AumannArbeitsunfall 4.0 – Die Abgrenzung privater und beruflicher Risikosphären in der modernen Arbeitswelt
Nomos Verlag, Baden-Baden 2019, 301 Seiten, broschiert, € 78,–
AumannArbeitsunfall 4.0 – Die Abgrenzung privater und beruflicher Risikosphären in der modernen Arbeitswelt
Die soziale UV wird vom Problem der Abgrenzung der unversicherten privaten von der versicherten beruflichen Sphäre geprägt, die in der Praxis nicht selten vermengt sind. Die Mischnutzung von Wohngebäuden durch nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz (GSVG) versicherte selbständig Erwerbstätige ist ein häufiges Beispiel und aus der Rsp bekannt (vgl OGH9 ObS 30/87 SSV-NF 2/2; OGH10 ObS 2069/96d SSVNF 10/47; OGH10 ObS 359/01v SSV-NF 15/132; OGH 22.12.2005, 10 ObS 112/05a). Die im Gange befindliche Änderung der Arbeitswelt verschärft die Problematik (vgl dazu die jüngere Rsp des dt BSG 18.6.2013, B 2 U7/12R; dt BSG 5.7.2016, B 2 U5/15R; dt BSG 27.11.2018, B 2 U8/17R): Bei „Home-office“ & Co werden nicht nur Abgrenzungsfragen dieser Art die Regel sein, sondern es wird dort keine Unfallsituation mehr geben, die zweifelsfrei als Arbeitsunfall erkennbar sein wird.
Annemarie Aumann griff diese Problematik bei ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit am renommierten Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München auf und das Ergebnis ist die vorliegende, im Großen und Ganzen auch interessante Studie. Die soeben gemachte Einschränkung bezieht sich auf Methodisches: Die Arbeit knüpft an der sogenannten „Betriebsrisikolehre“ an, zu der man in der gängigen Lehrbuchliteratur wenig findet, weil sie als überholt angesehen wird (vgl nur Ricke in KassKomm Vor § 1 SGB VII Rz 3). Das hat seinen Grund wohl darin, dass es sich – wie die Autorin einräumt (110) – um eine Dogmatik aus der Entstehungszeit der UV im 19. Jahrhundert handelt, als die UV also noch eine Betriebsversicherung war und in erster Linie der Haftungsablöse des DG diente. Der Risikogedanke – erfahren wir da – ist ein eigenständiger Zurechnungsgrund, der besagt, dass derjenige den Schaden tragen soll, der ihn besser als ein anderer verhindern kann, also „näher am Schaden ist“ (111). Dieser Zurechnungsgrund wird über das „Beherrschbarkeitsargument“ (113) und das „Gewinnerzielungsargument“ (117) relativ breit entfaltet und dem sozialen Schutzprinzip als zweitem und heute wohl allein herrschenden Grundprinzip der UV (122) gegenübergestellt. Die Autorin hält die Betriebsrisikolehre für nach wie vor geeignet, die Berufsbezogenheit der zum Unfall führenden Tätigkeit zu beurteilen. Man fragt sich nur, wie diese „Ingerenzlehre“ mit dem Unfallversicherungsschutz auf Dienstreisen, Betriebsausflügen und Wegen zusammenpasst, aber auch, was sie bei der Zurechnung bei selbständig Erwerbstätigen leisten soll. Das wiederkehrende Rekurrieren auf die Betriebsrisikolehre bringt insgesamt – so der Eindruck des Rezensenten – gegenüber der modernen, herkömmlichen Zurechnungsdogmatik keinen wirklichen Erkenntnisgewinn. Denn zB die Erkenntnis, dass Betriebswege auch bei häuslichem Arbeitsplatz definitionsgemäß der versicherten Tätigkeit dienen und daher versichert sind, benötigt keine Unterstützung aus der Betriebsrisikolehre (162 f), die hingegen im deutschen Beamtenunfallrecht als „Gefahrherrschaft des Dienstherrn“ eine größere Rolle spielt (241 ff).
