Zur Genese des Epidemiegesetzes 1950

 KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

Vor rund einem halben Jahr hat die österreichische Bundesregierung auf Grund des Epidemiegesetzes 1950 zur Einschränkung der „Corona-Pandemie“ ua strenge Ausgangsbeschränkungen erlassen und damit zusammenhängend einen „Shutdown“ des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens verordnet. Grund genug, einen Blick auf die lange Geschichte des Epidemiegesetzes 1950 zu werfen. In der Diskussion über das Gesetz im Abgeordnetenhaus 1912/13 trat der Sozialdemokrat und Arzt Victor Adler als Obmann des Sanitätsausschusses für eine rasche Beschlussfassung ein, denn „es ist das erste Gebot der modernen Seuchenbekämpfung, jeden ersten Krankheitserreger und seinen Träger am Anfang zu verfolgen und unschädlich zu machen“.* In der letzten Ausgabe von DRdA hat Anita Ziegerhofer* aus aktuellem Anlass einen instruktiven Überblick über die seit Bestehen der Menschheit immer wieder auftauchenden Pandemien gegeben.* Im Folgenden wird ausgehend von den neuzeitlichen Sanitäts- und Pestordnungen ein kurzer, kursorischer Überblick über die Genese der heutigen Epidemiegesetzgebung bis zur Neuregelung der Entschädigungszahlungen 1974 gegeben.*

1.
Vom Mittelalter zur Neuzeit

Sah man im Mittelalter Seuchen vielfach als eine Strafe Gottes an, so versuchte man sie durch gemeinsames Beten und durch Prozessionen zum Verschwinden zu bringen. Oft geschah dadurch jedoch genau das Gegenteil: Durch die gemeinsam durchgeführten kultischen Handlungen und durch Versammlungen kam es zu weiteren Ansteckungen, somit zu einer noch stärkeren Verbreitung der Seuche. Nachdem man sich der Ansteckungsgefahr bewusst wurde, reagierte die Obrigkeit mit Rechtsvorschriften, die das Zusammentreten der Menschen verboten: „Belehrt durch so furchtbares Unglücke verordneten die Regierungen ernstliche Polizeimaßregeln; eigentliche Pestordnungen kommen jedoch erst im sechzehnten Jahrhunderte vor.“* Den Obrigkeiten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ging es weniger um eine humane Obsorge für die Gesundheit der Untertanen, denn um machtpolitische Erwägungen: Die Dezimierung arbeitsfähiger Untertanen durch ansteckende Krankheiten minderte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, schmälerte die Einnahmen der Grundbesitzer und gefährdete die Wehrkraft. Darüber hinaus bestand die Gefahr von Unruhen.

Nach den „Pestjahren“ des 14. und 15. Jahrhunderts suchte die Seuche Österreich im 16. Jahrhundert mehrmals heim, was auch zu einer entsprechenden Anzahl von „Pestordnungen“ führte. Denn nachdem nach dem Abklingen der Krankheit immer wieder mehrere Jahre, oft auch Jahrzehnte, vergingen bis sie wieder auftrat, waren auch die vorangegangenen Rechtsvorschriften wieder vergessen und mussten durch neue ersetzt werden. Grundsätzlich ging es bei der Bekämpfung von Epidemien immer um die Anzeigepflicht der Krankheit an die Obrigkeit, um regelmäßige Berichte über die Anzahl der Krankheitsfälle bzw um die Gesundung und Todesfälle, um Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung durch Absonderung, Desinfektionen, Beschränkungen des Warenverkehrs sowie um Grenzschließungen und um die Bestellung eines entsprechenden Pflegepersonals; somit um jene Inhalte, die sich auch in der aktuellen Epidemie- Gesetzgebung befinden.

