage der Kollektivvertragsangehörigkeit in § 14 Abs 1 erstmals einer expliziten Regelung zugeführt. Als „kollektivvertragsangehörig“ galten (1.) alle AG, die selbst Kollektivvertragspartei sind, (2.) alle AG und AN, die zum Zeitpunkt des Kollektivvertragsabschlusses Mitglied einer Kollektivvertragspartei waren oder später geworden sind, sowie (3.) alle AG, auf die der Betrieb eines kollektivvertragsangehörigen AG übergeht. Auch diese Regelung der Kollektivvertragsangehörigkeit findet sich noch heute nahezu wortgleich in § 8 ArbVG.
Die Analyse des EAG und der nachfolgenden Gesetze zeigt deutlich, dass das österreichische Kollektivvertragssystem von der Idee der Kontinuität geprägt ist.* Die wesentlichen Strukturmerkmale des ArbVG lassen sich bis an die Anfänge oder zumindest in die Zwischenkriegszeit zurückverfolgen. Gleichzeitig ist in der Entwicklung aber auch ein bewusster Bruch mit dem Bisherigen festzustellen.* Die Einführung der „Kollektivvertragsfähigkeit“ und die damit verbundene Verengung des Systems auf einige wenige „Player“ durch das KollVG 1947 stellt im Ergebnis nichts anderes als einen echten Systemwechsel dar. Dieser war nicht politisch-ideologisch bedingt, sondern primär eine Reaktion des damaligen Gesetzgebers auf die angespannte wirtschaftliche Lage der Nachkriegszeit. Dies bringt freilich eines klar zum Ausdruck: Der KollV wurde ab der Zweiten Republik nicht mehr nur als geeignetes rechtliches Instrument zur Befriedung widerstreitender Interessen, sondern als Schlüssel zur Gestaltung der österreichischen Volkswirtschaft angesehen.
Der KollV ist in erster Linie dadurch charakterisiert, dass Interessenvertretungen den Inhalt von Einzelarbeitsverträgen zwingend festlegen. Der Staat regelt also die Arbeits- und Entgeltbedingungen 94nur zT selbst, überlässt sie aber auch nicht den Bedingungen des Marktes, sondern überträgt die konkrete Gestaltung vor allem beim Entgelt den repräsentativen Institutionen des Arbeitslebens. Der KollV ist ein sogenannter Normenvertrag. Er ist einerseits ein Vertrag, der zwischen den abschließenden Parteien Rechtswirkungen begründet. Er hat aber andererseits normative Wirkung, schafft also verbindliches Recht für Dritte. Die Kombination zwischen Vertrag und Gesetz (im materiellen Sinn) ist in unserer Rechtsordnung ungewöhnlich und relativ selten. Neben den Kollektivverträgen sind noch die Betriebsvereinbarungen, die Gesamtverträge für ständig freie Mitarbeiter in Medienunternehmen oder Mediendiensten (§ 17 JournG), die Heimarbeitsgesamtverträge (§ 43 HeimAG), die Gesamtverträge für Ärzte und andere Gesundheitsberufe bzw -einrichtungen (§§ 338 ff ASVG) und die Gesamtverträge der Verwertungsgesellschaften im Urheberrecht (§ 47 VerwGesG 2016) als Normenverträge konzipiert.*
Lange hat es Diskussionen gegeben, ob es sich um ein privatrechtliches oder um ein öffentlichrechtliches Regelungsinstrumentarium handelt. Der Begriff „Normenvertrag“ ist der Rechtsordnung nach wie vor fremd, die Rechtsfigur des Normenvertrags ist aber mittlerweile allgemein anerkannt. Schon 1907 hat Sinzheimer die Kollektivverträge (in Deutschland: Tarifverträge) als Arbeitsnormenverträge bezeichnet, die „eine zwischen einem Arbeiterberufsverein und einem AG oder einem Arbeitgeberverband geschlossene Vereinbarung von Normen (sind), die den Inhalt künftiger Arbeitsverträge bestimmen sollen“
.* Der Normenvertrag bezweckt also nicht (und verpflichtet auch nicht dazu), andere Verträge abzuschließen, sondern ist auf die inhaltliche Gestaltung von Einzelverträgen gerichtet. Er hat eine kollektive Komponente, weil entweder auf beiden Seiten (idR beim KollV), wenigstens aber auf einer Seite (zB BV) ein Kollektiv als Vertragspartner auftritt (zweiseitig oder einseitig korporativer Normenvertrag).*
Dem Grunde nach kann man beim Normenvertrag auch noch nach den Rechtswirkungen unterscheiden.* Es kann sich um einen Richtlinienvertrag handeln, bei dem für die Einzelvertragsparteien nur unverbindliche Empfehlungen aufgestellt werden. Beim schuldrechtlichen Normenvertrag kann zwar eine schuldrechtliche Verpflichtung (zB über Durchführungs- und Einwirkungspflichten) zwischen den Parteien des Normenvertrags über den Inhalt der Einzelverträge vereinbart werden. Eine Abweichung vom Normenvertrag kann damit aber grundsätzlich nicht verhindert werden, die rechtsverbindliche Wirkung auf die Einzelverträge wird damit daher nicht erzielt. Nur bei einer Bevollmächtigung könnten die Normenvertragsparteien als Stellvertreter eine entsprechende Bindung herbeiführen. Hingegen wird beim rechtsverbindlichen Normenvertrag eine Bindung der Parteien des Einzelvertrags unmittelbar und unabhängig von deren Willen herbeigeführt. Es handelt sich daher in diesem Fall um eine Rechtsetzungsbefugnis, wie sie ansonsten nur dem (entsprechend der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung Bundes- oder Landes-)Gesetzgeber vorbehalten ist.