Die Bejahung des Versicherungsschutzes bei einem Weg in die Küche zur Nahrungsaufnahme während einer Unterbrechung der versicherten Tätigkeit im gemischt genutzten Haus wirkt insoweit gekünstelt, als die Nahrungsaufnahme naturgemäß immer der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit dient, und dennoch die Rsp radikal die Privatsphäre von der betrieblichen Sphäre trennt und eigenwirtschaftliche Tätigkeiten, wo immer sie vorgenommen werden, für nicht versichert hält, sofern der Gesetzgeber nicht ausnahmsweise Gegenteiliges anordnet (wie in Österreich gem § 175 Abs 2 Z 7 ASVG). Es geht ja gerade darum, den Begriff der Tätigkeiten, die im inneren Zusammenhang mit der versicherten Arbeit stehen, nicht durch die Einbeziehung eigenwirtschaftlicher Tätigkeiten wie Waschen, Anziehen, Essen, Notdurft verrichten etc unabsehbar ausfransen zu lassen.
Die Autorin widmet der Verrichtung privater Tätigkeiten am Arbeitsplatz ein ganzes Kapitel (227 ff). Mit Blick auf die Lebenswirklichkeit entgrenzt Beschäftigter und der von den AG diesen Beschäftigten damit zugesonnenen ständigen Verschränkung der privaten mit der beruflichen Sphäre sei es widersprüchlich, beim Unfall genau darauf abzustellen, ob gerade eine berufliche oder eine private Tätigkeit verrichtet wurde (228). Ein zumindest de lege ferenda sehr bedenkenswerter sozialpolitischer Gedanke.
Bei Diskussion der Frage der Nahrungsaufnahme außerhalb des häuslichen Bereichs (166) will die Autorin diese Wege schon de lege lata mit (uU versicherten) Wegen vom Unternehmens-Arbeitsplatz gleichsetzen. Einem dies verneinenden Urteil des BSG (B 2 U7/12R) wird kritisch begegnet, aber immerhin attestiert, dass es schwierig ist, den häuslichen Arbeitsplatz versicherungsrechtlich einzuordnen. Nicht nur das, würde ich meinen: das Einkaufen gehen ist – sieht man von der Arbeitspausenregelung ab – an sich nicht versichert. Die Betreibung eines „Home Office“ von der Wohnung aus kann daher – behält man die Notwendigkeit der Abgrenzung der Sphäre der versicherten Tätigkeit im Verhältnis zum Privatleben im Auge – umso weniger dazu führen, dass das Einkaufen in jenen Fällen plötzlich privilegiert wird, in denen daheim – zufällig – vorher im „Home Office“ gearbeitet wurde.
Das gilt auch für den Sturz über eine Treppe, den in der österreichischen und ebenso in der deutschen Rsp mit Abstand häufigsten Fall eines Unfalls in gemischt genutzten Gebäuden. Der Umstand allein, dass sich im Haus auch ein Büro befindet, leistet zu einem Treppensturz keinen wie immer gearteten Beitrag, der es rechtfertigen könnte, derartige Vorkommnisse als gesetzlich unfallversichert einzustufen. Anders ist es freilich, wenn sich ein Sturz während einer versicherten Tätigkeit ereignet oder durch eine solche Tätigkeit wesentlich (mit-)verursacht wird (man denke an den Transport von betrieblich wichtigen, aber sperrigen Gegenständen, wie zB Möbeln oder an das betriebliche Telefonieren am Mobiltelefon oder an einen eiligen Weg zum PC im Untergeschoss, um dort betrieblich zu skypen). Wenn die Treppe im Unfallszeitpunkt mit einer auf die betriebliche Tätigkeit gerichteten inneren Handlungstendenz benützt wurde, dann kann es für den Versicherungsschutz 191 rechtlich nicht darauf ankommen, in welcher Häufigkeit eine Treppe im eigenen Wohnhaus sonst betrieblich oder privat genutzt wird (dazu 155 ff).
Es wird von der Autorin auch die zwischen zwei Höchstgerichten divergierende Rsp beim beamtenrechtlichen Dienstunfall im Verhältnis zum Arbeitsunfall dargestellt (229 ff), insb wird ua anhand der Garagenfälle die unterschiedliche Reichweite der beruflichen Risikosphäre der Privatbeschäftigten und der Beamten in der Rsp des deutschen Bundesverwaltungsgerichts bzw des Bundessozialgerichts deutlich (vgl dazu auch Giesen, Arbeitsunfall und Dienstunfall [2017], vgl DRdA 2018, 179).
