Arbeits- und Sozialrecht in Corona-Zeiten – deutsche Erfahrungen

WOLFGANGDÄUBLER (BREMEN)
Die Corona-Pandemie traf das Arbeits- und Sozialrecht ziemlich unvorbereitet. Zwar hatte es im Jahre 2009 anlässlich der Schweinegrippe einige Überlegungen im Schrifttum gegeben,* doch waren diese weder im akademischen Bereich noch in der Rechtspraxis wirklich zur Kenntnis genommen worden. Als sich in der ersten Märzhälfte 2020 die Infektionszahlen dramatisch erhöhten, bestand dringender Handlungsbedarf, der nicht nur mit dem bestehenden rechtlichen Instrumentarium bewältigt werden konnte.
  1. Die Herausforderung

  2. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz

  3. Home-Office

  4. Arbeitnehmer in Quarantäne und als „Verdachtsfall“

  5. Kurzarbeit

    1. Das traditionelle Modell

    2. Erste Verbesserungen während der Pandemie

    3. Weitere Verbesserungen durch das Sozialschutz-Paket II

    4. Betriebliche Ergänzungen

    5. Aufstockung auf Hartz IV

    6. Situation auf dem Arbeitsmarkt

  6. Digitale Betriebsverfassung?

  7. Betriebe mit Arbeitskräftebedarf

  8. Fazit

1.
Die Herausforderung

Im Vordergrund stand der Schutz vor Ansteckung. Das Arbeitsschutzrecht war hier gefordert. In breitem Umfang wurde außerdem Arbeit ins Home- Office verlegt, wo die „Abstandsregel“ ohne Bedeutung war und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel überflüssig wurde. Allerdings gab (und gibt) es so gut wie keine ausdrücklichen gesetzlichen Regeln über die Arbeit zu Hause.

Wer sich mit Corona ansteckte, hatte die normalen Rechte eines erkrankten AN. Doch was geschah mit Personen, die als Angehörige für zwei Wochen in Quarantäne geschickt wurden? Und wie war ein Fall von Corona-Verdacht zu behandeln, der sich später als unbegründet herausstellte?

Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie waren enorm. Auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) wurden bestimmte Einrichtungen geschlossen: Hotels und Gaststätten sowie Ladengeschäfte mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften, Drogerien und Apotheken. Schulen und Kindertagesstätten (Kitas) wurden ebenfalls dicht gemacht, kulturelle Veranstaltungen verboten (was die Künstler wie die Organisatoren von einem Tag auf den anderen ohne Aufträge ließ). Auch viele andere Betriebe konnten gar nicht oder nicht voll weiterarbeiten. Die Gründe waren vielfältig: Die Arbeit war ortsgebunden, so dass die Verlegung nach Hause nicht in Betracht kam; gleichzeitig ließen sich aber das Abstandsgebot und andere Schutzmaßnahmen nicht realisieren. Bestimmte Arbeitskräfte standen nicht zur Verfügung, weil sie zu den „Risikogruppen“ gehörten und ihnen deshalb die Fahrt zum Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zuzumuten war. Häufiger trat der Fall auf, dass sich Eltern wegen der geschlossenen Kitas und Schulen um ihre Kinder kümmern 485 mussten und deshalb zur eigentlichen Arbeit nicht imstande waren. Vorprodukte wurden nicht angeliefert, weil die häufig über den nationalen Bereich hinausreichende Produktionskette irgendwo unterbrochen war. Und schließlich stürzte die Nachfrage ab: Wer kauft sich zu Pandemiezeiten ein neues Auto oder einen schöneren Fernseher? In den meisten Fällen kamen und kommen AN mit der Kurzarbeit über die Runden; sie in Anspruch zu nehmen, wurde vom Gesetzgeber erleichtert.

Wie kann die Betriebsverfassung funktionieren, wenn die Betriebsratsmitglieder im Home-Office sitzen oder gar in Quarantäne sind? Reicht für Beratungen und Beschlüsse auch eine Telefon- oder eine Videokonferenz?

