44Kollektivvertrag und Gleitzeit
Kollektivvertrag und Gleitzeit
Der KollV ist im Bereich der Gleitzeit solange regelungsbefugt, als hierdurch nicht die den Betriebsvereinbarungsparteien eingeräumte Regelungskompetenz eingeschränkt wird.
Bestehen relativ zwingende Kollektivvertragsregelungen und Betriebsvereinbarungsregelungen zum gleichen Regelungsbereich, so wird deren Verhältnis zueinander durch das Günstigkeitsprinzip des § 3 ArbVG bestimmt.
Eine tägliche Normalarbeitszeit von zehn Stunden iVm etwaigen zusätzlichen Überstundenzuschlägen ist günstiger als eine tägliche Normalarbeitszeit von zwölf Stunden mit der zusätzlichen Möglichkeit auf ganztägigen Zeitausgleich.
Ein späterer und ungünstigerer Betriebsvereinbarungsinhalt wird durch einen früheren und günstigeren Kollektivvertragsinhalt temporär verdrängt.
Die Antragstellerin ist eine kollektivvertragsfähige Körperschaft auf AG-Seite. Die Antragsgegnerin ist eine auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Berufsvereinigung der AN iSd § 4 Abs 2 ArbVG. Antragstellerin und Antragsgegner haben per 1.1.2018 den KollV für Angestellte des Metallgewerbes (KollV) abgeschlossen. Strittig ist die Auslegung des § 4 Abs 9 dieses KollV, der lautet:
„Durch Betriebsvereinbarung – in Betrieben ohne Betriebsrat durch Vereinbarung mit den einzelnen Arbeitnehmern – darf die tägliche Normalarbeitszeit gemäß § 4b Abs 4 AZG (Gleitzeitvereinbarung) bis auf 10 Stunden verlängert werden.“
Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, dass § 4 Abs 9 KollV einer Regelung über eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zwölf Stunden in einer seit dem 1.9.2018 abgeschlossenen Gleitzeit(betriebs)vereinbarung gem § 4b AZG nicht entgegenstehe. Sie führt aus, der Gesetzgeber habe mit der AZG-Novelle 2018, BGBl I 53/2018BGBl I 53/2018, neue Rahmenbedingungen im Bereich der Gleitzeit geschaffen. Vor Inkrafttreten der Novelle seien in einer Gleitzeitvereinbarung nach § 4b Abs 4 AZG aF bis zu zehn Stunden Normalarbeitszeit zulässig gewesen. Ab 1.9.2018 erlaube das Gesetz nun unter näher geregelten Voraussetzungen aber die Vereinbarung einer Normalarbeitszeit von bis zu zwölf Stunden. Eine kollektivvertragliche Ermächtigung zum Abschluss einer Betriebs- oder (in betriebsratslosen Betrieben) Einzelvereinbarung dieses Inhalts sei nicht vorgesehen. Ein solches Erfordernis habe § 4b Abs 4 AZG nur in der bis 31.12.2007 geltenden Fassung enthalten, die die mittlerweile weggefallene Grundlage für die Fassung des § 4 Abs 9 KollV gewesen sei. Die Antragstellerin vertrete die Rechtsansicht, dass die Bestimmung des § 4 Abs 9 KollV nur mehr historische Bedeutung habe und durch die beiden letzten Novellen des § 4b AZG gegenstandslos geworden sei. Es bestehe darüber hinaus grundsätzlich keine Kompetenz des KollV, eine gesetzlich zugelassene Normalarbeitszeit zu beschränken.
Die Antragsgegnerin nehme den gegenteiligen Standpunkt ein, sodass keine Rechtssicherheit bestehe. Von der strittigen Rechtsfrage seien mehr als drei AN iSd § 54 Abs 2 ASGG betroffen. Die Antragsgegnerin beantragte die Abweisung des Feststellungsantrags. Es treffe nicht zu, dass dem § 4 Abs 9 KollV kein eigener normativer Regelungsgehalt mehr zukomme. Diese Bestimmung sei eindeutig auf eine Beschränkung der täglichen Normalarbeitszeit mit bis zu zehn Stunden gerichtet. Dies sei insb vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Interessenvertretung der AG seit Jahren die Möglichkeit eines Zwölf-Stunden- Tages gefordert habe und bereits seit 2014 darüber Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern stattgefunden hätten. Aus diesem Grund sei die Regelung des § 4 Abs 9 KollV ungeachtet der beiden letzten Novellierungen des § 4b AZG aufrechterhalten worden. Selbst anlässlich des Abschlusses eines Zusatz-KollV im Dezember 2018, also nach Inkrafttreten des § 4b AZG idgF, sei daran nichts geändert worden. Die Kollektivvertragsparteien hätten sich vielmehr zu der programmatischen Erklärung entschlossen, ausdrücklich die sonstigen Regelungen des Rahmen- KollV „unverändert in Geltung“ zu belassen.
Bei der strittigen Bestimmung handle es sich einerseits um eine Regelung zur Gleitzeit, aber auch um eine Regelung zur Entgeltfindung und -bemessung, weil danach alle über zehn Stunden täglich hinausgehenden Arbeitsleistungen als Überstunden zu entlohnen seien. Beide Materien würden eindeutig von der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner umfasst. Eine teilweise Überschneidung zwischen den Kompetenzen des KollV und der BV sei nicht unzulässig. Die mit § 4 Abs 9 KollV normierte Beschränkung der täglichen Arbeitszeit diene dem vorbeugenden Gesundheitsschutz und der Entökonomisierung der Lebenszeit. Sie sei für die AN in der gebotenen Gesamtbetrachtung günstiger als die gesetzliche Regelung und daher wirksam.