Die Befugnis zum Erlassen von verbindlichen Normen bedarf zunächst einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage. Diese besteht für den KollV in § 11 ArbVG („Die Bestimmungen des Kollektivvertrags sind ... unmittelbar rechtsverbindlich.“
). Heteronome Rechtserzeugung bedarf aber auch einer verfassungsrechtlichen Verankerung. Da weder Normenverträge im Allgemeinen noch der KollV im Speziellen ausdrücklich als Rechtsquelle im Verfassungsrecht genannt werden, wurde zT vertreten, dass der KollV als – insb wegen des Verstoßes gegen das Legalitätsprinzip – verfassungswidrige Verordnung gedeutet werden müsse.* Die überwiegende Meinung sieht allerdings den KollV als – privatrechtliche – Rechtsquelle an, die vom Verfassungsgesetzgeber historisch vorgefunden und durch Stillschweigen anerkannt wurde.* Diese Meinung wird auch vom VfGH und vom OGH geteilt.* Für die übrigen Normenverträge, nämlich die Betriebsvereinbarungen* und die oben genannten Gesamtverträge des Arbeits-, Sozialversicherungs- und Urheberrechts, kommt man zum selben Ergebnis. Sie sind dem KollV in ihren wesentlichen typologischen Merkmalen sehr ähnlich. Man kann daher die Rechtsfigur des rechtsverbindlichen Normenvertrags generell als vom Bundesverfassungsgesetzgeber bei Inkrafttreten der Bundesverfassung vorgefunden und stillschweigend anerkannt ansehen.*
Zum Wesen des KollV gehört seine Autonomie. AN- und AG-Vereinigungen haben das Recht, Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weitgehend unbeeinflusst durch den Staat zu schließen. Das ergibt sich dem Grunde nach aus der Privatautonomie und der Koalitionsfreiheit. Beides ist verfassungsrechtlich garantiert. Aus Art 11 EMRK und Art 12 StGG wird eine Betätigungsgarantie abgeleitet, die auch ein Recht auf kollektives Verhandeln beinhaltet. Nach hA beinhaltet dies zwar kein Recht einzelner AN 95 oder AG bzw von Koalitionen auf Bereitstellung eines Kollektivvertragssystems iSd ArbVG, dh auch kein Recht, Kollektivverträge abzuschließen, denen normative Wirkung zukommt.* Der Gesetzgeber dürfte aber die Möglichkeit des Abschlusses von Vereinbarungen zwischen Koalitionen weder direkt verhindern noch gravierend erschweren, es besteht sogar eine positive Schutzpflicht zur Sicherstellung von Abschluss- und Gestaltungsfreiheit.*
Dadurch wird allerdings dem Staat nicht verboten, arbeitsrechtliche Gesetze zu beschließen, auch wenn es Bereiche betrifft, die von den Kollektivvertragsparteien geregelt werden könnten.* Diese haben ferner kein Recht auf gegenüber dem Staat vorrangige Gestaltung. Die Verabschiedung eines Gesetzes, das den Abschluss von Kollektivverträgen verbietet oder den Koalitionen ihre Rechte entzieht oder ihre Inanspruchnahme gravierend erschwert, ist in Österreich unwahrscheinlich. Ein unzulässiger Eingriff in die Koalitionsfreiheit könnte aber dann zu bejahen sein, wenn Arbeits- und/ oder Entgeltbedingungen so weitgehend durch den Gesetzgeber direkt geregelt werden, dass für die Kollektivvertragsparteien faktisch kaum mehr ein Regelungsspielraum verbleibt.* Das ist besonders heikel im Kernbereich des kollektiven Verhandelns. Eine Mindestlohngesetzgebung steht daher in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Koalitionsfreiheit. Ein gesetzlicher Mindestlohn ist aber so lange unproblematisch, als er günstigere kollektivvertragliche Regelungen zulässt und nicht so hoch angesetzt ist, dass er für eine erhebliche Zahl von Kollektivverträgen faktisch eine eigenständige Entgeltregelung sinnlos macht.*
Auch einer allfälligen Ausweitung der Kompetenzen des BR setzt die Koalitionsfreiheit Grenzen. Die Belegschaft ist keine Koalition iSd Art 11 EMRK,* sondern ein gesetzlicher Zusammenschluss von AN und steht grundsätzlich in einem Konkurrenzverhältnis zu Koalitionen. Nach der Rsp des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) darf eine staatliche Einrichtung mit Pflichtmitgliedschaft, die selbst keine Koalition ist, durch ihre Betätigung jedenfalls die betroffene Berufsgruppe nicht davon abhalten, eine Koalition zu gründen bzw einer solchen beizutreten.* Eine weitere Übertragung wesentlicher Kollektivvertragskompetenzen, wie das Ausmaß der Arbeitszeit oder gar die Aushandlung des Mindestentgelts auf die Betriebsparteien, würde wohl bald die Schwelle des Eingriffs in die Koalitionsfreiheit erreichen, der dann jedenfalls gerechtfertigt werden müsste.* Die von Seiten der Wirtschaft immer wieder geforderte Verlagerung von Kompetenzen von der überbetrieblichen auf die betriebliche Ebene stößt daher im bestehenden System einer gesetzlichen Betriebsverfassung auf verfassungsrechtliche und (siehe dazu gleich unten) europarechtliche Grenzen.
Art 28 Charta der Grundrechte der EU (GRC) sieht ein Recht auf Verhandlungen und Abschluss von Tarifverträgen sowie auf Kollektivmaßnahmen einschließlich Streiks nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vor. Auch wenn der Geltungsbereich und die Bedeutung dieser Bestimmung nicht hinreichend klar sind, lässt sich daraus eine Tarifautonomie ableiten. Diese beinhaltet nicht nur das kollektive Verhandeln und den Abschluss von Kollektivverträgen, sondern bezieht sich auch auf deren Inhalt.* Nach dem EuGH unterscheidet sich das Wesen der durch Tarifvertrag erlassenen von gesetzlichen Maßnahmen der Mitgliedstaaten dadurch, dass die Sozialpartner bei der Wahrnehmung ihres in Art 28 der Charta anerkannten Grundrechts auf Kollektivverhandlungen darauf geachtet haben, einen Ausgleich zwischen ihren jeweiligen widerstreitenden Interessen festzulegen.* Die Union und (vor allem) die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Kollektivvertragsparteien die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für den Abschluss und die Gestaltung der Kollektivverträge zur Verfügung zu stellen.* Das lässt sich freilich auch aus Art 11 EMRK begründen. Insofern geht der Schutzbereich des Art 28 GRC nicht darüber hinaus. Nach Art 120a B-VG anerkennt die Republik die Rolle der Sozialpartner und achtet deren Autonomie. Daraus wird abgeleitet, dass der KollV grundsätzlich in seiner aktuellen Ausprägung im ArbVG geschützt ist. Das geht über Art 11 EMRK und Art 12 StGG hinaus und beinhaltet insb auch die Normwirkung und die zwingende Wirkung.*