Schließlich gab es Bereiche mit erhöhtem Arbeitskräftebedarf. Die Spargelernte schien in Gefahr, weil die osteuropäischen Saisonarbeiter nicht kommen durften. Und schlimmer: Was würde geschehen, wenn die Krankenhäuser mit Corona-Erkrankten überfüllt wären und sich zudem noch Pflegekräfte anstecken würden? Auch hier sah der Gesetzgeber Handlungsbedarf.

Im Folgenden sollen die gefundenen und die nicht gefundenen Lösungen kurz skizziert werden. Wer tiefer einsteigen möchte, sei auf die Literatur verwiesen.*

2.
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz

Das Arbeitsschutzrecht (§§ 3 Abs 1, 4 Nr 1 ArbSchG) und § 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verpflichten den AG, Gesundheitsgefahren für die Beschäftigten im Rahmen des Möglichen zu minimieren. Spezifische Regeln für die Corona-Pandemie fehlen. Dies führte dazu, dass auf der Grundlage ärztlicher Empfehlungen und des gesunden Menschenverstands bestimmte Regeln praktiziert wurden, von denen das Abstandsgebot (1,5 bis 2 m), das regelmäßige Lüften geschlossener Räume, das häufige Waschen und Desinfizieren der Hände sowie das Tragen von Masken in Läden und anderen Kontaktorten die wohl wichtigsten waren (und sind). Wer in Krankenhäusern und Labors mit Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen zu tun hat, unterliegt der Biostoff-VO,* die besondere Schutzmaßnahmen vorsieht.

Welche Maßnahmen konkret ergriffen werden, hängt von den jeweiligen betrieblichen Verhältnissen ab. Dem BR steht insoweit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG zu, das sich auf die Ausfüllung normativer Vorgaben im Betrieb bezieht. Von praktischer Bedeutung ist dies insb in den Fällen, in denen der Betrieb zunächst geschlossen wurde und die Beschäftigten nunmehr zurückkehren sollen, wobei der AG die „Lockerungen“ auch auf den Arbeitsschutz bezieht.

3.
Home-Office

Im deutschen Arbeitsrecht ist das Home-Office bisher eher ein Fremdkörper. Der AN kann nur in absoluten Sondersituationen verlangen, seine Arbeit zu Hause erledigen zu dürfen,* umgekehrt darf auch der AG niemanden gegen seinen Willen nach Hause „versetzen“.* Im Rahmen der Corona-Krise hat dem Vernehmen nach beides keine Rolle gespielt; die Fortsetzung der Arbeit in der eigenen Wohnung des AN erfolgte typischerweise im beiderseitigen Einvernehmen.

So wenig die Grundentscheidung als solche Probleme machte – viele Einzelfragen sind ungeklärt. Die Arbeitsstätten-VO findet nur dann Anwendung, wenn ein „Telearbeitsplatz“ iSd § 2 Abs 7 der VO vorliegt. Dies ist lediglich dann der Fall, wenn der AG das gesamte Büro bis hin zu Tisch und Stuhl aus eigenen Mitteln eingerichtet hat, wozu ihn niemand verpflichtet. Das „normale“ Home- Office bleibt daher ausgeklammert, doch findet das ArbSchG genauso wie das Arbeitszeitrecht Anwendung. Nur: Seine Einhaltung zu kontrollieren, ist für die zuständige Behörde schon im Betrieb ein schwer lösbares Problem; in den Wohnungen wird es zur „mission impossible“. Daneben gibt es eine Reihe regelungsbedürftiger Fragen, über die in Zeiten der Pandemie nur relativ wenig gesprochen wird.

  1. Welchen Umfang hat die Arbeit in der eigenen Wohnung? Wann muss der Einzelne erreichbar sein? Unter welchen Voraussetzungen kann seine Anwesenheit im Betrieb verlangt werden?