Hierzu hat der OGH erwogen:
Der Feststellungsantrag ist nur teilweise berechtigt. [...]
2.1. Der normative Teil von Kollektivverträgen ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln auszulegen; die für die Interpretation von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen normierten Grundsätze des ABGB haben hier keine Anwendung zu finden (RS0050963). Maßgeblich ist daher zunächst der Wortsinn, der hier einer Auslegung iSd Antragstellerin entgegensteht. Was sich die konkret den KollV abschließenden und auch nach der AZG-Novelle 2008 diese Bestimmung aufrecht erhaltenden Parteien gedacht haben, ist dem Normunterworfenen nicht erschließbar und daher ohne Bedeutung (RS0010088).
2.2. Die Regelung, dass die tägliche Normalarbeitszeit „bis auf 10 Stunden verlängert“ werden darf, enthält einen eindeutigen Regelungsgehalt und schließt die Möglichkeit von elf oder zwölf Stunden zuschlagsfreier Arbeitszeit unmissverständlich aus.
Unstrittig ist zwischen den Parteien, dass die Einführung des § 4 Abs 9 KollV per 1.1.1995 anlässlich des 463 Inkrafttretens des § 4b Abs 4 AZG idF BGBl I 446/1994 vereinbart wurde und den Zweck hatte, die danach nur unter Kollektivvertragsvorbehalt zulässige tägliche Normalarbeitszeit von zehn Stunden in Gleitzeitvereinbarungen zu ermöglichen. Insoweit hatte die Norm tatsächlich keinen einschränkenden Charakter (vgl aber allgemein zur Fortgeltung von Kollektivverträgen selbst bei Änderung der Kompetenzgrundlage 9 ObA 17/13k). Die Kollektivvertragsparteien haben aber an die so festgelegte Normalarbeitszeit auch verschiedene Regelungen über Zuschläge für Mehrarbeit (Überstunden) angeknüpft. Das Einvernehmen der Kollektivvertragspartner über die Sinnhaftigkeit einer bis zu zehnstündigen zuschlagsfreien Normalarbeitszeit in Gleitzeitvereinbarungen kann für sich allein aber noch nicht als Einverständnis mit weiteren Erhöhungen dieses Rahmens verstanden werden. Sachliche Argumente, die bei Vereinbarung des § 4 Abs 9 KollV für die Zulassung eine zuschlagsfreie Erhöhung von neun auf zehn Stunden gesprochen haben, sind nicht zwingend auf eine zwölfstündige Tagesarbeitszeit übertragbar.
3. Es stellen sich im Wesentlichen drei Fragen:
Haben die Kollektivvertragsparteien die Kompetenz, die vom Gesetzgeber den Betriebsvereinbarungsparteien zuerkannte Möglichkeit der Gestaltung von Gleitzeit nach dem AZG einzuschränken?
Welche Kompetenzen kommen den Kollektivvertragsparteien zur Gestaltung von Arbeitszeit- und Entgeltbedingungen allgemein in diesem Zusammenhang zu?
In welchem Verhältnis stehen Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen, die solche Fragen regeln?
3.1. Vorweg zu prüfen ist, ob dem KollV auch nach der geltenden Fassung des § 4b Abs 4 AZG überhaupt noch und welche Regelungskompetenz im Zusammenhang mit der Frage der Ausweitung der „Normalarbeitszeit“ zukommt.
3.2. Die Antragstellerin argumentiert, das ArbVG ermächtige Kollektivvertragspartner nicht dazu, Normen zu schaffen, die den Parteien einer BV ganz bestimmte Inhalte vorschreiben. Alle derartigen Normen wären letztlich ihrem Wesen nach Regelungen der Beziehungen der Betriebspartner, somit betriebsverfassungsrechtliche Regelungen, die nur im engen Rahmen des § 2 Abs 2 Z 5 und des § 29 ArbVG zulässig seien
3.3. In der Literatur werden diese Fragen kontrovers diskutiert. Schrank (Erweiterte Gleitzeit: Kann sie der KollV wirksam ausschließen? RdW 11/2018, 715 [716 f]; ders, Arbeitszeit5 § 33c Rz 20) führt aus, das AZG binde seit 2008 Gleitzeitmodelle nicht mehr an die Zulassung durch KollV, sondern übertrage sie ausschließlich den Betriebsparteien zur Regelung. Der Grund dafür sei ohne Zweifel in den mit zwingenden Gleitrechten verbundenen größeren individuellen Freiräumen für die AN zu sehen. Für die Gestaltung von Gleitzeitmodellen seien die Betriebs- bzw Einzelvertragsparteien im Rahmen der Vorgaben des AZG allein zuständig. Eine Regelungsbefugnis des KollV erfordere im Bereich von Verteilungsmodellen eine gesetzliche Ermächtigung nach § 2 Abs 2 Z 7 ArbVG, die in § 4b AZG fehle. Kollektivvertragliche Ausschlüsse der neuen erweiterten Gleitmöglichkeit wären unzulässige und damit nichtige kollektivvertragliche Betriebsverfassungsnormen bzw einzelvertragliche Abschlussverbote.