Unbestrittenermaßen sind die Kollektivvertragsparteien ihrerseits an die Grundrechte und die von der Verfassung wie vom Unionsrecht gezogenen Grenzen gebunden. Innerstaatlich betrifft das vor allem den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, wobei es letztlich kaum einen Unterschied macht, ob man eine unmittelbare oder eine mittelbare Bindung annimmt. Im innerstaatlichen Recht wird den Kollektivvertragsparteien im Hinblick auf den Gleichheitssatz zT ein etwas weiterer Spielraum als dem staatlichen Gesetzgeber zugebilligt. Ausdrücklich ist der OGH in früheren Entscheidungen von einer „abgeschwächten“ Grundrechtsbindung ausgegangen.* In der jüngeren Rsp wird dies etwas anders formuliert. Die Gestaltungsfreiheit der Kollektivvertragsparteien finde ihre Schranke in der 96 mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte, auch die Kollektivvertragsparteien seien daher bei der Gestaltung des KollV an den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz gebunden. Bei der Prüfung, ob eine Kollektivvertragsbestimmung gegen den Gleichheitssatz verstößt, sei zu berücksichtigen, dass den Kollektivvertragsparteien ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum sowohl hinsichtlich der angestrebten Ziele als auch der zur Zielerreichung eingesetzten Mittel zustehe. Das Sachlichkeitsgebot sei bei Vorliegen von berücksichtigungswürdigen Interessen des Betriebs und der AN erfüllt. Die Verhältnismäßigkeit einer kollektivvertraglichen Regelung sei grundsätzlich anzunehmen, weil sie nur unter Mitwirkung der zur Wahrung der Interessen der AN berufenen Gewerkschaft erfolgen kann.* Das entspricht auch der Rsp des VfGH zu Normenverträgen, der etwa zum ärztlichen Gesamtvertrag ausgesprochen hat, dass das Ergebnis von Verhandlungen im Allgemeinen als angemessener Interessenausgleich zu akzeptieren und von einer Richtigkeitsvermutung auszugehen ist.* Einen weiten Gestaltungsspielraum hat die Rsp etwa bei Ausnahmen aus dem Geltungsbereich des (bzw von Teilen des) KollV,* aber auch bei der Festlegung des Entgelts* oder bei der Differenzierung nach der Unternehmensherkunft bei Zusammenführung von zwei Kollektivverträgen* angenommen. Bei der Kürzung von Betriebspensionen bzw Anwartschaften wird zwar ebenfalls davon ausgegangen, dass die Interessen der AN ausreichend durch Belegschaftsorgane bzw Kollektivvertragsparteien vertreten werden und nicht weiter gehende Eingriffe in Anwartschaften hingenommen werden, als es das Wohl des Betriebes und der AN unbedingt erfordern.* In diesen Fällen ist aber wegen der hohen Betroffenheitsintensität der AN und der meist fehlenden Möglichkeit, die Verluste zu kompensieren, ein strengerer Maßstab gerechtfertigt.*
Die meisten Lehrmeinungen gehen davon aus, dass die Kollektivvertragsparteien als Normsetzer grundsätzlich dem Gesetzgeber gleichzustellen sind und keinen weiteren Gestaltungsspielraum haben.* Dagegen spricht, dass die Übertragung der Normsetzungsbefugnis an die Kollektivvertragsparteien mit der Erwartung verbunden ist, dass sie ausgewogene und praxisnahe Lösungen und einen für beide Seiten akzeptablen Interessenausgleich zustande bringen.* Um sachgerechte Kompromisse treffen zu können, bedarf es aber Verhandlungsspielräume, die auch kollektive bzw übergeordnete Interessen (uU zu Lasten des einzelnen AG oder AN) berücksichtigen können.* Im Übrigen ist die Autonomie der Kollektivvertragsparteien in den letzten Jahren sowohl innerstaatlich durch Art 120a B-VG als auch durch das ausdrücklich in Art 28 GRC verankerte Recht auf kollektives Verhandeln und die neuere Rsp des EGMR zu Art 11 EMRK eher noch gestärkt worden (auch wenn sich diese Entwicklungen nicht unmittelbar auf das Verhältnis zu anderen Grundrechten und den Gleichheitssatz beziehen).* Zuzugestehen ist aber, dass sich eine abgeschwächte Grundrechtsbindung nur in Grenzfällen auswirken wird.
Fraglich ist, ob sich die Kollektivvertragsautonomie auch im Unionsrecht im Hinblick auf die Bindung an Grundrechte und Grundfreiheiten auswirkt und ob aus Art 28 GRC eine Art Richtigkeitsgewähr des KollV und ein weiterer Ermessenspielraum als für staatliche Regelungen abzuleiten ist. Berücksichtigt man die Rsp des EuGH, dürfte das eher zu verneinen sein. So hat der EuGH schon in Defrenne II
zur Lohngleichheit von Mann und Frau entschieden, dass das Diskriminierungsverbot nicht nur staatliche Behörden binde, sondern sich auf alle privatrechtlichen Verträge und kollektiven Vereinbarungen erstrecke.* In der Rs Hennigs
und Mai
, in der es um Altersdiskriminierung ging, wenn der KollV bei der Einstellung das Entgelt nach dem Lebensalter bemisst, hat der EuGH festgehalten, dass Kollektivverträge an die entsprechende RL 2000/78 gebunden seien und die Kollektivvertragsparteien in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum sowohl bei der Entscheidung darüber, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen als auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung, besitzen.* Die Bindung der Sozialpartner ist mittlerweile auch in den diversen Richtlinien und im GlBG (insb §§ 11 und 17 hinsichtlich des Entgelts) festgelegt. Das Recht auf Kollektivverhandlungen muss nach Ansicht des EuGH auch nach Einführung des Art 28 GRC im Rahmen der Anwendung des Unionsrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass es bei der Beurteilung einen Unterschied macht, ob die Regelung gesetzlicher oder kollektivvertraglicher Natur ist.* Das hängt wohl auch mit dem „sozialen Ideal“ des Unionsrechts und insb auch des EuGH zusammen, bei dem der Schutz des Individuums als Marktteilnehmer im Vordergrund steht und den Kollektiven keine wirklich eigenständige Rolle zugestanden wird.*97
Klar Position bezogen hat der EuGH in der Frage, ob Kollektivverträge, die letztlich Preiskartelle darstellen, weil sie Mindestentgelte und damit den Preis der Ware „Arbeitskraft“ festlegen, dem Wettbewerbsrecht unterliegen. Kollektivverträge seien dem Anwendungsbereich des Kartellrechts entzogen, weil durch dessen Anwendung die sozialpolitischen Ziele der Kollektivvertragsparteien ernsthaft gefährdet würden und Kollektivverträgen zwangsläufig eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung beizumessen sei.* Damit wurde schon 1999 – lange vor dem Vertrag von Lissabon – die Bedeutung der kollektiven Rechtsgestaltung im Arbeitsrecht anerkannt. In einer neueren Entscheidung wurde diese Position bestätigt, wenn auch eingegrenzt. In Bezug auf eine kollektivvertragliche Entgeltregelung, die für angestellte und selbständige (arbeitnehmerähnliche) Aushilfsmusiker galt, hat der EuGH die AN-Vereinigung hinsichtlich ihres Handelns für die selbständigen Aushilfsmusiker nicht als Sozialpartner, sondern als Unternehmervereinigung angesehen, weshalb der KollV diesbezüglich nicht von Art 101 AEUV ausgenommen sei. Allerdings gelte dies nicht für kollektive Vereinbarungen, insoweit diese „Scheinselbständige“ einbeziehen, was vom innerstaatlichen Gericht zu beurteilen sei.* Unter dem Begriff des „Scheinselbständigen“ wird (zumindest in Österreich) gemeinhin eine Person verstanden, die persönlich abhängig und damit AN ist, mit der aber – um genau dies zu verschleiern – ein freies Dienstverhältnis oder ein Werkvertrag vereinbart wurde. Der EuGH bezeichnet als „Scheinselbständige“ hingegen auch Leistungserbringer, die sich „in einer vergleichbaren Situation wie die AN befinden“