  2. Wie muss das Home-Office ausgestattet sein? Wer beschafft Büromaterial, wer bezahlt die Telefongespräche?

  3. Kann der AN dafür, dass er einen Teil seiner Wohnung für dienstliche Zwecke zur Verfügung stellt, ein Entgelt verlangen? Setzt er seinen Privatwagen für die Erledigung betrieblicher Aufgaben ein, bekommt er ein Kilometergeld. Muss hier nicht Vergleichbares gelten?

  4. Was passiert, wenn Arbeitsgeräte durch Familienangehörige oder Besucher beschädigt werden?

  5. Wie weit geht der Unfallversicherungsschutz? Wer sein Home-Office im Dachgeschoss hat und sich aus der einen Stock tiefer liegenden Küche etwas zum Trinken holen will, ist dabei nicht versichert. Es handele sich um „eigenwirtschaftliche Tätigkeit“.* In Anknüpfung an diese Entscheidung wird auch der Toilettengang als „nicht betriebsbedingt“ aus dem Unfallversicherungsschutz ausgeklammert.* Die Lücken der gesetzlichen UV können nur durch eine zusätzliche private Versicherung geschlossen werden. 486 Die Verlegung der Arbeit in die Wohnung stellt eine „Versetzung“ iSd § 95 Abs 3 BetrVG dar, was dem BR unter bestimmten Voraussetzungen nach § 99 Abs 2 BetrVG ein Zustimmungsverweigerungsrecht gibt. Im Rahmen der Corona-Pandemie dient der Rückgriff auf das Home-Office allerdings auch dem präventiven Gesundheitsschutz, so dass dem BR nach § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht zukommt.

4.
Arbeitnehmer in Quarantäne und als „Verdachtsfall“

„Quarantäne“ bedeutet nach § 30 Abs 1 des IfSG* „Absonderung“ in einem Krankenhaus oder an einem anderen geeigneten Ort. In der Regel wird sie zur Schonung von Krankenhauskapazitäten in der Wohnung des Betroffenen durchgeführt. Lediglich bei behandlungsbedürftig Erkrankten ist es anders.* Die Gesundheitsbehörde bestimmt, welche Kontakte weiterhin möglich sein sollen und wie die Ernährung sichergestellt wird. Die Quarantäne wird insb gegen Personen verhängt, die als Familienangehörige oder ArbeitskollegInnen mit einem Infizierten in engem Kontakt gestanden haben. Sie dauert im Regelfall 14 Tage. In dieser Zeit erhält der AN bis zur Höchstdauer von sechs Wochen sein regelmäßiges Entgelt weiter; der AG zahlt es aus, kann es aber nach § 56 IfSG von der Gesundheitsbehörde ersetzt verlangen. Dauert die Quarantäne ausnahmsweise länger, erhält der Betroffene direkt von der Gesundheitsverwaltung eine Zahlung, die dem Krankengeld entspricht.

Insb in der Anfangszeit der Pandemie wurde von zahlreichen Fällen berichtet, in denen AG einen AN „nach Hause und zum Arzt“ geschickt haben, weil Anhaltspunkte für eine Corona-Erkrankung wie trockener Husten und Fieber bestanden und andere vor Ansteckung bewahrt werden sollten. Bis zur Klärung des Verdachts lag in solchen Fällen Annahmeverzug des AG nach § 615 Satz 1 BGB vor, so dass das Entgelt fortbezahlt werden musste. Daneben gab es Fälle, in denen der AN selbst den Verdacht hatte, erkrankt zu sein und deshalb von sich aus den Arzt aufsuchte. Erwies sich die Vermutung als haltlos, blieb für die Zeit der Unsicherheit dennoch der Entgeltanspruch erhalten, weil ein „persönliches Leistungshindernis“ nach § 616 BGB vorlag. Nur dann, wenn der Verdacht völlig aus der Luft gegriffen war, würde anderes gelten. Um die Ärzte zu entlasten, gab es bis 31.5.2020 die Möglichkeit einer telefonischen Krankschreibung; anders als sonst wurde keine persönliche Vorstellung beim Arzt mehr verlangt.*

5.