Auch Klein (Das Recht der Gleitzeit durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018, DRdA 3/2019, 183 [185]; ders in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG5 §§ 3-4c Rz 51c) teilt diese Bedenken im Grundsatz. Habe das Gesetz die Angelegenheit des Abschlusses von Gleitzeitvereinbarungen mit verlängerter Normalarbeitszeit nach § 29 ArbVG der BV vorbehalten, könne sie kollektivvertraglich nicht wieder ausgeschlossen werden. Dies habe nach Meinung Kleins aber nicht den Verlust der Kompetenz des KollV zur Setzung von in seiner Kompetenz liegenden Inhaltsnormen zur Folge.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen auch gestützt auf § 32c AZG Pfeil (in Auer-Mayer/Felten/Pfeil, AZG4 § 4b Rz 24) und Felten (Auswirkungen der AZG-Neuregelung auf bestehende Gleitzeitvereinbarungen, in Felten/Trost, Arbeitszeitrecht neu 67 [70]) sowie Risak (Kollektivvertrag und Arbeitszeitregelungen, ZAS 2019, 196 [200 f]).
Gleissner (Aktuelle Entwicklung im Arbeitszeitrecht, DRdA 3/2019, 190 [194]) verweist auf die Unterschiedlichkeit der kollektivvertraglichen Regelungen. Auch Körber-Risak (Gleitzeit neu, in Köck, Arbeitszeit neu 46) betont – wenngleich für zukünftige Kollektivvertragsverhandlungen – die Unterschiedlichkeit der Situation in den verschiedenen Branchen.
3.4. Nach § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG können durch Kollektivverträge „die gegenseitigen aus dem Arbeitsverhältnis entspringenden Rechte und Pflichten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer“ geregelt werden. Die Rsp versteht § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG als Generalklausel, nach der der typische, wesentliche oder regelmäßig wiederkehrende Inhalt eines Arbeitsverhältnisses einer kollektivvertraglichen Regelung unterworfen werden kann, insb auch Regelungen über Entgelt und Arbeitszeit (allgemein RS0050949; Strasser in Strasser/Jabornegg/Resch, ArbVG § 2 Rz 30; Mosler/Felten in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht5 § 2 Rz 50; Reissner in ZellKomm3 § 2 ArbVG Rz 48; Mazalin Mazal/Risak, II 32. Lfg Rz 22 f; Marhold/Friedrich, Österreichisches Arbeitsrecht3 475 uva).
Sowohl die Antragstellerin selbst, die ihr Feststellungsinteresse daraus ableitet, als auch die Antragsgegnerin weisen darauf hin, dass die wesentliche Bedeutung des § 4 Abs 9 KollV nicht darin liegt, eine längere Tagesarbeitszeit als solche zu verhindern, sondern darin, dass danach für eine zehn Stunden am Tag übersteigende Arbeitsleistung Zuschläge gebühren. Insoweit ist aber eine Einschränkung der Kompetenz der Kollektivvertragspartei zur Regelung nicht ersichtlich. Können Kollektivverträge doch etwa auch eine unterhalb der gesetzlichen Normalarbeitszeit liegende kollektivvertragliche „Normalarbeitszeit“ und Mehrarbeitszuschläge vorsehen. Dass die Kollektivvertragsparteien vor vielen Jahren auch eine Kompetenz im Rahmen der Gestaltung der gesetzlichen Arbeitszeitmodelle hatten, ändert insofern hier nichts am Umfang der 464 Kompetenz nach § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG. Soweit es aber um den Abschluss und den normativen Inhalt der von § 4b Abs 4 AZG unmittelbar der BV zugewiesenen Gleitzeitregelung geht, können diese speziell vom Gesetzgeber diesen Vertragspartnern im Rahmen der gesetzlichen Arbeitszeitmodelle zugewiesenen Kompetenzen durch die Kollektivvertragsparteien aber nicht eingeschränkt werden. § 2 ArbVG räumt den Kollektivvertragsparteien nur in ganz bestimmten Regelungsbereichen die Kompetenz ein, die Mitwirkungsrechte des BR zu gestalten (RS0050863 ua, vgl etwa § 2 Abs 2 Z 5 ArbVG; allgemein Strasser, aaO Rz 48) bzw gestattet § 29 ArbVG eine Übertragung von Kompetenzen an die Betriebsvereinbarungsparteien, aber nicht den Entzug von den Betriebsvereinbarungsparteien durch das Gesetz zugewiesenen Kompetenzen. Dass der Gesetzgeber von der Möglichkeit ausgegangen ist, dass Kollektivverträge und BV die gleichen Regelungsbereiche erfassen, ergibt sich nicht nur aus den teilweise überschneidenden Kompetenztatbeständen selbst, sondern mittelbar auch dadurch, dass er deren Konkurrenz durch das Günstigkeitsprinzip des § 3 ArbVG regelt.
3.5. § 3 ArbVG bestimmt ganz allgemein, dass Sondervereinbarungen in Betriebsvereinbarungen, sofern sie der KollV nicht ausschließt, nur gültig sind, soweit sie für den AN günstiger sind. Dabei sind jeweils die in sachlichem und rechtlichem Zusammenhang stehenden jenen Bestimmungen gegenüberzustellen (Gruppenvergleich).
Beim Vergleich ist nun unstrittig, nicht darauf abzustellen, ob der eine oder der andere AN eher größere potentielle Freiräume bei der Arbeitszeitgestaltung oder ein höheres Einkommen bevorzugt. Entscheidend ist, ob nach objektiven Kriterien für die erfassten AN die eine oder die andere Regelungsgruppe günstiger ist und daher die andere zur Gänze (zur Ablehnung der Rosinentheorie Reissner, aaO Rz 27; vgl auch 8 ObA 162/01h) verdrängt.
