46Unfallversicherungsleistungen bei Tod des Lebensretters im EUAusland*
Unfallversicherungsleistungen bei Tod des Lebensretters im EUAusland*
Das für die Eröffnung des persönlichen Anwendungsbereichs nach Art 2 VO 883/2004 notwendige grenzüberschreitende Element ist nicht erfüllt, weil es sich bei dem einzigen Umstand, dem Unfallort im EU-Ausland, nur um eine faktische, aber keine rechtliche Beziehung handelt.
Aus dem in Art 21 AEUV verankerten Freizügigkeitsrecht können keine Unfallversicherungsleistungen hergeleitet werden, weil Österreich nicht verpflichtet ist, Unfallversicherungsschutz für Unfälle bei Lebensrettung auch für Unfälle im EU-Ausland vorzusehen.
Die Erstkl ist die Ehegattin, die Zweitkl die Tochter des verstorbenen Ing. A*. Dieser kam während einer Gruppenreise nach Portugal am 9.4.2018 an der portugiesischen Küste beim Versuch ums Leben, eine andere Reiseteilnehmerin aus einer lebensbedrohlichen Situation zu retten. Der Verstorbene war österreichischer Staatsbürger und in der österreichischen gesetzlichen UV versichert. Die Kl sind österreichische Staatsbürgerinnen mit Wohnsitz in Österreich. Die Bekl sprach gegenüber den Kl jeweils mit Bescheid vom 26.6.2018 aus, dass der Unfall des Versicherten nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde und kein Anspruch auf Leistungen aus der UV bestehe. [...]
Rechtliche Beurteilung
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3. Zur VO 883/2004
3.1 Die Anwendung der VO 883/2004 erfordert die Erfüllung des in Art 2 und 3 der VO 883/2004 geregelten persönlichen und sachlichen Anwendungsbereichs. Darüber hinaus ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts erforderlich. Dies kommt in der Formulierung des Art 2 Abs 1 und 2 der VO 883/2004 zum Ausdruck, wonach die Verordnung für Personen gilt, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten (Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 2 VO 883/2004 Rz 3, 6; Spiegel in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 2 VO 883/2004 Rz 3; vgl EuGH 11.10.2001, Khalil, C-95/99 bis C-98/99 und C-180/99Rz 68 f zum insofern gleich lautenden Art 2 Abs 1 VO 1408/71; 10 ObS 51/17y).
3.2. Der Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist demnach nicht eröffnet, wenn ein Sachverhalt mit keinem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist (EuGH 22.9.1992, Petit, C-153/91 Rz 10).
3.3. Der als Grundvoraussetzung für die Anwendung des EU-Rechts zu fordernde Unionsbezug setzt daher voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen; diese Umstände sind in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen zu sehen (Spiegel in Fuchs, Art 2 VO 883/2004 Rz 15).
4.1. Derartige, ein grenzüberschreitendes Element begründende Umstände liegen im vorliegenden Fall nicht vor.
[...]
4.3. Der einzige auf einen anderen Mitgliedstaat Bezug habende Umstand ist der Ort des Unfalls, nämlich Portugal. Darin liegt hier aber bloß eine faktische Beziehung zum Mitgliedstaat Portugal, behaupten die Kl doch gar nicht, dass dadurch Ansprüche nach portugiesischem Sozialrecht begründet wären, derer sie mangels Koordinierung verlustig gingen. Nach § 176 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 ASVG kommt diesem Ort des Geschehens ohne Bezugnahme auf das Unionsrecht auch keine leistungsbegründende Wirkung zu. Insofern unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt etwa von einem Fall, in dem ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats mit Wohnsitz im Inland auf dem Gebiet Österreichs oder eines Nachbarstaats der Republik Österreich bei einer (versuchten) Lebensrettung einen Unfall erleidet (dazu Müller in SV-Komm § 176 ASVG Rz 77).
4.4. In der hier gegebenen Konstellation vermag der Umstand, dass sich der Unfall in Portugal zugetragen hat, daher den für die Anwendung der VO 883/2004 ausreichenden grenzüberschreitenden Bezug nicht herzustellen. Der Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist daher im vorliegenden Fall nicht eröffnet. [...]
5. Zum Primärrecht
Die Revisionswerberinnen rügen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, wonach ein einem Arbeitsunfall gleichgestellter Unfall gem § 176 Abs 1 Z 2 iVm Abs 4 ASVG nur bei einem Unfall in Österreich oder einem Nachbarstaat Österreichs vorliegt, als unzulässige Einschränkung des Freizügigkeitsrechts des Art 21 AEUV.