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden für AN dadurch abgefedert, dass unter erleichterten Bedingungen für die ausfallende Arbeitszeit Kurzarbeitergeld bezogen werden kann. Voraussetzung ist allerdings immer, dass es sich um einen vorübergehenden Arbeitsmangel handelt.

5.1.
Das traditionelle Modell

Die herkömmlichen Kurzarbeitsregeln sehen vor, dass der einzelne AN für die ausfallende und deshalb nicht mehr bezahlte Arbeitszeit Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 % der bisherigen Nettovergütung erhält.* Hat er mindestens ein Kind zu versorgen, erhöht sich die Leistung auf 67 %. Voraussetzung ist, dass die Arbeitszeit effektiv auf das noch verbleibende Maß verkürzt wird, was durch freiwillige Änderung des Arbeitsvertrags, aber auch mit Hilfe einer BV oder eines Tarifvertrags geschehen kann. Der Arbeitsausfall muss nach § 96 Abs 1 SGB III nicht nur unvermeidbar sein, sondern auch ein bestimmtes Ausmaß überschreiten: Mindestens ein Drittel der in einem Betrieb beschäftigten AN muss einen Entgeltausfall von mehr als 10 % erleiden. Unvermeidlich ist der Arbeitsausfall dann nicht, wenn der AN auf seinem Arbeitszeitkonto ein Guthaben hat, das er abbauen kann. Notfalls muss er auch einen negativen Kontostand in Kauf nehmen, bevor er Kurzarbeitergeld in Anspruch nimmt. Lediglich Langzeitkonten, die zB für Pflegezeit, für einen früheren Eintritt in den Ruhestand oder für ein Sabbatical verwendet werden sollen, bleiben auch in der Kurzarbeitssituation unangetastet. Außerdem muss der AN in zumutbarem Umfang zunächst seinen Jahresurlaub in Anspruch nehmen.

Selbst wenn überhaupt nicht mehr gearbeitet wird („Kurzarbeit null“), bleibt der AG mit Kosten belas tet. Dies betrifft einmal das Entgelt, das er während des Abbaus des Arbeitszeitguthabens bezahlen muss, aber auch das Entgelt im Erholungsurlaub und an Feiertagen, weil in dieser Zeit die Arbeit ja nicht „wegen Arbeitsmangels“ ausfällt. Zum anderen muss er für die ausfallende Arbeitszeit auch die AN-Beiträge zur SV bezahlen. Der Gesetzgeber kommt ihm nur dadurch entgegen, dass in dieser Situation die Bezugsgröße 80 % des ausgefallenen Entgelts beträgt. Diese sogenannten Remanenzkos ten fallen insb dann erheblich ins Gewicht, wenn wie bei geschlossenen Ladengeschäften sämtliche Einnahmen von heute auf morgen wegbrechen.

Die Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld beläuft sich nach § 104 Abs 1 SGB III auf zwölf Monate, kann jedoch durch Rechtsverordnung auf bis zu 24 Monate verlängert werden. Wird drei Monate lang wieder gearbeitet oder Erholungsurlaub genommen, beginnt nach § 104 Abs 3 SGB III eine 487 neue Kurzarbeitsperiode, sofern immer noch ein „vorübergehender“ Arbeitsausfall vorliegt.

5.2.
Erste Verbesserungen während der Pandemie

Durch das Gesetz vom 13.3.2020* und durch die Kurzarbeitergeld-VO vom 25.3.2020* wurden die Bedingungen für den Kurzarbeitergeldbezug deutlich verbessert.

  • Arbeitszeitguthaben müssen zwar weiterhin grundsätzlich abgebaut werden, doch ist dem Einzelnen anders als bisher nicht zuzumuten, ins Minus zu gehen.