3.6. Für die Beurteilung der Günstigkeit wird regelmäßig auf den Zeitpunkt abgestellt, in dem sich die beiden verglichenen Rechtsquellen erstmals gegenüberstanden (Reissner in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 3 ArbVG Rz 24 mwN; RS0051060; mit Betonung des Zeitpunkts des Abschlusses der Vereinbarung RS0050915).
Ändern sich die einander gegenüberzustellenden Rechtsquellen, so wird davon ausgegangen, dass eine im Nachhinein durch einen günstigeren KollV betroffene Einzelvereinbarung oder BV nur verdrängt war, aber bei Änderung des KollV wieder aufleben kann (Strasser, aaO Rz 7 zu Einzelvereinbarung; Tomandl in Tomandl/Schrammel, Arbeitsrecht7 159 f; Mosler/Felten in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht2 Rz 11). Bei Regelungen, die bereits einen günstigeren KollV vorfinden, ist die Sichtweise unterschiedlich. Teilweise wird vertreten, dass diese auch nach Wegfall des KollV nicht wieder aufleben (Strasser, aaO Rz 7 allerdings ausdrücklich nur zu Einzelvereinbarung; unter Verweis auf Strasser allgemein etwa auch Mosler/Felten in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht5 § 3 Rz 11), teilweise wird aber auch von der Möglichkeit des Wiederauflebens ausgegangen (Tomandl aaO; Kietaibl Arbeitsrecht I 239 f). Kietaibl verweist dabei zutreffend darauf, dass gerade bei Wegfall eines günstigen KollV (Wechsel des Unternehmensgegenstands oder Betriebsübergang) einer gegenüber dem neuen KollV günstigeren Regelung wesentliche Schutzfunktionen zukommen können. Dies wird jedenfalls für Betriebsvereinbarungen zu beachten sein.
Hier kommt nun der BV aufgrund einer jüngeren gesetzlichen Regelung eine bestimmte Gestaltung des Gleitzeitmodells iSd § 4b AZG zu. Es ist kein Grund ersichtlich, warum § 3 ArbVG hier nicht bloß eine Verdrängung bewirken sollte. Die Regelungen einer abgeschlossenen BV können nach Änderung des KollV auch insofern maßgeblich werden.
3.7. Nach dem Antrag geht es auch um einen Vergleich des Kollektivvertragsmodells mit einem iSd § 4b Abs 4 AZG geschaffenen Gleitzeitmodell. Die Antragstellerin erachtet die strittige Bestimmung des KollV für nachteilig, weil die AZG-Novelle 2018 den AN ein erweitertes Selbsteinteilungsrecht bieten würde und die damit zwingend zu verbindende Möglichkeit, ganze Gleittage zu konsumieren, etwa den Genuss verlängerter Wochenenden erlaube. Der Anspruch auf Überstundenzuschlag könne den Nachteil des Kollektivvertragsmodells nicht kompensieren, weil kein Anspruch auf Überstundenleistung bestehe.
Die Antragsgegnerin wendet hingegen ein, die Erweiterung der Normalarbeitszeit bedeute eine Risikoverschiebung zu Lasten der AN und schränke deren Freizeit ein. Auch solle § 32c Abs 10 AZG den Vorwurf entkräften, durch die Änderung werde in bestehende Kollektivverträge eingegriffen und die Position der AN insb durch den Wegfall von Überstundenzuschlägen verschlechtert.
3.8. Eine Regelung wie in diesem KollV stellt sich nach der überwiegenden Ansicht als eine gegenüber einer Gleitzeitregelung nach § 4b AZG über bis zu zwölf Stunden getroffene Regelung günstigere Bestimmung dar (vgl ua Risak, ZAS 2019, 196 [197]; Pfeil in Auer-Mayer/Felten/Pfeil, AZG4 § 4b Rz 24; und Felten, Auswirkungen der AZG-Neuregelung auf bestehende Gleitzeitvereinbarungen, in Felten/Trost, Arbeitszeitrecht neu 67 [70]; Klein, DRdA 2019, 187; ders in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG5 § 12 Rz 4a; abl Schrank, RdW 11/2018, 715). 3.9. Dem schließt sich der OGH hier an. Betrachtet man die Übergangsbestimmung des § 32c Abs 10 AZG idF der AZG-Novelle 2018, wonach ua Regelungen in Kollektivverträgen – auf die § 4b AZG weder vor noch nach der Novelle Bezug nahm –, die für AN günstigere Bestimmungen vorsehen, durch die Novelle „nicht berührt“ werden, so ging es dem Gesetzgeber offensichtlich darum, die Einschätzung, was in der jeweiligen Branche an Beschäftigungsbedingungen insoweit gegenüber der allgemeinen Regelung angemessener ist, vorweg den Kollektivvertragsparteien zu überlassen. Auch in § 4b AZG wird der allgemeineren Einschätzung über die Eignung (Günstigkeit) einer Gleitzeitregelung generell der Vorrang eingeräumt (BV vor Einzelvereinbarung; hier auch über den gesetzlichen Inhalt hinausgehende Kollektivvertragsbestimmungen). Hier haben die Kollektivvertragspartner dem Entgeltvorteil weiter das überwiegende Gewicht eingeräumt. 465
Insoweit wird eine BV nach § 4b AZG verdrängt. Zusammenfassend ist Folgendes festzuhalten:
Die Kollektivvertragsparteien haben hier eigene Arbeitszeitregelungen und mit diesen verbundene Entgeltregelungen getroffen, die über die Regelungen des AZG hinausgingen und auch nach der Änderung des AZG aufrecht erhalten wurden und wirksam sind.