.* Was das konkret heißt, blieb unbeantwortet. Es könnte bspw die Gruppe der dienstnehmerähnlichen freien DN iSd § 4 Abs 4 ASVG gemeint sein. Die Entscheidung wurde zu Recht kritisiert, weil sie hinsichtlich der Abgrenzung des AN-Begriffs unklar bleibt. Es wäre daher dringend erforderlich, dass eine entsprechende Ausweitung im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehen wird.*
Die Albany
-Judikatur, die eine Bereichsausnahme aus dem Wettbewerbsrecht für den Abschluss von Kollektivverträgen vorgesehen hat, wurde nicht auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit übertragen. In den Entscheidungen Viking, Laval
und Rüffert
wurde offenkundig von einem Vorrang der Grundfreiheiten ausgegangen.* Im Fall Viking
* hatte ein finnisches Fährunternehmen angekündigt, eine Umflaggung eines Fährschiffes und dessen Registrierung in Estland durchzuführen, um eine estnische Besatzung auf Grundlage des niedrigeren estnischen Lohnniveaus beschäftigen zu können. Die internationale Seefahrergewerkschaft forderte daraufhin alle Mitglieder in einem Rundschreiben auf, mit dem finnischen Fährunternehmen Viking Line keine Verhandlungen zu führen, weil dazu nur die finnische Seefahrergewerkschaft befugt sei. Diese kündigte außerdem einen Streik zur Sicherung des arbeitsrechtlichen Status quo an. Die betroffene Fährgesellschaft sah sich darin in ihrer Niederlassungsfreiheit beschränkt und ging gegen den angekündigten Streik rechtlich vor. Der EuGH hat einerseits – vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – ein Streikrecht im Gemeinschaftsrecht anerkannt, die konkreten gewerkschaftlichen Aktivitäten aber andererseits als problematischen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit qualifiziert. Eine Rechtfertigung könne nur bei Gefährdung von Arbeitsplätzen und Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gegeben sein. Die problematische Botschaft dieser Entscheidung war, dass man sich zu Zwecken des Lohndumpings auf die Niederlassungsfreiheit berufen und auf diesem Weg einen – angekündigten – Arbeitskampf abwehren kann. Nach der E Laval
* organisierte eine schwedische Gewerkschaft – nach schwedischem Recht zulässige – Blockademaßnahmen als Reaktion auf die Weigerung, lettische AN, die von einem lettischen Unternehmen entsandt wurden, zu schwedischen Löhnen auf schwedischen Baustellen zu beschäftigen. Der EuGH sah darin eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit. Es sei zwar möglich, dass kollektive Maßnahmen der AN gegen Sozialdumping als zwingender Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, konkret sei das aber nicht der Fall. Außerdem wurde die EntsendeRL ins Treffen geführt, die eine allgemeinverbindliche Entgeltfestlegung erlaubt, von der aber kein Gebrauch gemacht wurde.* Auch in der E Rüffert
* wurde ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit angenommen, weil eine gesetzliche Vergaberegelung die Vergabe von Bauaufträgen von der Einhaltung der am Beschäftigungsort tarifvertraglich vereinbarten Löhne abhängig gemacht hatte. Wegen Fehlens einer allgemeinverbindlichen Entgeltregelung sei dadurch die EntsendeRL verletzt.* Auch wenn man davon ausgeht, dass jedenfalls die Entscheidungen Viking
und Laval
als überholt anzusehen sind,* weil nunmehr Art 6 EUV ausdrücklich die Gleichrangigkeit von GRC 98 und Verträgen anordnet und die soziale Dimension in der Union gestärkt wurde, ist kritisch anzumerken, dass die Kollektivvertragsautonomie trotz grundrechtlicher Absicherung nicht den Stellenwert besitzt, der ihr eigentlich zukommen sollte. Ein fairer Ausgleich zwischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen wird in Zukunft noch wichtiger sein, wenn man den Zerfall der EU verhindern will. Dafür benötigt es aber eine Politik und auch eine Rsp, die die wirtschaftlichen Freiheiten nicht über die Grundrechte stellt. Das Bekenntnis zu einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“ könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein.
Die Analyse des europäischen Rechtsrahmens mit seinen bestehenden Spannungsfeldern zeigt deutlich, dass der KollV sowohl ein Instrument der Wirtschaftspolitik als auch der Sozialpolitik ist. In Österreich trifft dieser Befund jedenfalls ab der Zweiten Republik zu. Die volkswirtschaftliche Bedeutung kollektivvertraglicher Lohnpolitik war ausschlaggebend für die Neugestaltung des österreichischen Kollektivvertragsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Ersten Republik und davor stand die sozialpolitische Bedeutung des KollV im Vordergrund. Durch das KollVG 1947 wurden beide Aspekte erstmals institutionell miteinander verschränkt. Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik werden seitdem als zwei Seiten ein und derselben Medaille angesehen. Dieses Verständnis ist noch heute vorherrschend. Verändert hat sich allerdings die Antwort auf die Frage, ob diese Politiken in die primäre oder gar ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers fallen oder von den Betroffenen selbst gestaltet werden sollen. Zu Beginn der Zweiten Republik hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ohne aktive Einbeziehung der maßgeblichen gesellschaftlichen Interessengruppen von Kapital und Arbeit ein Wiederaufbau des Staates und seiner Wirtschaft nicht möglich ist.* Die Rolle der Sozialpartnerschaft hat sich nicht bloß auf den Abschluss von Kollektivverträgen beschränkt, sondern ging in Gestalt der Paritätischen Kommission für Lohn- und Preisfragen weit über diese hinaus. In den letzten 20 Jahren ist allerdings auf Grund veränderter politischer Rahmenbedingungen ein schrittweiser, wenn auch nicht linearer Rückgang des Einflusses der Sozialpartnerschaft festzustellen.* Zuletzt wurden zentrale, legistische Reformvorhaben im Bereich des Arbeitsrechts und Sozialrechts, wie zB die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes (AZG)* oder die Neustrukturierung der SV durch das Sozialversicherungs- Organisationsgesetz (SV-OG),* sogar gänzlich ohne Beteiligung der Sozialpartnerschaft durchgeführt. Über den Abschluss von Kollektivverträgen können die Sozialpartner freilich weiterhin Sozial- und Wirtschaftspolitik mitgestalten. Aus Sicht des Gesetzgebers ist diese Gestaltungsmacht der Sozialpartner durchaus ambivalent: Sie kann einerseits Impulsgeber sein, andererseits aber auch in Konflikt mit den sozialpolitischen Zielen des Gesetzgebers stehen.