  • Es genügt, wenn mindestens ein Zehntel der Belegschaft eines Betriebs (und nicht mehr wie bisher ein Drittel) einen Arbeitsausfall von mehr als 10 % erleidet. Die staatliche Unterstützung setzt also sehr viel früher ein.

  • Die Remanenzkosten werden drastisch gesenkt, weil die Bundesagentur für Arbeit die vom AG für die ausgefallene Arbeitszeit bezahlten Sozialversicherungsbeiträge erstattet.

Über diese gesetzlichen Änderungen hinaus ist auch die Praxis der Bundesagentur von einer gewissen Großzügigkeit geprägt. An sich müsste der Einzelne in gewissem Umfang zunächst Urlaub nehmen, bevor er Kurzarbeitergeld erhält. Nach § 96 Abs 4 Satz 2 Nr 2 SGB III ist dabei eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei vorrangige Urlaubswünsche des AN zu beachten sind. Durch Weisung 202003015 vom 30.3.2020* wird dies in der Weise konkretisiert, dass der Urlaub aus dem laufenden Jahr nicht zu berücksichtigen ist. Es heißt dort:

„Die BA sieht bis zum 31. Dezember 2020 davon ab, die Einbringung von Erholungsurlaub aus dem laufenden Urlaubsjahr zur Vermeidung von Kurzarbeit einzufordern. Diese Regelung erfolgt vor dem Hintergrund, dass bei der Interessenabwägung mit vorrangigen Urlaubswünschen der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers in der jetzigen Situation nicht absehbar ist, für welchen konkreten Zweck diese ihren Urlaub nutzen wollen oder müssen (z.B. Urlaub zur Betreuung ihrer Kinder wegen Schließung der Kitas oder Schulen). Der Schutz durch die Versichertengemeinschaft geht aufgrund der außergewöhnlichen Verhältnisse somit der Schadensminderungspflicht des Einzelnen vor. Wird die Kurzarbeit gegen Ende des Urlaubsjahres eingeführt oder bestehen noch übertragene Urlaubsansprüche aus dem vorangegangenen Urlaubsjahr, ist der Arbeitgeber aufzufordern, den Zeitpunkt für den Antritt noch vorhandenen Urlaubs zur Verminderung des Arbeitsausfalls festzulegen. Auch hier dürfen die Urlaubswünsche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht entgegenstehen.“

Lediglich Ansprüche aus den Vorjahren müssen daher berücksichtigt werden.

Was die Dauer des Kurzarbeitergeldes betrifft, so ist die mögliche Bezugsdauer durch VO vom 16.4.202015) bis 31.12.2020 auf 21 Monate verlängert worden, sofern die Kurzarbeit bereits 2019 begonnen hatte.

5.3.
Weitere Verbesserungen durch das Sozialschutz-Paket II

Die Beschränkung des Einkommens auf 60 % bzw 67 % ist insb bei Niedrig-Verdienern mit erheblichen Einschnitten in der Lebensführung verbunden. Dies gilt speziell dann, wenn die Kurzarbeit längere Zeit dauert und mindestens die Hälfte der regulären Arbeit ausfällt. Durch das „Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona- Pandemie (Sozialschutz-Paket II)“ vom 20.5.202016) wurden deshalb die Sätze des Kurzarbeitergeldes heraufgesetzt. AN, die seit März 2020 länger als drei Monate Kurzarbeitergeld beziehen, erhalten 70 % bzw (mit einem Kind) 77 %. Nach sieben Monaten Kurzarbeit erhöht sich der Satz auf 80 bzw 87 %. Dies gilt aber derzeit nur bis zum Jahresende 2020.