Die Kompetenzen von Kollektivvertragsparteien und Betriebsvereinbarungsparteien zur Schaffung von normativ auf den Arbeitsvertrag einwirkenden Regelungen sind sowohl im ArbVG als auch im AZG geregelt.
Diese Kompetenztatbestände des AZG schränken hier jene des ArbVG zur Regelung von Arbeitszeit und Entgelt durch KollV nicht ein.
Ohne ausdrückliche Ermächtigung kann aber auch der KollV nicht die im AZG den Betriebsvereinbarungsparteien eingeräumte Regelungskompetenz einschränken.
Bestehen Kollektivvertragsregelungen und Betriebsvereinbarungsregelungen zum gleichen Regelungsbereich, so wird deren Verhältnis zueinander durch das Günstigkeitsprinzip des § 3 ArbVG bestimmt.
Unter Beachtung der Wertungen der Übergangsbestimmungen des AZG sind die Bestimmungen des KollV günstiger als die einer BV nach § 4b AZG und gehen dieser vor.
Der Antrag ist, soweit er die Feststellung der Zulässigkeit der Erlassung von Betriebsvereinbarungen nach § 4b AZG umfasst, berechtigt, nicht aber soweit damit auch die Zulässigkeit der Festlegung einer zuschlagsfreien elften oder zwölften Stunde als Normalarbeitszeit entgegen den Regelungen des KollV festgestellt werden soll.
Dem Antrag war daher mit der aus dem Spruch ersichtlichen Maßgabe nur teilweise Folge zu geben.
Des einen Freud ist des anderen Leid. Daran erinnert im Anlassfall die „stehengelassene“ Kollektivvertragsbestimmung. Diese hat nach Meinung des OGH nunmehr weder rein historische Bedeutung noch obligatorisch wirkenden Programmcharakter. Vielmehr zeitigt sie erneut eine normative Rechtswirkung.
Zu diesem rechtlichen Ergebnis wäre es nicht gekommen, wenn die streitgegenständliche Bestimmung aus dem KollV zu jenem Zeitpunkt entfernt worden wäre, wo sie als Zulassungsnorm nicht mehr notwendig war. Durch das Stehenlassen hat sich für die AG-Seite das Risiko und für die AN-Seite die Chance verwirklicht, dass eine bereits vor der AZG-Novelle 2018 bestehende Kollektivvertragsbestimmung den zuschlagsfreien Zwölfstundentag zunichte macht.
Der Gerichtshof begründet seine Rechtsansicht zunächst überzeugend anhand der für kollektive Rechtsquellen geltenden Auslegungsregeln. Diesbezüglich merkt der OGH unter Verweis auf seine stRsp an, dass es in Ermangelung einer Nachprüfungsmöglichkeit irrelevant ist, was sich die Vertragsparteien bei der Aufrechterhaltung der Kollektivvertragsbestimmung gedacht haben. Der somit maßgebende Wortlaut ist klar: Es sollen zuschlagslose Arbeitsleistungen ausgeschlossen werden, welche die zehnte Arbeitsstunde überschreiten (vgl idZ auch Felten, Auswirkungen der AZG-Neuregelung auf bestehende Gleitzeitvereinbarungen, in Felten/Trost [Hrsg], Arbeitszeitrecht neu [2019] 70).
Im Anschluss daran geht der Gerichtshof auf die innerhalb der Lehre breit diskutierte Frage ein, ob der KollV überhaupt noch im Bereich der Gleitzeit regelungsbefugt ist. Dies bejaht der OGH nach umfassender Wiedergabe der Lehrmeinungen auf Grundlage des § 2 Abs Z´ 2 ArbVG (idS bereits Klein, Änderungen im Recht der Gleitzeit durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018, DRdA 2019, 186). Zu beachten ist allerdings, dass nach Meinung des Höchstgerichts diese Regelungsbefugnis ihr Ende in den Mitwirkungsbefugnissen des BR findet. Diese dürfen durch Regelungsinhalte des KollV nicht beschränkt werden.
ME heißt dies einerseits, dass die Einführung einer Gleitzeitvereinbarung bei Bestehen eines BR exklusiv der BV obliegt. (Sofern kein BR besteht, obliegt diese Exklusivität mE der Einzelvereinbarung. Dies belegt nicht nur der Wortlaut des § 4b Abs 2 AZG, sondern auch der Zweck, die Wahl des Arbeitszeitmodells der betrieblichen Ebene zu überlassen.) Andererseits kann aber auch das Ordnungsprinzip Mitwirkungsrechte beschränken. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn der KollV zweiseitig zwingend festlegen würde, dass die tägliche Normalarbeitszeit im Gleitzeitsystem die Zehn-Stunden-Grenze nicht überschreiten darf. Dazu passend weist das Höchstgericht darauf hin, dass durch die relativ zwingende Kollektivvertragsbestimmung des Anlassfalls die Kompetenzen der BV nicht eingeschränkt werden. Es macht daher einen Unterschied, ob die BV nicht mehr regelungsbefugt ist (Ordnungsprinzip) oder ein Regelungsinhalt aufgrund von Günstigkeitserwägungen nicht durchdringen kann. Im ersten Fall besteht keine Regelungsbefugnis, im zweiten Fall bleiben die Mitwirkungsbefugnisse erhalten, geschaffene Regelungsinhalte müssen aber in einen Günstigkeitsvergleich mit der übergeordneten Rechtsquelle treten.