6.1. Gem Art 21 Abs 1 AEUV (ex-Art 18 Abs 1 EGV) hat jeder Unionsbürger das von einer wirtschaftlichen Betätigung unabhängige [...] Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
6.2. Das Freizügigkeitsrecht gem Art 21 AEUV umfasst das Recht, zum Zweck der Einreise aus einem Mitgliedstaat auszureisen, in einen Mitgliedstaat einzureisen sowie das Recht, sich innerhalb eines Mitgliedstaats frei zu bewegen, was sowohl das Recht, in einem Mitgliedstaat umherzureisen, als auch das Recht, dort Aufenthalt zu nehmen, einschließt. [...]
7.1. In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene bestimmt das Recht eines jeden Mitgliedstaats, 475 unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf Leistung gegeben ist. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten (EuGH 12.7.2001, Rs C-157/99, Smits und Peerbooms, Rz 45 f; 28.4.1998, Rs C-158/96, Kohll, Rz 17, 19 je mwN; Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht7 Art 45-48 AEUV Rz 5, 25).
7.2. So sind die Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht etwa nicht verpflichtet, ein System zur Förderung der Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat oder im Ausland vorzusehen (EuGH 26.2.2015, Rs C-359/13, Martens, Rz 24; 24.10.2013, Rs C-220/12, Thiele-Meneses, Rz 25; vgl 18.7.2013, C-523/11, C-585/11, Prinz und Seeberger, Rz 30; 23.10.2007, Rs C-11/06, C-12/06, Morgan und Bucher, Rz 28). Nur dann, wenn ein Mitgliedstaat ein solches System vorsieht, muss er es derart ausgestalten, dass dadurch das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht in ungerechtfertigter Weise beschränkt wird (EuGH ebenda). Dies gilt sinngemäß etwa auch für die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, eine Entschädigung ziviler Kriegsopfer vorzusehen (vgl EuGH 26.10.2006, Rs C-192/05, Tas-Hagen, Rz 21 f).
7.3. Aus diesem Grund stellt eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art 21 Abs 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Rs Martens, Rz 25; Thiele Meneses, Rz 22; Prinz und Seeberger, Rz 27; Morgan und Bucher, Rz 25; 18.7.2006, Rs C-406/04, De Cuyper, Rz 39 ua).
7.4. Dies begründet der EuGH in stRsp damit, dass die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen ihre volle Wirkung nicht entfalten könnten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die ihn allein deshalb ungünstiger stellt, weil er von den Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (Rs Martens, Rz 26; Thiele Meneses, Rz 23; Prinz und Seeberger, Rz 28; Morgan und Bucher, Rz 26; vgl bereits 11.7.2002, Rs C-224/98, D‘Hoop, Rz 31 ua).
7.5. In der dargestellten Rsp des EuGH waren jeweils nationale Vorschriften zu beurteilen, die den Bezug von Leistungen an einen – aufrechten oder während eines bestimmten Zeitraums erforderlichen – ständigen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland (vgl Rs Martens, Rz 5, 31; Thiele Meneses, Rz 5, 27; Prinz und Seeberger, Rz 5, 31; Tas-Hagen, Rz 32; De Cuyper, Rz 40 f [hier aber gerechtfertigt]) oder an die Absolvierung bestimmter Ausbildungsschritte im Inland knüpften (vgl Rs D‘Hoop, Rz 34 [Schulbildung im Inland]; Morgan und Bucher, Rz 26 [einjähriger Besuch einer inländischen Ausbildungsstätte]). [...]
8.1. Im vorliegenden Fall ist nicht zu beurteilen, ob die Versicherungsdeckung für einen Unfall bei der Lebensrettung gemessen am Unionsrecht von einem Inlandsaufenthalt des Retters abhängig gemacht werden darf.
8.2. Die Revision leitet aus dem Unionsrecht vielmehr ab, dass Österreich verpflichtet sei, Unfallversicherungsschutz für Unfälle bei der Lebensrettung auch für Unfälle im EU-Ausland vorzusehen. Eine derartige Verpflichtung ist dem Unionsrecht aber nicht zu entnehmen (s oben Pkt 7.2).
8.3. Die (ungeschriebene) Einschränkung des Versicherungsfalls gem § 176 Abs 1 Z 2 ASVG auf Unfälle im Inland in einem Fall wie dem vorliegenden begründet daher nach der Rsp des EuGH noch keine Verletzung des Freizügigkeitsrechts.
8.4. Da aus dem Unionsrecht keine Verpflichtung abzuleiten ist, auch solche Lebensrettungsunfälle in den Versicherungsschutz einzubeziehen, die sich auf dem Gebiet anderer Mitgliedstaaten ereigneten, kann auch daraus, dass ein derartiger Versicherungsschutz für Unfälle auf dem Gebiet der Nachbarstaaten vorgesehen ist (§ 176 Abs 4 ASVG), keine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts abgeleitet werden. [...]
10. Aufgrund der umfangreichen Rsp des EuGH im Zusammenhang mit der (nicht gebotenen) Harmonisierung der nationalen Sozialversicherungssysteme ist die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht erforderlich. 476