MosingDas Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht

Linde Verlag, Wien 2018, XLVII, 413 Seiten, € 74,–

PETERJABORNEGG (LINZ)

Die vorliegende Monographie, eine Grazer Habilitationsschrift, behandelt – für das österreichische Arbeitsrecht erstmals in so umfassender Weise – das arbeitsrechtliche Günstigkeitsprinzip und damit jenes zentrale arbeitsrechtliche Gestaltungsmittel, das zwar als Schlagwort vergleichsweise einfach klingt, bei der Konkretisierung durch die Rechtsanwendung aber schon hinsichtlich der Grundlagen und erst recht im Detail eine Fülle von Problemen und offenen Fragen aufwirft.

Aufbau und Abfolge der Untersuchung entspricht großteils dem, was die gewählte Thematik erwarten lässt, geht aber auch deutlich darüber hinaus: Den Kapiteln über Begriff und Funktionen des Günstigkeitsprinzips (1.), die historische Entwicklung (2.) und den Stufenbau der Arbeitsrechtsordnung unter dem Aspekt des Günstigkeitsprinzips (3.) folgen die Abschnitte über wesentliche Aspekte des Günstigkeitsvergleichs (4.), namentlich über den für das österreichische Arbeitsrecht so zentralen Gruppenvergleich sowie dessen Reichweite im Vergleich zum ebenfalls relevanten Einzelvergleich, und über die verschiedenen Rechtsquellenebenen (Gesetz, Verordnung, KollV, BV und Arbeitsvertrag) im Günstigkeitsvergleich (5.). Bei der Behandlung des KollV und der BV wird das Günstigkeitsprinzip nicht nur allgemein, sondern vor allem auch in Relation zu den jeweils zulässigen Regelungsinhalten abgehandelt. Für die BV führt dies letztlich in einem eigenen, praktisch die Hälfte des Werkumfanges ausmachenden Kapitel (6.) zu einer umfassenden Aufarbeitung einerseits sämtlicher möglichen Inhalte, namentlich denen gem §§ 96, 96a und 97 ArbVG, aber auch auf Grund anderer Gesetze, und andererseits zur eingehenden Behandlung der damit zusammenhängenden Günstigkeitsfragen im Verhältnis zu über- und untergeordneten Rechtsquellenebenen. Der Autor wollte – wie er im Vorwort eigens anführt – auf diese Weise möglichst alle Günstigkeitsfragen abhandeln, die sich im betrieblichen Alltag stellen können. Dem folgt dann noch eine zusammenfassende Übersicht zum Günstigkeitsvergleich in der höchstgerichtlichen Rsp mit gelegentlichen ergänzenden Kommentierungen (7.) und ein Kapitel zu den das Günstigkeitsprinzip betreffenden Regelungsvorgaben und -grenzen, sowie die Rechtsfolgen bei Verstößen (8.). Im Schlussabschnitt (9.) findet sich schließlich eine ausführliche Zusammenfassung der wichtigsten Thesen und Ergebnisse.

Insgesamt ist festzuhalten, dass Florian Mosing hier in überaus verdienstvoller Weise so gut wie alle irgendwie in Betracht zu ziehenden Probleme des arbeitsrechtlichen Günstigkeitsprinzips auf hohem wissenschaftlichen Niveau, insb auch unter Einbeziehung maßgebender rechtstheoretischer Grundlagen, abgehandelt hat, ohne dabei den Bezug zur praktischen Verwertbarkeit der Analysen und Lösungsvorschläge in der täglichen Arbeitsrechtspraxis zu verlieren. Die Darstellung der jeweiligen Problembereiche, der maßgebenden Rechtsgrundlagen, des Meinungsstandes in Rsp und Fachschrifttum, sowie die eigenen Stellungnahmen lassen auch unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit kaum zu wünschen übrig. Allenfalls das Kapitel über die höchstgerichtliche Rsp erscheint mir hinsichtlich eigener Stellungnahmen des Autors doch etwas zu kurz geraten. Da es der vorgegebene Rahmen einer Buchbesprechung ausschließt, auch nur ansatzweise eine fundierte Auseinandersetzung mit den Inhalten des Buches zu bieten, soll lediglich zur Veranschaulichung auf einige – zugegebenermaßen sehr willkürlich ausgewählte – Punkte der Untersuchung eingegangen werden, wobei vorweg festzuhalten ist, dass gerade die gründlichen und ideenreichen Ausführungen des Autors in bester wissenschaftlicher Art zum Weiterdenken und naturgemäß auch da und dort zu möglichen Einwänden anregen.