5.4.
Betriebliche Ergänzungen

In Betrieben mit BR bedarf die vorübergehende Verkürzung der Arbeitszeit der Zustimmung des BR. Solange sie nicht gegeben oder durch die Einigungsstelle ersetzt ist, muss der AG nach der Lehre vom Betriebsrisiko gem § 615 Satz 3 BGB das Entgelt fortbezahlen. Selbst wenn dann eine rückwirkende Verkürzung der Arbeitszeit erfolgt, wird zunächst die Liquidität des AG belastet. Dies bringt den BR in eine relativ starke Stellung, weshalb es ihm häufig gelingt, eine Aufstockung auf 80 % oder auch 90 % zu erreichen, sofern dies mit der wirtschaftlichen Situation des AG vereinbar ist. Die Tatsache, dass die Rsp ihm bislang kein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf eine solche „Begleiterscheinung“ der Kurzarbeit gewährt,* ist daher in der Praxis von geringerer Bedeutung.

5.5.
Aufstockung auf Hartz IV

Der gesetzliche Mindestlohn beträgt derzeit € 9,35 pro Stunde und soll am 1.1.2021 auf € 9,50 und dann in zwei weiteren Stufen bis auf € 10,45 (ab 1.7.2022) erhöht werden. Wer nur den Mindestlohn oder wenig mehr verdient, gleichzeitig aber zwei oder mehr Personen zu versorgen hat, bleibt häufig unter der Mindestsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II („Hartz IV“). Er kann eine Aufstockung auf die dort vorgesehenen Sätze verlangen. Dies betrifft schon in „guten“ Zeiten über 1 Mio AN,* erhöht sich aber bei Kurzarbeit erheblich. Dies ist für die Betroffenen schmerzlich, weil die Unterstützungsleistung erst gewährt wird, wenn das eigene Vermögen bis auf einen Rest (sogenanntes Schonvermögen) aufgebraucht ist und wenn die Kosten für Unterkunft und Heizung (die ebenfalls erstattet werden) nicht unangemessen hoch sind. Notfalls müssen sich die Betroffenen eine andere 488 Wohnung suchen. Diese abschreckenden Hindernisse wurden für ein halbes Jahr suspendiert: Es reicht, wenn der Antragsteller angibt, kein „erhebliches“ Vermögen zu besitzen; die tatsächlichen Kosten für Wohnung und Heizung werden als angemessen fingiert (§ 67 Abs 2 und 3 SGB II).

5.6.
Situation auf dem Arbeitsmarkt

Die Zahl der Kurzarbeiter wurde vom IFO-Institut für Mai 2020 auf insgesamt 7,1 Mio geschätzt – während der Banken- und Währungskrise lag die Spitze im Mai 2009 bei 1,44 Mio. Im Juni 2020 betrug die Zahl der Arbeitslosen 2,853 Mio; gegenüber Juni 2019 stellte dies eine Steigerung um 637.000 dar.* Ob und unter welchen Voraussetzungen der AG einen zunächst als vorübergehend qualifizierten Arbeitsmangel als endgültigen ansehen und deshalb kündigen kann, ist höchstrichterlich noch nicht entschieden.

6.
Digitale Betriebsverfassung?

Beratungen und Beschlüsse des BR erfolgen bislang in Sitzungen bei physischer Anwesenheit der Mitglieder. In einigen Fällen lässt sich dies unter Corona-Bedingungen nicht mehr realisieren, wofür die häusliche Quarantäne einzelner Mitglieder als Beispiel stehen mag. Der deutsche Gesetzgeber hat deshalb einen § 129 BetrVG geschaffen, der bis 31.12.2020 gilt. Er bestimmt, dass Beratungen und Beschlüsse auch im Wege der Telefon- oder der Videokonferenz möglich sind, was eine Reihe von Folgeproblemen mit sich bringt.*

Auch Sitzungen des Wirtschaftsausschusses und der Einigungsstelle sind auf diesem Wege möglich. Betriebsversammlungen können mit Hilfe von audiovisuellen Mitteln durchgeführt werden, doch dürfte nur in Großbetrieben eine Ausstattung vorhanden sein, die nicht nur die Berichte von BR und AG den Einzelnen zur Kenntnis bringt, sondern auch jedem die Möglichkeit zu eigenen Diskussionsbeiträgen eröffnet.