In der Vergangenheit haben die Kollektivvertragsparteien eine Vielzahl richtungsweisender Vereinbarungen getroffen, die teilweise zum Vorbild späterer gesetzlicher Regelungen wurden.* Die Verankerung der 40-Stunden-Woche im AZG, die Karfreitagsregelung des § 7 Abs 3 Arbeitsruhegesetz (ARG), die inzwischen auf Grund ihrer vom EuGH* festgestellten diskriminierenden Wirkung durch BGBl I 2019/22BGBl I 2019/22 aufgehoben wurde, oder die Garantie eines Mindestjahresurlaubes im Urlaubsgesetz (UrlG), sind allesamt sozialpolitische Errungenschaften, denen sozialpartnerschaftliche Einigungen in Form sogenannter General- bzw Spitzenkollektivverträge vorangegangen waren.* Der Umstand, dass sich die Sozialpartner auf der Ebene ihrer Spitzen auf Regelungen verständigen konnten, die nicht nur innerhalb bestimmter Branchen, sondern bundesweit gelten sollten, bezeugt die sozialpolitische Sinnhaftigkeit und breite Akzeptanz dieser Regelungen. Beides sind Grundvoraussetzungen für die Schaffung gesetzlicher Regelungen – oder sollten dies zumindest sein.
Auf der Ebene der einzelnen Branche bildet der KollV wiederum die Möglichkeit, fachlich und örtlich beschränkte „sozialpolitische Laborversuche“ im Echtbetrieb zu implementieren, die für den Fall, dass sie sich bewähren, Eingang auch in andere Branchen finden und letztlich die Keimzelle für legislative Aktivitäten des Gesetzgebers bilden können. Gerade in Anbetracht der mit der Digitalisierung der Wirtschaft verbundenen Ungewissheit, ob der Einsatz neuer Technologien, insb der Künstlichen Intelligenz, neue Regulative zum Schutz der AN notwendig macht, könnte dieses Potential des KollV an Bedeutung gewinnen.* Das lässt sich bspw an der aktuellen Diskussion über die Notwendigkeit eines eigenen „Home- Office“-Gesetzes zeigen. Vor allem in Deutschland wurde zuletzt sehr konkret über die Einführung eines Home-Office-Gesetzes mit einem Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten nachgedacht.* Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode wurde ausdrücklich die Förderung und Erleichterung mobilen Arbeitens99 vereinbart.* Auch in Österreich wurde zuletzt – unter dem Eindruck der deutschen Diskussion – die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines eigenen Home-Office-Gesetzes aufgeworfen.* Eine klare Antwort darauf konnte bisher weder die Politik noch die Wissenschaft geben. Es fehlen ua die empirischen Erfahrungswerte.
Gerade in Anbetracht einer solchen Ausgangssituation könnten kollektivvertragliche Regelungen eine wichtige Orientierungs- und Entscheidungshilfe liefern. Tatsächlich enthalten nicht nur eine Vielzahl an Kollektivverträgen bereits Bestimmungen zu „Homeoffice“ bzw „Telearbeit“. Vielmehr hat sich bereits eine Art „Standardregelung“ etabliert, die in unterschiedlichen Branchen Anwendung findet.* Dh, dass in Bezug auf Telearbeit bereits ein branchenübergreifender Minimalkonsens erzielt werden konnte. Diese Standardvereinbarung beschränkt sich freilich darauf, zu definieren, was unter Telearbeit zu verstehen ist und hält fest, dass Telearbeit nur im Einvernehmen zwischen AG und AN möglich ist. Die materielle Ausgestaltung der Rechte und Pflichten wird hingegen der BV bzw in Betrieben ohne BR dem Arbeitsvertrag überlassen. Gleichzeitig gibt es aber auch Kollektivverträge mit Regelungen zur Telearbeit, die einen sehr hohen Detailierungsgrad aufweisen. Das gilt bspw für § 9 des KollV für AN von Unternehmen im Bereich Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik (kurz IT-KollV).* Dieser regelt nicht nur die Voraussetzungen für eine Beschäftigung von AN in einer außerbetrieblichen Arbeitsstätte, wie der eigenen Wohnung des AN, sondern stellt klar, welche Aufwendungen der AG dem AN zu ersetzen hat, wie mit Mehr- bzw Überstunden umzugehen ist, wie die Arbeitszeiterfassung zu erfolgen hat, auf welche Weise der Kontakt zum und die soziale Integration in den Betrieb weiterhin sicherzustellen ist und welche Rechte dem BR diesbezüglich zukommen. Darüber hinaus wird bspw auch die analoge Anwendung des Dienstnehmerhaftpflichtgesetzes (DHG) auf im Haushalt des DN lebende Angehörige angeordnet.* Eine nahezu wortgleiche Regelung der Telearbeit findet sich auch in § 8 KollV für Arbeiter und Angestellte der Mineralölindustrie oder § 14 KollV für Angestellte im Handwerk und Gewerbe, in der Dienstleistung, in Information und Consulting. Dh, dass sich auch diesbezüglich die Etablierung eines branchenübergreifenden Grundkonsenses abzuzeichnen scheint. Dieser ist jedenfalls von dem Grundsatz getragen, dass Telearbeit bzw Arbeit von zu Hause einvernehmlich und freiwillig erfolgen soll. Einen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten, so wie er in der BRD diskutiert wird, enthält soweit ersichtlich bisher kein KollV in Österreich.
Das Beispiel der Telearbeit zeigt eindrücklich, dass punktuelle, zunächst als branchenspezifische Lösungen konzipierte Regelungen durchaus flächenwirksame Bedeutung erlangen können, und damit das Potential haben, letztlich auch den Anstoß für ein Tätigwerden des Gesetzgebers zu bilden.* Das österreichische Kollektivvertragssystem der Zweiten Republik mit seiner Konzentration auf einige wenige Abschlussparteien, die ihrerseits wiederum branchenübergreifend organisiert sind, befördert diese innovative Breitenwirkung des KollV zweifellos. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber den Kollektivvertragsparteien weitgehende Kollektivvertragsautonomie zugestanden hat.* Oder anders ausgedrückt: Den Kollektivvertragsparteien kommt ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum zu. Auf diese Weise können die Kollektivvertragsparteien auf neue veränderte Rahmenbedingungen, wie zB den Einsatz Künstlicher Intelligenz und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen innerhalb einer Branche und darüber hinaus reagieren.