Bejaht man die normative Regelungsbefugnis des KollV und schließt gleichzeitig die Anwendungsmöglichkeit des Ordnungsprinzips aus, so gelangt man zwingend (eine dispositive Rechtswirkung – sofern man deren Zulässigkeit überhaupt bejaht – würde im konkreten Zusammenhang keinen Sinn ergeben) zur Frage, ob eine maximal zehnstündige tägliche Normalarbeitszeit mit der theoretischen Möglichkeit auf zusätzliche Überstundenzuschläge oder eine tägliche Normalarbeitszeit von maximal zwölf Stunden iVm ganztägigen Gleitmöglichkeiten günstiger ist. Der OGH beantwortet diese Frage ohne konkrete Durchführung des Günstigkeitsvergleichs und unter 466 Bezugnahme auf die mehrheitliche Lehrmeinung dahingehend, dass die Kollektivvertragsbestimmung jedenfalls günstiger ist. Anzumerken ist, dass sich auch innerhalb der zitierten Lehrmeinungen (Pfeil in Auer-Mayer/Felten/Pfeil, AZG4 [2019] § 4b Rz 24; Felten, Auswirkungen der AZG-Neuregelung auf bestehende Gleitzeitvereinbarungen, in Felten/Trost, Arbeitszeitrecht neu 70; Klein, Änderungen im Recht der Gleitzeit durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018, DRdA 2019, 187; ders in Gasteiger/Heilegger/Klein, AZG5 § 12 Rz 4a) keine konkrete Durchführung des Günstigkeitsvergleichs finden lässt.
Bevor man sich diesem Günstigkeitsvergleich widmet, sollen noch kurz die Rahmenbedingungen erläutert werden, auf die sich die mehrheitliche Lehre und Rsp in Hinblick auf die Durchführung desselben geeinigt haben (ausführlich hierzu Mosing, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht [2018] 31 ff). Nach überwiegender Meinung muss für das Durchdringen der rangniedrigeren Rechtsquelle der abweichende Regelungsinhalt für jeden betroffenen AN günstiger sein. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Günstigkeitsvergleich ist jener, an dem sich die Rechtsquellen erstmalig gegenüberstehen. Der Vergleichszeitraum ist einzelfallabhängig und muss daher passend für den zu vergleichenden Regelungsinhalt sein. Innerhalb dieses Zeitraums muss nicht zu jedem Zeitpunkt eine günstigere Regelung vorliegen. Zumindest im Durchschnitt muss aber der abweichende Regelungsinhalt günstiger sein. Die Beurteilung der Günstigkeit hat vom Standpunkt eines objektiven Betrachters zu erfolgen, der die konkrete Lebenssituation des betroffenen AN zu berücksichtigen hat. Die Günstigkeitsprüfung ist hierbei in Form eines Exante-Vergleichs durchzuführen. Ausschlaggebend für das Vorliegen einer günstigeren Regelung ist somit, dass diese in einer vorausschauenden Betrachtung vorteilhafter erscheint, irrelevant ist, ob sie es im Nachhinein tatsächlich war.
Bei dem gegenständlichen Günstigkeitsvergleich ist zunächst der Vergleichszeitraum zu definieren. Hier wird im Regelfall die jeweilige Gleitzeitperiode repräsentativ sein. Innerhalb dieser ist das Gleitverhalten des DN genauso wie der Überstundenanfall bei Überschreitung einer zehnstündigen Normalarbeitszeit einer vorausschauenden Betrachtung zu unterziehen. Bei der durchzuführenden Ex-ante- Betrachtung wird oftmals ein Blick auf vergangene Gleitzeitperioden hilfreich sein; zumindest dann, wenn sich das zu bewältigende Arbeitspensum voraussichtlich nicht verändern wird. Der Grund hierfür liegt darin, dass in diesen Konstellationen der Rückgriff auf die Vergangenheit noch den zuverlässigsten Blick in die Zukunft ermöglicht. Allein diese zurückschauende Betrachtung bei voraussichtlich gleichem Arbeitspensum würde wohl branchenweit AN zutage bringen, die eine zehnstündige Normalarbeitszeit kein einziges Mal oder zumindest nur sehr selten innerhalb einer Gleitzeitperiode überschreiten. Dies mag darin liegen, dass der AN nicht länger arbeiten oder der AG Überstundenzuschläge vermeiden will. Unabhängig von den Beweggründen wäre für diese AN die Möglichkeit einer täglichen Normalarbeitszeit von zwölf Stunden iVm mit ganztägigen Gleitmöglichkeiten jedenfalls günstiger. Sie können ihr voraussichtlich gleichbleibendes Arbeitspensum noch flexibler innerhalb der Rahmenvorgaben der Gleitzeitvereinbarung verteilen und haben zusätzlich die Möglichkeit, längere Freizeitblöcke zu konsumieren. Dies führt zu einer noch besseren Abstimmungsmöglichkeit der Work-Life-Balance, Überstunden würden mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht anfallen. ME kann daher dem OGH nicht gefolgt werden, dass die Kollektivvertragsregelung jedenfalls für alle betroffenen AN günstiger ist. Vielmehr ist die Arbeitszeitgestaltung des Einzelfalls ausschlaggebend dafür, ob eine günstigere oder ungünstigere Regelung vorliegt. Dieser Umstand hätte mE dem Höchstgericht auch die Möglichkeit eröffnet, den Feststellungsantrag abzuweisen. Für ein Feststellungsverfahren nach § 54 Abs 2 ASGG eignen sich nämlich nur klare Sachverhalte, aus denen eindeutige Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Bei Sachverhalten, die nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden sind, ist dies idR nicht der Fall (vgl hierzu Gamerith, Die besonderen Feststellungsverfahren nach § 54 ASGG, 312; Neumayr in Neumayr/Reissner [Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht Bd 23 [2018] § 54 ASGG Rz 25).