Nicht nur die Telefon-, auch die Videokonferenz hat eine Reihe von Nachteilen, weshalb sie nicht dauerhaft an die Stelle der bisherigen Präsenzsitzungen treten sollte:

  1. Die Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen ist nicht gesichert. Die Einstellung der Kameras ermöglicht meist keine Feststellung darüber, ob nicht noch eine weitere Person im Raum ist und die Diskussionen mithört. Im Gegensatz dazu lässt sich bei der bisherigen Form sehr genau kontrollieren, wer sich im Einzelnen im Raum befindet. Abhörversuche sind illegal.

  2. In Extremfällen kann sich ein Vertreter des AG im selben Raum wie ein Betriebsratsmitglied aufhalten, ohne dass dies für die Übrigen erkennbar wäre. Dies kann die Meinungsäußerung des fraglichen Mitglieds erheblich beeinflussen, so dass die Unabhängigkeit des BR vom AG gefährdet wäre.

  3. Die informelle Kommunikation, die bei gleichzeitiger Anwesenheit im selben Raum möglich ist, scheidet bei einer Videokonferenz praktisch aus. Will der A dem B eine nur für diesen bedeutsame Information zukommen lassen, von der andere nicht unbedingt Kenntnis erhalten sollen, so ist dies in einer Video- oder einer Telefonkonferenz meist nicht möglich oder zumindest erschwert. Auch ist die Einigung mit „Opponenten“ innerhalb des Gremiums einfacher, wenn man unter vier, sechs oder acht Augen sprechen kann, während das Mithören aller einen Kompromiss durch Nachgeben beider Seiten eher erschwert.*

  4. § 41a EBRG sieht die „Zuschaltung“ eines EBR-Mitglieds vor, das zu einer Schiffsbesatzung gehört und sich auf Hoher See oder in einem ausländischen Hafen befindet. Diese Vorschrift erfasst eine singuläre Situation mit der Folge, dass sie nicht analogiefähig ist, sondern den Gegenschluss erlaubt, dass in anderen Fällen eine solche Abweichung vom normalen Sitzungsverlauf nicht möglich sein soll.

Wahlen, die der BR vornimmt, sind von § 129 BetrVG nicht erfasst. Muss während der Pandemie der BR selbst neu gewählt werden und arbeiten viele oder fast alle AN im Home-Office, so spricht alles für eine Briefwahl.*

7.
Betriebe mit Arbeitskräftebedarf

Die Beschäftigten im Gesundheitssektor waren zeitweilig mit einem enormen Arbeitspensum konfrontiert. Auch wenn sich viele Tausende von pensionierten ÄrztInnen und von MedizinstudentInnen für freiwillige Einsätze gemeldet hatten, war lange Zeit ungewiss, ob der gesamte Bedarf an Krankenversorgung gedeckt werden konnte. Ausreichend Masken und Schutzkleidung zu beschaffen, erwies sich gleichfalls als schwierig. Schließlich hat die Öffentlichkeit wahrgenommen, dass die Landwirtschaft auf osteuropäische HelferInnen angewiesen ist. Besonderen Belastungen waren und sind weiter Beschäftigte in der Altenpflege und im Lebensmittel- Einzelhandel ausgesetzt. Auch kann es Fälle geben, in denen zahlreiche reguläre Arbeitskräfte ausfallen, weil sie an Covid-19 erkrankt oder unter Quarantäne gestellt sind oder weil sie sich gezwungen sehen, wegen geschlossener Kitas und Schulen ihre Kinder selbst zu betreuen.*

Der Gesetzgeber hat auch in diesem Bereich reagiert und neue Regelungen geschaffen.