Dies gilt schon für die grundsätzlichen Ausführungen zu Begriff und Funktionen des Günstigkeitsprinzips (S 1 ff). So definiert Mosing an sich völlig zutreffend das Günstigkeitsprinzip dahingehend, dass es auf der relativ zwingenden Wirkung der übergeordneten Rechtsquelle aufbauend für Regelungsinhalte einer rangniederen Rechtsquelle aufgrund von (natürlich erst näher zu bestimmenden) Günstigkeitsüberlegungen einen Anwendungsvorrang schafft. Zu weit geht er aber mE dann, wenn er (auf S 3) zwei „Schutzbereiche“ unterscheidet, nämlich den der Unabdingbarkeit der übergeordneten Rechtsquelle, weil die dort vorgesehenen Mindestansprüche nicht unterschritten werden dürfen, und den des Günstigkeitsprinzips, das den AN nunmehr davor schütze, dass der relativ zwingende Regelungsinhalt der übergeordneten Rechtsquelle gegenüber der günstigeren niederrangigen Rechtsquelle durchdringe. Für den Fall, dass die rangniedere Rechtsquelle der Arbeitsvertrag ist, kommt Mosing selbst (auf S 4) zum Ergebnis, dass das Günstigkeitsprinzip gegenüber der höheren relativ zwingenden Rechtsquelle nicht die Vertragsfreiheit „wiederherstelle“, sondern die unabdingbare Norm insoweit erst gar nicht in die Vertragsfreiheit eingreife. So gesehen gibt es aber als „Schutzbereich“ nur die unabdingbare ranghöhere Rechtsquelle und überall dort, wo auf Grund entsprechender Günstigkeitsüberlegungen dieser 184 Schutzbereich nicht besteht, die Möglichkeit abweichender Regelungen durch rangniedrigere Rechtsquellen. Die günstigere arbeitsvertragliche Regelung „schützt“ also nicht vor der unabdingbaren höheren Norm, sondern bleibt einfach auf Grund der Vertragsfreiheit zulässig, weil sie wegen des Günstigkeitsprinzips nicht gegen zwingendes übergeordnetes Recht verstößt. Auch im Falle von dispositivem höherem Recht kann wohl nicht sinnvoll davon gesprochen werden, dass die Vertragsfreiheit AN und AG davor „schützt“, dass dispositives Recht zur Anwendung kommt, sondern einfach davon, dass die Vertragsfreiheit insofern nicht eingeschränkt ist. So gesehen ist das Günstigkeitsprinzip auch weder eine „Durchbrechung“ noch die „Kehrseite“ der Unabdingbarkeit, sondern einfach ein Mittel zur Konkretisierung der Reichweite der unabdingbaren Norm.

Ganz zentral sind die überaus fundierten Ausführungen Mosings zum „Gruppenvergleich“ nach § 3 Abs 2 ArbVG (S 39 ff). Das Ergebnis, dass für den Gruppenvergleich sowohl der objektive sozialpolitische Zweck der übergeordneten Regelungsgruppe (nach Mosing der „sachliche Zusammenhang“), als auch der von den Parteien der nachgeordneten Rechtsquelle konkret vereinbarte Zusammenhang verschiedener Regelungsgruppen (nach Mosing der „rechtliche Zusammenhang“) von Bedeutung ist, und dass sich der letztere stets nur innerhalb der Grenzen des ersteren entfalten kann, weil andernfalls die maßgebenden Normzwecke der übergeordneten Regelung missachtet würden, ist gut nachvollziehbar und entspricht letztlich einer richtig verstandenen teleologischen Auslegung auch im Bereich der Gruppenbildung für den Günstigkeitsvergleich.

Nicht ganz einleuchtend erscheint mir demgegenüber die Argumentation zur umstrittenen Frage, ob mangels konkreter Regelungen zur Günstigkeitsprüfung bei unabdingbaren arbeitsrechtlichen Gesetzen ein Einzelvergleich durchzuführen ist oder auch insoweit gleichsam analog zu § 3 Abs 2 ArbVG ein Gruppenvergleich möglich sein soll. Mosing meint nach Darstellung des Meinungsstandes sowie der jeweils für und gegen den Gruppenvergleich bzw Einzelvergleich sprechenden Argumente (S 71 ff), dass zwar der Gruppenvergleich zulässig sei, weil ohnehin auch bei diesem stets der maßgebende Normzweck der unabdingbaren Gesetzesregelung gewahrt werden müsse, wegen des Risikos einer Fehlbeurteilung der Vertragsparteien im Rahmen der Gruppenbildung der Gruppenvergleich bei besonders sensiblen Regelungsmaterien aber doch unzulässig sein soll, wenn der gesetzliche Regelungsinhalt – wie zB im Betriebspensionsrecht oder im AN-Schutz – eine besondere und außerordentliche Schutzfunktion für den AN einnehme. Die Zulässigkeit des Gruppenvergleichs letztlich am tolerierbaren oder nicht tolerierbaren Risiko der Fehlbeurteilung durch die Vertragsparteien aufzuhängen, erscheint mir deshalb problematisch, weil ohnehin bei jeder einzelnen unabdingbaren Norm die Normzweckkonformität des Gruppenvergleichs, insb auch hinsichtlich möglicher Gruppenbildungen, geprüft werden muss und insoweit der Hinweis auf eine besondere Sensibilität der jeweiligen Rechtsmaterie und/oder einer besonderen und außerordentlichen Schutzfunktion keinerlei zusätzliche Beurteilungssicherheit bieten könnte, sondern mangels geeigneter normativer Parameter sehr viel Raum für unterschiedliche Sichtweisen eröffnen würde. Man sollte daher auch hier einfach bei der „normalen“ teleologischen Auslegung jeder einzelnen unabdingbaren Gesetzesnorm bleiben und prüfen, ob und inwieweit ein Gruppenvergleich mit den jeweils maßgebenden objektiven Schutzzwecken vereinbar ist oder nicht.