Die rechtliche Grundlage dafür bildet § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG. Nach dieser Bestimmung können durch Kollektivverträge die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten der AG und der AN geregelt werden. Welche Rechte und Pflichten konkret und in welchem Umfang Gegenstand der kollektivvertraglichen Einigung sind, fällt ins Ermessen der Kollektivvertragsparteien.* Die einzige Grenze, die sich aus dem Gesetzeswortlaut ergibt, ist jene, dass es sich um Rechte und Pflichten handeln muss, die dem Arbeitsverhältnis – und somit keinem anderen Rechtsverhältnis – entspringen. Der OGH hat § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG freilich die längste Zeit einschränkend interpretiert. Durch Kollektivverträge könne nur das geregelt werden, was zum „typischen, wesentlichen und regelmäßig wiederkehrenden Inhalt eines Arbeitsverhältnisses“
gehöre.* Eine Begründung für diese einschränkende Lesart fehlt weitgehend. Zuweilen wird angeführt, dass sich die Kollektivvertragsparteien nicht auf die Privatautonomie berufen könnten.* Weshalb sich daraus eine Notwendigkeit zur einschränkenden Interpretation ergibt, bleibt vor dem Hintergrund des bewusst weit formulierten § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG im Dunkeln. Zu Recht wurde daher der OGH für seine Rsp kritisiert.* Abgesehen davon, dass unklar ist, ab wann von einem „typischen“ bzw „regelmäßig wiederkehrenden“ Inhalt gesprochen werden kann, wird den Kollektivvertragsparteien dadurch die Möglichkeit genommen, neuen Entwicklungen 100 mittels innovativer, zT vielleicht auch unorthodoxer Regelungen Rechnung zu tragen. In einer sich auf Grund des Einsatzes neuer Technologien rasant verändernden Arbeitswelt kann aber genau das notwendig sein.* Durch gesetzliche Regelungen lässt sich diese Lücke nicht schließen. Insb in einem frühen Stadium des Technologieeinsatzes, der darüber hinaus nur punktuell und nicht flächendeckend erfolgt, ist das Gesetz kein geeignetes Instrument für ein „sozialpolitisches Versuchslabor“.
Genau das scheint freilich auch der OGH inzwischen realisiert zu haben. In einer richtungsweisenden E aus dem Jahr 2017* hat der Gerichtshof ausdrücklich festgehalten, dass die Kollektivvertragsparteien – sofern es sich um Inhaltsnormen handelt – nicht auf „typische Ausgestaltungen“ derselben beschränkt sind, sondern dass vielmehr auch neuartige, atypische oder unübliche Regelungen zulässig sind. Begründet wird diese – wenn auch nicht explizite, so doch de facto – Abkehr von der bisherigen Rsp* mit der Notwendigkeit der Kollektivvertragsparteien, auf Veränderungen der Arbeitswelt mittels kollektivvertraglicher Regelungen reagieren zu können, auch wenn diese einzelvertraglich noch nicht üblich sein sollten, um so auf das einzelne Arbeitsverhältnis einwirken zu können.* Mit dieser Judikatur hat der Gerichtshof also die Innovationsfunktion des KollV und die sozialpolitische Innovationskraft der Kollektivvertragsparteien ausdrücklich anerkannt und befördert.
Gleichzeitig zieht der OGH aber eine wichtige Grenze. Die Befugnis der Kollektivvertragsparteien zur Regelung selbst atypischer Inhalte beschränkt sich auf die Ausgestaltung von Inhaltsnormen. Zwar kann diese im Rahmen des § 29 ArbVG an die Betriebsvereinbarungsparteien delegiert werden. MaW: Die Einrichtung „sozialpolitischer Versuchslabore“ ist nicht nur auf Branchenebene möglich, vielmehr können die Kollektivvertragsparteien auch die notwendigen Rahmenbedingungen für die Erarbeitung maßgeschneiderter betrieblicher Lösungen schaffen. Genau das machen eine Reihe von Kollektivverträgen zB in Bezug auf die Telearbeit, indem sie die konkrete Ausgestaltung von Home-Office der BV überlassen.* Hingegen ist es dem KollV nicht erlaubt, auf dieser Grundlage neuartige Mitbestimmungsrechte des BR einzuführen. Dh, die Kollektivvertragsparteien haben nicht die Macht, dem BR eine stärkere Rolle zB im Zusammenhang mit der Implementierung neuer Technologien zuzuweisen. So wäre zB eine kollektivvertragliche Regelung, welche die Zulässigkeit durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz bedingter Kündigungen vom Abschluss eines Sozialplans für die Betroffenen abhängig macht, nach der Judikatur des OGH mangels entsprechender Regelungsbefugnis nichtig.* Ob dieses Ergebnis rechtlich tatsächlich zwingend ist, erscheint bereits fraglich.* Rechtspolitisch sinnvoll ist es aber wohl in jedem Fall nicht. Eine stärkere Einbeziehung des BR hätte das Potential auf AN-Seite, die Akzeptanz neuer Technologien positiv zu beeinflussen und somit die innerbetriebliche Innovationskraft zu stärken. Daran sollte der Gesetzgeber eigentlich ein Interesse haben.
Freilich hat sich gerade in den letzten Jahren mehrfach gezeigt, dass zwischen dem, was der Gesetzgeber, und dem, was die Kollektivvertragsparteien für sozial- und wirtschaftspolitisch sinnvoll erachten, eine Diskrepanz bestehen kann. In diesem Fall birgt die Gestaltungsmacht der Kollektivvertragsparteien erhebliches Konfliktpotential. Im Kern geht es dann zumeist um die Frage, wer letztlich „das letzte Wort hat“ – der Gesetzgeber oder die Kollektivvertragsparteien. Diese Frage stellt sich deshalb, da es den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unbenommen ist, von gesetzlichen Vorgaben zu Gunsten der AN abzuweichen. Nur die wenigsten gesetzlichen Regelungen haben zweiseitig zwingende Wirkung. Der Gesetzgeber steht also vor dem Problem, will er bestehende Standards abbauen, um das Arbeitsrecht zu „flexibilisieren“, dass die Kollektivvertragsparteien dies durch günstigere Vereinbarung jeweils konterkarieren können. Um dies zu vermeiden und seine Vorrangstellung sicherzustellen, müsste sich der Gesetzgeber tatsächlich zweiseitig zwingender Regelungen bedienen bzw bestehende günstigere Bestimmungen in Kollektivverträgen für unwirksam erklären. Genau dies ist jüngst passiert. Damit die Bestrebungen zur Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes nicht durch die Kollektivvertragsparteien unterwandert werden, hat der Gesetzgeber als Reaktion auf das Karfreitags- Urteil des EuGH* zuletzt gem § 33a Abs 28 ARG angeordnet, dass Kollektivvertragsregelungen, „die nur für Arbeitnehmer, die den evangelischen Kirchen AB und HB, der Altkatholischen Kirche oder der Evangelisch-methodistischen Kirche angehören, Sonderregelungen für den Karfreitag vorsehen, ... unwirksam und künftig unzulässig“
sind.