Der Bundesarbeitsminister hat von der neu geschaffenen Ermächtigung des § 14 Abs 4 ArbZG Gebrauch gemacht und die „COVID-19-Arbeitszeitverordnung“ vom 7.4.2020 erlassen.* Sie ließ für eine Übergangszeit eine Rückkehr zu Arbeitszeiten zu, wie sie im 489 19. Jahrhundert gebräuchlich waren:* In systemrelevanten Bereichen ist der 12-Stunden-Tag zulässig; in dringenden Fällen darf die 60-Stunden-Woche überschritten werden, die Ruhezeit wird von elf auf neun Stunden verkürzt, Sonn- und Feiertagsarbeit ist in weiterem Umfang zulässig. Der Geltungszeitraum der Verordnung ist inzwischen ausgelaufen; vermutlich war sie insb für eine Notstandssituation in überfüllten Krankenhäusern gedacht. Über ihre Anwendung in der Praxis sind keine Daten verfügbar. Befürchtungen, die Regelung können verallgemeinert werden, sind dennoch nicht von der Hand zu weisen.

Sinnvoller war demgegenüber die Regelung, Anreize für die Heranziehung zusätzlicher Arbeitskräfte zu schaffen. Kurzarbeiter erhielten das Recht, in den überlasteten Bereichen einzuspringen, ohne dass deshalb das Kurzarbeitergeld gemindert wird; es gibt lediglich eine Obergrenze in Form der bisherigen Bruttobezüge. Wer vor der gesetzlichen Altersgrenze in Rente geht, muss eine „Hinzuverdienstgrenze“ von € 6.300,– im Jahr beachten, die für das Jahr 2020 drastisch auf € 44.590,– erhöht wurde; dies kann die Reaktivierung von Klinikärzten fördern. Die sogenannte kurzfristige Beschäftigung, die im Regelfall aus der SV ausgenommen ist, wurde von bisher drei Monaten bis 31.10. auf fünf Monate verlängert.

Schließlich entschied der Finanzminister, dass Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und im Einzelhandel einen steuerfreien Bonus in Höhe von € 1.500,– erhalten können. Der Bundestag stellte für die Altenpflege Mittel in Höhe von € 1.000,– pro Person zur Verfügung, der Rest war und ist Sache der Länder.*

8.

Der Gesetzgeber hat bemerkenswert zügig auf die Probleme der Corona-Pandemie reagiert. Dabei konnte er auf den Regeln über die Kurzarbeit aufbauen, die jedoch vorübergehend auszuweiten waren. Damit war ein „Absturz“ der allermeisten Beschäftigten vermieden. Unbefriedigend war lediglich die Situation jener AN, die wegen ihrer Kinder zu Hause bleiben mussten und nicht arbeiten konnten: Sie erhielten zunächst für sechs Wochen, heute erhalten sie für zehn Wochen 67 % ihrer bisherigen Nettovergütung aus Staatsmitteln, können anschließend aber auch kein Arbeitslosengeld beziehen, weil sie ja dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Ungesichert blieb auch die Position der geringfügig Beschäftigten mit einem Monatseinkommen bis zu € 450,–: Da sie nicht arbeitslosenversichert sind, erhalten sie auch kein Kurzarbeitergeld. Dies betraf insb Studenten, die auf einen solchen Nebenverdienst angewiesen sind und denen nur in sehr bescheidenem Umfang mit Darlehen ausgeholfen wurde. Erst recht fallen Soloselbständige durch das soziale Netz: Für sie ist kein Entgeltersatz vorgesehen. Pauschale Zuschüsse gibt es wie bei Ladenbesitzern nur in Bezug auf Fixkosten wie Miete oder Lizenzgebühren, nicht aber zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Insoweit bleiben nur (selten vorhandene) Ersparnisse und der Rückgriff auf Hartz IV. Die im Grundsatz gute Bewältigung der Probleme erfasst nicht alle Betroffenen. Die in der Gesellschaft bestehende Ungleichheit setzt sich auch im „Ausnahmezustand“ fort. 490