Zutreffend diagnostiziert die Autorin im Ergebnis, dass im „Home Office“ der Unfallversicherungsschutz defizitär ist und nennt in diesem Zusammenhang den Weg zur Nahrungsaufnahme und die Kindergartenwege; sie leitet daraus am Ende ihrer Arbeit (263 ff) rechtspolitische Forderungen auf entsprechende Ergänzungen der Versicherungstatbestände zur Erweiterung des Schutzes in gemischt genutzten Gebäuden ab: Danach sollen private Verrichtungen, welche die versicherte Tätigkeit unterbrechen – unabhängig davon, ob dies im Betrieb oder im „Home Office“ geschieht –, versichert sein, soweit ihre Durchführung im konkreten Arbeitsverhältnis erlaubt, gebilligt oder geduldet ist. Rechtspolitisch interessante Vorschläge werden auch zum Versicherungsschutz bei Rufbereitschaft gemacht, die nahe an eine Art „Bann“ heranreichen (das vereinbarte Zurverfügungstehen an einem frei wählbaren Ort zur alsbaldigen Arbeitsaufnahme als versicherte Tätigkeit, 223). Der Vorschlag, dass versicherte Tätigkeiten unabhängig vom Ort ihrer Verrichtung vom Unfallversicherungsschutz erfasst sein sollten, gehört erfreulicherweise längst zum festen Bestandteil österreichischer Dogmatik, für die auch insoweit Arbeitsunfall 4.0 kein ganz neues Problem ist.
Bei uns könnte aber bei Beschäftigungen am häuslichen Arbeitsplatz der Versicherungsschutz am Weg zum Arzt iSd § 175 Abs 2 Z 2 ASVG ein Problem sein, wenn der Weg von daheim aus angetreten wurde und wenn dorthin auch zurückgekehrt wird. Jedenfalls hat die Rsp bisher Arztwege im Krankenstand (also vergleichbare Sachverhalte) als nicht versichert beurteilt (RS0084967 zuletzt OGH 19.1.2016, 10 ObS 131/15k). Was die Kindergarten- und Schulwege (§ 175 Abs 2 Z 10 ASVG) betrifft, so besteht ein gewisses Defizit schon jetzt in der Landwirtschaft, wo Haushalt und Betrieb typischerweise „unter einem Dach“ sind, sodass Kinder nicht auf dem Arbeitsweg zur Schule oder zum Kindergarten transportiert werden können. Es würde wohl keinen übermäßigen finanziellen Aufwand nach sich ziehen, würde man angesichts der neuen Formen der Heimarbeit diesen Weg schlechthin unter Unfallversicherungsschutz stellen.
Das titelgebende Thema des Unfallversicherungsschutzes bei entgrenzter Arbeit wird nur in der zweiten Hälfte des Buches abgehandelt. Die erste Hälfte der Arbeit gibt eine gründliche allgemeine Darstellung der deutschen Dogmatik des Arbeitsunfalls beginnend mit dem Unfallsbegriff als solchen, über die Erörterung von Merkmalen wie „Einwirkung von außen“ bzw „zeitlich begrenzt“ und die Fortentwicklung dieser Anforderung durch die jüngere Rsp (Stichworte: Hebearbeiten, Herzinfarkt bzw Dauer einer Arbeitsschicht), bis hin zum Erfordernis des inneren oder sachlichen Zusammenhangs sowie der Erörterung von Kausalitätsfragen. Wer sich über den aktuellen Stand der deutschen Dogmatik des Arbeitsunfalls informieren will, ist schon deshalb mit diesem Buch gut bedient.
Insgesamt hat der Rezensent ein interessantes Buch gelesen, dessen Gedanken man in die weitere Diskussion über den sozialpolitischen Schutz entgrenzter Arbeit einbeziehen sollte. Für alle mit UV beschäftigten oder daran auch nur interessierte JuristInnen ist dies eine sehr empfehlenswerte Lektüre. 192