Diese Regelung ist aus mehreren Gründen problematisch.* In jedem Fall bewirkt sie aber einen direkten Eingriff in bestehende Kollektivverträge durch den Gesetzgeber. Ob damit auch ein (unzulässiger) Eingriff in das durch Art 11 EMRK und Art 28 GRC garantierte Grundrecht auf kollektives Verhandeln vorliegt,* ist allerdings unklar.* Eine eindeutige und vor allem uneingeschränkte 101 Regelungsprärogative der Kollektivvertragsparteien gegenüber dem Gesetzgeber lässt sich Art 11 EMRK wohl eher nicht entnehmen.* Unstrittig ist aber, dass Art 11 EMRK ebenso wie Art 28 GRC Koalitionen vor unverhältnismäßigen Eingriffen des Gesetzgebers in das Grundrecht auf kollektives Verhandeln schützen soll. MaW: Es setzt dem Gesetzgeber Schranken.* Folglich kommt auch dem Gesetzgeber kein „Exklusivrecht“ zur Regelung materieller Arbeitsbedingungen zu.* Was dies letztlich für die konkrete Regelung des § 33a Abs 28 ARG bedeutet, ist schwierig zu beantworten, zumal es sich doch um einen durch das Karfreitags-Urteil des EuGH ausgelösten Sonderfall eines gesetzgeberischen Eingriffs handelt. Auch wenn zuzugestehen ist, dass die diskriminierende Rechtslage beseitigt werden musste, stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber den Sozialpartnern nicht doch eine gewisse Zeit für die Sanierung der Kollektivverträge hätte einräumen können oder vielleicht sogar müssen.* Gleichzeitig bestand aber auf Grund des bevorstehenden nächsten Karfreitags ein gewisser Zugzwang. Auch das ist eine Besonderheit des konkreten Falls. Jedenfalls wird man aber mit Fingerspitzengefühl an diese Rechtsfrage herangehen müssen, da das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Kollektivvertragsparteien ein sowohl für die Sozial- als auch für die Wirtschaftspolitik neuralgisches ist. Es sollte nicht vom politischen Klima im Land abhängen, ob die Kollektivvertragsparteien eine sozialpolitische Vorreiterrolle einnehmen (dürfen). Das wäre nicht nur politisch unklug. Dem stehen vielmehr auch Art 11 EMRK bzw Art 28 GRC entgegen.
Die Geschichte kollektiver Vereinbarungen reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Mit dem KoalG 1870, also vor 150 Jahren, wurden die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Das Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge (EAG) hat 1920 – also vor 100 Jahren – die Institution des KollV in der Art und mit den wesentlichen Elementen (insb Normwirkung und zwingende Wirkung) geschaffen, wie wir sie heute noch kennen. Das KollVG 1947 schränkte die Möglichkeit des Abschlusses von Kollektivverträgen auf kollektivvertragsfähige Körperschaften ein, was eine Konzentration des Kollektivvertragssystems auf einige wenige Akteure bezweckte und bewirkte. Insb wurde der Abschluss sogenannter Firmenkollektivverträge auf Ausnahmen beschränkt. Das ArbVG hat dieses Modell weitgehend übernommen und nur in Details weiterentwickelt. Das Kollektivvertragsrecht zeichnet sich daher jedenfalls seit dem EAG 1920 durch hohe Kontinuität aus. Diese hochzentralisierten Arbeitsbeziehungen haben in der Zweiten Republik politisch in Form der Sozialpartnerschaft bis zum Jahr 2000 einen Höhepunkt erreicht. Auch wenn die Sozialpartnerschaft in den letzten beiden Jahrzehnten etwas an politischer Bedeutung verloren hat, ist sie im internationalen Vergleich immer noch herausragend. Dies ist ua daran zu erkennen, dass über 95 % der in Österreich beschäftigten AN von einem KollV erfasst sind. Schon an diesem im internationalen Vergleich wohl einmaligen Wert sieht man, dass sich das österreichische Kollektivvertragsrecht dem Grunde nach bewährt hat.
Wesentlicher Änderungsbedarf besteht in einigen wenigen Fragen. Vor allem die Ausdehnung des Geltungsbereichs auf sozial schutzbedürftige arbeitnehmerähnliche Personen erscheint dringlich. Die Zahl der Betroffenen dürfte in naher Zukunft als Folge der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt weiter steigen. Die Anknüpfung an den AN-Begriff des Arbeitsvertragsrechts, bei dem es im Wesentlichen auf die persönliche Abhängigkeit ankommt, schließt Beschäftigte trotz eines Vertragsungleichgewichts auf individueller Ebene und besonderer sozialer Schutzbedürftigkeit aus. Das ist insofern auffällig, als sowohl im Sozialversicherungsrecht als auch in einzelnen individualarbeitsrechtlichen Gesetzen ein solcher Lückenschluss erfolgt ist. Für bestimmte Gruppen von arbeitnehmerähnlichen Personen (HeimarbeiterInnen, ständige freie und nicht bloß nebenbeschäftigte freie MedienmitarbeiterInnen nach den §§ 16 ff JournG) gibt es andere Instrumente der kollektiven Rechtsgestaltung (Gesamtverträge). Es wäre hoch an der Zeit, den Geltungsbereich der kollektiven Rechtsgestaltung auf die arbeitnehmerähnlichen Personen auszudehnen, die typische AN-Tätigkeiten ausüben und denen es aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit und sozialen Situation nicht gelingt, ein adäquates Entgelt und entsprechende Arbeitsbedingungen individuell auszuverhandeln,* und ihnen die Möglichkeit eines Kollektivvertragsabschlusses bzw einer Einbeziehung in einen bestehenden KollV zu eröffnen. Dabei könnte es den Kollektivvertragsparteien durchaus überlassen bleiben, ob und wie sie die angesprochene Gruppe arbeitnehmerähnlicher Personen definieren und inwieweit sie diese einbeziehen. Die Kollektivvertragsparteien könnten zB das Mindestentgelt, nicht aber den gesamten Arbeitszeitschutz auf diese Beschäftigtengruppe zur Anwendung bringen.