Losgelöst vom gegenständlichen Feststellungsantrag ist anzumerken, dass der Ausgang von zukünftigen Rechtsstreitigkeiten maßgeblich durch Kompensationen beeinflusst werden kann, die der AG zusätzlich gewährt. So stehen etwa ganze „Gleitwochen“, zusätzliche bezahlte Pausen und mE auch spezielle Erholungsmöglichkeiten (betriebseigenes Fitnessstudio, Massagen etc) in einem sachlichen Zusammenhang, der eine Berücksichtigung im Rahmen des Günstigkeitsvergleichs erlaubt (zum Begriffsverständnis des rechtlichen und sachlichen Zusammenhangs iSd § 3 Abs 2 ArbVG vgl Mosing, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht 47 ff). Der Grund hierfür liegt darin, dass die streitgegenständliche Kollektivvertragsbestimmung in ihrer Zwecksetzung eine Entlastung des AN verfolgt. Kompensationen der beschriebenen Art können dann dazu führen, dass trotz einer möglichen täglichen Normalarbeitszeit von zwölf Stunden ein günstigerer Regelungsinhalt auf betrieblicher Ebene vorliegt.
Quasi im Vorbeigehen löst der OGH eine äußerst interessante, aber noch wenig behandelte Rechtsfrage. Sie beschäftigt sich damit, was mit dem ungünstigeren rangniedrigeren Regelungsinhalt geschieht. Möglich wäre eine Nichtigkeit oder eine temporäre Verdrängung. Letztere würde dazu führen, dass der rangniedrigere Regelungsinhalt wieder auflebt, wenn der ranghöhere Regelungsinhalt wegfällt. Das Höchstgericht entscheidet sich unter Anführung diverser Lehrmeinungen für die letzte Ansicht; allerdings ohne rechtsdogmatische Begründung.
Um das vorliegende Rechtsproblem abschließend und nicht nur ab der Kollektivvertragsebene zu lösen, ist zunächst relativ zwingendes Gesetzesrecht zu betrachten (ausführlich hierzu Mosing, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht 384 ff).467 Eine Nichtigkeit wegen Gesetzeswidrigkeit tritt ein, wenn sie in der Verbotsnorm ausdrücklich angeordnet wird oder sich aus dem Normzweck ergibt vgl hierzu etwa Gschnitzer in Klang (Hrsg), ABGB IV2 (1968) 179 f; Krejci in Rummel/Lukas (Hrsg), ABGB4 (2014) § 879 Rz 21 ff; Kietaibl/Rebhahn in Neumayr/Reissner (Hrsg), Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht3 (2018) § 879 ABGB Rz 7; OGH 4 Ob 12/63 SZ 36/78; OGH8 Ob 58/69 SZ 42/49; OGH6 Ob 765/81 EvBl 1982/112; OGH6 Ob 553/92 EvBl 1992/190 = SZ 65/75; OGH9 ObA 80/00f JBl 2000, 738 = SZ 73/65; OGH 2.7.2015, 7 Ob 73/15h.
Im Regelfall ordnen arbeitsrechtliche Gesetzesbestimmungen, die DN einen Rechtsanspruch einräumen, nicht ausdrücklich eine Nichtigkeit an. Es kommt somit darauf an, ob der Normzweck eine solche gebietet. Bei für den Günstigkeitsvergleich relevanten Regelungsgebieten handelt es sich immer um relativ zwingendes Gesetzesrecht. Diesem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Rechtsposition des AN nicht zu seinem Nachteil durch eine rangniedrigere Rechtsquelle verändert werden darf. Eine solche Absicht manifestiert sich häufig in der ausdrücklichen Gesetzesformulierung, dass die jeweiligen Rechte weder aufgehoben noch beschränkt werden dürfen (vgl etwa § 40 AngG, § 1164 Abs 1 ABGB, § 16 AVRAG). Daher ist – unabhängig von einem weiterreichenden Normzweck – Teil desselben, dass der jeweilige Rechtsanspruch nicht beschränkt werden darf. Ein ungünstigeres Abweichen beschneidet in unzulässiger Weise die gesetzlich eingeräumte Rechtsposition des AN. Der jeweilige Rechtsanspruch ist dann beschränkt oder überhaupt aufgehoben. Es liegt in solchen Fällen daher eine Verletzung des Normzwecks vor.