Von den weiteren unzähligen Problembereichen, fundierten Analysen und gefundenen Ergebnissen des vorliegenden Buches sei nur noch beispielhaft auf drei Punkte hingewiesen:

Im Zuge der Behandlung der Kollektivvertragsebene geht Mosing sehr umfassend auch auf die Frage der Zulässigkeit bloß dispositiv wirkender Kollektivvertragsbestimmungen ein (S 101 ff) und gelangt nach eingehender Prüfung sämtlicher irgendwie in Betracht kommender Gesichtspunkte einmal mehr zu dem von der überwiegenden Lehre vertretenen überzeugenden Ergebnis, dass bloß dispositiv wirkendes Kollektivvertragsrecht nach der bestehenden Gesetzeslage jedenfalls unzulässig ist.

Zur Frage des Gruppenvergleichs bei Kündigungsfristen vertritt Mosing die Auffassung, dass die entsprechenden unabdingbaren Regelungen für AG und AN unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb nicht einer Regelungsgruppe mit wechselseitigen Kompensationen zuordenbar seien (323 f). Die Begründung dafür erscheint aber nicht schlüssig: Der für den AG maßgebende Zweck ausreichender Zeit für eine Nachbesetzung des Arbeitsplatzes (oder für allfällige sonstige betriebliche Maßnahmen) und der für den AN entscheidende Zweck ausreichender Zeit für die Arbeitsplatzsuche oder sonstige Maßnahmen zur Bewältigung der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Situation sind nur insofern unterschiedlich, als die im Gefolge einer Kündigung entstehenden Handlungszwänge für AG und AN anders geartet sind. Unter dem Aspekt beiderseitiger verbindlicher Mindestkündigungsfristen geht es aber immer nur um den gleichen Zweck, nämlich genug Zeit zu haben, um sich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses neu orientieren zu können.

Beifallswert ist wiederum die Ansicht, dass entgegen einer immer wieder vertretenen Auffassung der Regelungszweck mancher Betriebsvereinbarungsgegenstände keineswegs das Günstigkeitsprinzip nach § 31 Abs 3 ArbVG einschränkt und zur Annahme von absolut zwingendem Betriebsvereinbarungsrecht führen müsse, sondern im Prinzip zB auch Disziplinarordnungen, Personalfragebögen, Kontrolleinrichtungen, betriebliche Ordnungsvorschriften oder Grundsätze über den Verbrauch des Erholungsurlaubs einem Günstigkeitsvergleich zugänglich sind (S 139 f). Zutreffend ist aber auch die Einschränkung, dass dann, wenn günstigere Vereinbarungen ihrerseits den Charakter einer generellen Regelung erfüllen, die gleichlautenden Einzelvereinbarungen im Rahmen der Mitbestimmungstatbestände der §§ 96 und 96a ArbVG ohne Zustimmung des BR (bzw für § 96a ohne zustimmungsersetzende Entscheidung der Schlichtungsstelle) schon wegen Nichteinhaltung der Gültigkeitsvoraussetzungen für diese Arten der Mitbestimmung unzulässig und nichtig sind (S 142 ff). Zu ergänzen wäre noch, dass sich auch aus dem jeweiligen schuldrechtlichen Teil einer BV, insb, wenn diese auf einheitliche betriebliche Regelungen abzielt, ergeben könnte, dass der Betriebsinhaber keine günstigeren Einzelvereinbarungen abschließen darf und solches auch vom BR gerichtlich geltend gemacht werden könnte (vgl bereits Jabornegg,

). 185

Die vorstehenden Beispiele belegen pars pro toto einerseits die kompetente Abhandlung aller Grundsatzfragen des arbeitsrechtlichen Günstigkeitsprinzips und andererseits auch eine geradezu detailverliebte kundige Aufarbeitung zahlreicher bekannter und auch neuer Fragestellungen mit durchwegs nachvollziehbaren oder jedenfalls ernsthaft diskutierbaren Lösungen. Insgesamt ergibt das ein Werk, das gleichermaßen für Arbeitsrechtswissenschaft und Arbeitsrechtspraxis von hohem Interesse ist und bei einschlägigen Fragen unbedingt zu Rate gezogen werden sollte.