Gegen die Zulässigkeit der Einbeziehung bestimmter arbeitnehmerähnlicher Personen kann man einwenden, dass nach der Rsp des EuGH ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Kartellverbot und allenfalls auch gegen die Dienstleistungsund Niederlassungsfreiheit vorliegen könnte (siehe oben 4.3. und 4.4). Freilich ist das keineswegs zwingend, weil der EuGH diese Frage bisher nicht eindeutig entschieden hat. Im Übrigen sollte man überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, den EuGH dazu zu zwingen, „Farbe zu bekennen“.* Der 102 Druck auf die Union, den AN-Begriff zu erweitern, würde vielleicht sogar steigen, wenn der EuGH dies ablehnen würde. Deutschland wäre hier wohl ein Bündnispartner. Schon derzeit ist nämlich nach § 12a des deutschen Tarifvertragsgesetzes (TVG) der Abschluss von Kollektivverträgen sogar für alle arbeitnehmerähnlichen Personen möglich. Hinzu kommt, dass auch die Kommission zuletzt die Notwendigkeit erkannt hat, atypische Formen der Beschäftigung stärker in den Fokus zu nehmen. In einem ersten Schritt sollen Rahmenbedingungen für „transparente und verlässliche“ Arbeitsbedingungen geschaffen werden.* Materiellrechtlich darf man davon nicht allzu viel erwarten. Dennoch ist die Bedeutung dieser Initiative nicht zu unterschätzen, zeugt sie doch von einer sozialpolitischen Bewusstseinsbildung auf europäischer Ebene.
Einen gewissen Reformbedarf gibt es ferner im Hinblick auf die Kollektivvertragsfähigkeit. So ist es wenig überzeugend, wenn bei den Kammern der freien Berufe eine formale organisatorische Trennung (Kuriengliederung) ausreicht und man auf diese Weise zB Kollektivverträge zwischen der Kurie der niedergelassenen und der Kurie der angestellten Ärzte ermöglicht.* Ein solches „In-Sich-Kontrahieren“ ist im Hinblick auf die Gegnerunabhängigkeit problematisch und verhindert faktisch auch das kollektive Verhandeln anderer Berufsvereinigungen. Kritisch ist ferner zu sehen, dass der Gesetzgeber (vor allem im Zuge der Ausgliederung zuvor öffentlicher Einrichtungen) immer wieder einzelnen Unternehmen die Kollektivvertragsfähigkeit auf AG-Seite verliehen hat. Bekannte Beispiele sind etwa die Post und Telekom Austria AG, der ORF, aber etwa auch die Akademie der Wissenschaften. Abgesehen von vielen Detailproblemen* wird durch solche Firmenkollektivverträge der in der Konzeption des ArbVG vorherrschende Branchen-KollV und damit auch dessen Kartellierungsfunktion wenigstens in einem Teilbereich ausgehöhlt.*
Im Zusammenhang mit der Kollektivvertragsangehörigkeit schon lange umstritten ist, ob die faktische Zuordnung eines Unternehmens durch die Wirtschaftskammer zu einem bestimmten Fachverband maßgeblich ist oder ob die Richtigkeit dieser Zuordnung gerichtlich überprüft werden kann. Der OGH verneinte die Überprüfbarkeit* und erntete dafür von einem Teil der Lehre heftigen Widerspruch.* Als Interessenvertretung steht die Wirtschaftskammer unweigerlich unter dem Druckder Mitglieder, wenigstens im Zweifel die für die AG-Seite günstigere Entscheidung zu treffen. Kann eine Seite festlegen, welcher KollV tatsächlich im Einzelfall zur Anwendung kommt, ist die balance of powers zwischen den Kollektivvertragsparteien gestört. Auch wenn die Wirtschaftskammer zunächst über die interne Zuordnung und nur indirekt über die Kollektivvertragsangehörigkeit entscheidet, ist sie doch Kollektivvertragspartei und schafft somit normatives Recht nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern ebenso für Dritte. Bedenkt man, dass es bei der in der Praxis oft strittigen Zuordnung zum Gewerbe oder zur Industrie um erhebliche Unterschiede insb beim Entgelt geht, ist eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung ein erforderliches Korrektiv und sollte im ArbVG ausdrücklich verankert werden.
Kein unmittelbarer Reformbedarf im innerstaatlichen Recht besteht im Hinblick auf mögliche grenzüberschreitende bzw transnationale Kollektivverträge.* Ein europäisches Kollektivvertragsrecht gibt es derzeit nicht, es gibt auch keine Hinweise, dass ein solches in absehbarer Zeit geschaffen werden könnte. Derzeit ist sogar fraglich, ob bzw inwieweit eine Kompetenz der Union im Bereich des Kollektivvertragsrechts gegeben ist. Sogar wenn man dies bejaht, dürften sich Kollektivverträge nach Unionsrecht gem Art 153 Abs 5 AEUV nicht auf die Festlegung des Arbeitsentgelts beziehen. Unbestritten möglich sind Vereinbarungen nach den Regelungen des Art 155 AEUV über den Sozialen Dialog. Dabei geht es um Verhandlungen und den allfälligen Abschluss von Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern auf Unionsebene. Solche Vereinbarungen können uU in einer Richtlinie umgesetzt werden, wie es etwa bei der Teilzeitarbeits-RL 97/81/EG geschehen ist. Aus den Regelungen über den Sozialen Dialog lässt sich aber nichts im Hinblick auf eine Kompetenz für rechtsverbindliche grenzüberschreitende Kollektivverträge gewinnen. Rechtspolitisch wäre jedenfalls die Schaffung einer Rechtsgrundlage für europäische Kollektivverträge durchaus erwägenswert, weil damit uU auch auf AN-Seite eine soziale Mächtigkeit bestehen würde, die gegenüber international tätigen Unternehmen zu besseren Arbeitsbedingungen führen könnte. Europäische Kollektivverträge müssten wohl als Mindestvorschriften ausgestaltet sein und damit günstigere Bestimmungen im nationalen Recht erlauben. Im Übrigen würde das nicht ausschließen, daneben auch grenzüberschreitende Kollektivverträge der nationalen Sozialpartner zuzulassen. Ob das nach geltendem Recht bereits möglich ist, erscheint fraglich. Das ist weniger ein Problem des europäischen Kollisionsrechts* als des nationalen Kollektivvertragsrechts. Die Regelungen des ArbVG zur Kollektivvertragsfähigkeit und -angehörigkeit sind zwar zweifelsfrei auf innerstaatliche Akteure zugeschnitten, stehen aber dem Abschluss grenzüberschreitender Kollektivverträge nicht per se entgegen, soweit es sich bei den Abschlussparteien um freiwillige Berufsvereinigungen handelt. Die rechtlichen Hürden sind freilich faktisch so hoch, dass selbst dieses Szenario in der Praxis kaum denkbar erscheint.103