Dieser Verletzung kann sowohl mit einer Nichtigkeit als auch mit einer temporären Verdrängung begegnet werden. Der Grund hierfür liegt darin, dass in beiden Fällen die übergeordnete Regelung für die Dauer ihrer Geltung nicht in ihrer Wirkungsweise beeinträchtigt wird. Einer temporären Verdrängung wäre daher im Zuge dieser reduzierten Betrachtung als gelinderes Eingriffsmittel der Vorzug zu geben. (Relativ zwingendes) Arbeitsrecht lässt sich aber nicht auf diese Schutzfunktion reduzieren. Vielmehr ist es immer auch um Rechtssicherheit bestrebt. Dies zeigt sich vor allem in kurzen Verfalls- bzw Verjährungsfristen (vgl etwa § 1162d ABGB, § 34 AngG, § 38 TAG, § 38 LArbG, § 6 DHG), die eine schnelle Klärung der Rechtslage bezwecken und gleichzeitig eine lang andauernde Rechtsunsicherheit vermeiden wollen. Eine temporäre Verdrängung würde einem solchen Bestreben zuwiderlaufen, weil sie dazu führen kann, dass ein rangniedrigerer Regelungsinhalt unter Umständen nach vielen Jahren wiederaufleben kann. Dies spricht mE dafür, einer Nichtigkeit den Vorzug zu geben.
Das Rechtsverhältnis zwischen KollV (Satzung, Mindestlohntarif, Lehrlingsentschädigung) und Betriebsbzw Einzelvereinbarung hat eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erfahren. Für dieses beansprucht die Gesetzesanordnung Gültigkeit, dass abweichende Sondervereinbarungen nur gelten, soweit sie für den AN günstiger sind (vgl §§ 3 Abs 1 Satz 2, 19 Abs 1 Satz 2, 24 Abs 2 Satz 2, 28 Abs 2 Satz 2, 31 Abs 3 Satz 2 ArbVG). ME ist wie bei einem Günstigkeitsvergleich mit einer relativ zwingenden Gesetzesregelung, die einen Anspruch auch inhaltlich regelt, danach zu fragen, ob der Normzweck der nur den Günstigkeitsvergleich regelnden Gesetzesbestimmungen eine Nichtigkeit erfordert oder nicht. Ein Unterschied besteht insofern, als in einem Fall die Gesetzesebene selbst den Anspruch und sein Verhältnis zu anderen Rechtsquellen relativ zwingend statuiert, während sie im vorliegenden Fall nur das Verhältnis der Rechtsquellen zueinander regelt; der Anspruch selbst findet sich auf einer rangniedrigeren Rechtsquellenebene. Die dahinterstehende Rechtsfrage ist aber die gleiche. Nämlich die, ob ein Verstoß gegen eine relativ zwingende Normwirkung eine Nichtigkeit erfordert. Bejaht man dies bei einem Verstoß gegen relativ zwingendes Gesetzesrecht, so hat dies auch dann zu gelten, wenn auf darunterliegenden Rechtsquellenebenen gegen das Günstigkeitsprinzip verstoßen wird. Die dadurch entstehende Schutzlücke hat der Gesetzgeber ohnehin erkannt und für die meisten Anlassfälle mithilfe der Nachwirkung geschlossen.
Gerade der Wortlaut des § 13 ArbVG kann aber auf den ersten Blick ein erneuter Nährboden für die Gegenmeinung sein. Nach diesem kann die Nachwirkung ua nur durch eine neue Betriebs- oder Einzelvereinbarung beseitigt werden (vgl auch die §§ 24 Abs 4, 28 Abs 3 iVm 24 Abs 4 und 32 Abs 3 ArbVG). Dadurch entsteht Argumentationsspielraum dahingehend, dass die alte und ungünstigere Vereinbarung noch gültig, aber durch die Nachwirkung überlagert ist. Eine genauere Betrachtung zeitigt allerdings ein anderes Ergebnis, das erneut in Richtung einer dauerhaften Beseitigung deutet. Die nunmehrige Formulierung des § 13 fand sich wortgleich bereits in § 13 KVG und wurde unverändert in das ArbVG übernommen. Zu Zeiten des KVG wurden die normativen Regelungsinhalte des KollV Bestandteil der Dienstverträge (§ 9 Abs 1 KVG; vgl hierzu auch ErläutRV 285 BlgNR 5. GP 12 f und Machek, Der Kollektivvertrag [1947] 15 ff). Dementsprechend war es nicht denkbar, dass die Nachwirkung eine ungünstigere Einzelvereinbarung überlagern konnte. Die ungünstigere Einzelvereinbarung wurde nämlich durch den Eingang der Kollektivvertragsbestimmung in den Einzelvertrag beseitigt. Für eine Beibehaltung dieses Rechtsverständnisses (Beseitigung und nicht Verdrängung des ungünstigeren Regelungsinhalts) sprechen auch die Materialien (ErläutRV 840 BlgNR 13. GP 60), wenn sie ausführen, dass die Regelung des § 13 der bisherigen Rechtslage (§ 13 KVG) entspricht.
Dies führt noch zur abschließenden Rechtsfrage, wie in jenen Fällen zu verfahren ist, wo ein abweichender Regelungsinhalt für manche AN günstiger, für andere aber ungünstiger ist. Hier wird man sich in den meisten Fällen mit einer Teilnichtigkeit behelfen können (ausführlich hierzu Mosing, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht 385 f). Die Nichtigkeit findet dann dergestalt Anwendung, dass eine Regelung nicht generell bezüglich ihres Inhalts, sondern nur hinsichtlich eines bestimmten Adressatenkreises teilnichtig wird; nämlich jenen betreffend, für den ein ungünstigerer Regelungsinhalt vorliegt. 468