Im August 1625 erließ beispielsweise angesichts der Pest-Gefahr der steirische Statthalter Johann Ulrich, Fürst und Herr von Coromau und Eggenberg, „obwohl östermalen ernstliche Verordnungen gegeben worden“ eine umfangreiche „Pest-Patente oder Infektionsordnung für die innerösterreichischen Lande“. Die in Graz gedruckte Vorschrift hatte zwei umfangreiche inhaltliche Teile: Behandelt der erste Teil Vorkehrungen, die zu treffen waren, wenn sich die Pest auf dem Lande in nicht geschlossenen Ortschaften ausbreitet, so hatte der zweite Teil Regelungen für die Bevölkerung der 491 Städte und Märkte, insb der Stadt Graz, zum Inhalt. Im ersten Teil des Regulativs wurden zuallererst die Pfarrer angesprochen. Sie wurden aufgefordert, über das Auftreten einer ansteckenden Krankheit dem Statthalter zu berichten. Desgleichen sollten die Seelsorger von der Kanzel herab die Bevölkerung warnen. Die infizierten Ortschaften durften nicht betreten werden. Die Zufahrtswege zu nichtinfizierten Orten sollten durch bewaffnete Bürger bewacht werden. Die Durchfahrt sollte nur jenen Händlern gewährt werden, die glaubhaft nachweisen können, dass sie aus Ortschaften kommen, in welchen in den letzten sechs Wochen kein Todesfall infolge der Krankheit war. Des Weiteren vertrat der Statthalter die Ansicht, „daß kein Postilion von Inficierten: oder Verdächtigern Orthen, eyngelassen, sondern die Brieff draussen vor dem Thor, von ihnen genommen und wohlberauchet dem Postmeister, oder welcher sonst bestöllt, angehendigt werden“ soll. Man hatte die Befürchtung, dass die Krankheit durch Briefe übertragen werden könnte. Weitere Vorschriften der Pestordnung betrafen die Reinlichkeit in Häusern und Ortschaften. Auf die Hygiene sollte größter Wert gelegt werden. Der Verkauf von Tüchern, Leinen, Decken und Kleidung wurde verboten, Händler durften „Getraidt und Victualien“ nur außerhalb der Orte feilbieten. Der Verkauf bestimmter Früchte und Obstsorten sollte durch den Marktrichter verboten werden. Ärzte und Apotheker sollten nicht beginnen, auf eigenes Gutdünken Kranke zu behandeln, sondern vielmehr die Infektion zuallererst den „Verordneten Provisorn“ melden. Diese „Provisorn“ waren für die Zeit einer Epidemie mit Entscheidungsbefugnis ausgestattete Bürger und ein Sanitätsrat mit weitreichenden Vollmachten. Der zweite Teil dieser umfangreichen Vorschrift ordnete bei Pestgefahr einen totalen „Shutdown“ an: Die Öffnungszeiten für Trinkstuben, Weinkeller und Bierlokale wurden beschränkt, der Branntweinkonsum innerhalb und außerhalb des Hauses verboten. Fechtschulen und Bäder mussten geschlossen werden, Hochzeiten hatten nicht stattzufinden. Es galten strenge Hygieneregeln für Wohnungen und Häuser, sowohl auf dem Land als auch in den Städten. Haustiere, wie Hunde und Katzen, durften nicht auf die Gassen und Straßen. Bettler und Menschen ohne fixen Schlaf- oder Wohnplatz hatten die Stadt zu verlassen. Die „Verordneten Provisorn“ hatten für eine entsprechend qualifizierte medizinische Versorgung der Kranken zu sorgen, Meldungen über Infektionen entgegen zu nehmen und Quarantäne zu verordnen. Außerhalb der Städte war ein „Lazareth“ als Quarantänestation zu errichten. Blieben Infizierte in ihren mit einem weißen Kreuz gekennzeichneten Häusern, so mussten sie dort sechs Wochen verweilen und wurden „auß gemainen Seckl“ mit Verpflegung versorgt. Weitere Bestimmungen regelten Maßnahmen der Desinfizierung nach dem Ende der Epidemie, die Bestattung der Toten, die Verzeichnung der Infizierten und der Sterbefälle, Aufgaben der Seelsorger und verordneten ein regelmäßiges Zusammentreten des für den Zeitraum der Krankheit bestimmten Sanitätsrates („Provisorn“).

Wie bereits erwähnt, wurde die Gefahr von Seuchen von der Obrigkeit zum Anlass genommen, sich unliebsamer Bevölkerungsteile zu entledigen. Die Krankheit wurde zunehmend dem Menschen entfremdet, sie wurde zum Vehikel einer neuen Abbildung der Untertanen.* Das betraf vom 17. Jahrhundert an überwiegend nicht sesshafte Bevölkerungsgruppen sowie Juden. In vielen „Pestpatenten“ wird die „Abschaffung“ von Bettlern, Vagabunden, „Zigeunern“ und Juden gefordert. „Gesund und krank“ wurde zu „rein und unrein“. Und das Herrschaftsgebiet sollte von allen möglichen „Unreinen“ gesäubert werden. Als 1721 in Frankreich die Pest ausbrach, wurde durch Hofdekret befohlen „alles, besonders von Lyon oder Toulon, nach Vorder- oder Innerösterreich einschleichendes Gesindel und Juden aufzugreifen und sogleich aufzuhängen“.* Später wurden „Bettler“ und sozial schwache und kranke Personen in Zucht- und Armenhäuser kaserniert. Mit Recht sieht der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault in jener Zeit das Entstehen der obrigkeitsstaatlichen „Disziplinargesellschaft“: „Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor „Ansteckungen“, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“*

2.
„Gesundheitspolitik“ als staatliche Aufgabe

Stärker als in den Jahrzehnten davor sah der absolutistische Staat die Gesundheitspolitik als zentrale staatliche Aufgabe, die einer entsprechenden Regulierung unterworfen werden musste. Aufbauend auf der „Medizinalordnung für das Königreich Böhmen“ vom 24.7.1753* verordnete 1770 Kaiserin Maria Theresia ein von ihrem Leibarzt Gerard van Swieten verfasstes für alle k.k. Erblande gültiges „Sanitätshauptnormativ“. Der erste Teil der Rechtsvorschrift beschäftigte sich mit den notwendigen gesundheitspolitischen Maßnahmen in den Ländern. In jedem Erblande waren Sanitätskommissionen zu bilden, welchen auch ein Arzt anzugehören hatte. Diese Kommissionen waren der jeweiligen Landesregierung und der „Hauptsanität-Hofdeputazion in Wien“ untergeordnet. Die Sanitätskommissionen hatten die Aufgabe, dafür „zu sorgen, daß alle ansteckenden Krankheiten unter Menschen und Vieh gleich bei erster Verspürung durch anständige Mittel gehoben, auch um dieses Uebel nicht weiter überhand nemen zu lassen, alle nötige Vorsehung gebraucht werden“.* Dieses frühe 492 umfassende Sanitätsgesetz enthielt des Weiteren detaillierte Instruktionen und Eidesformeln für Ärzte, Wundheiler, Apotheker und Hebammen. Der zweite Teil enthielt Anweisungen für die an den Grenzen des Reiches und an den Küstenregionen errichteten Sanitäts-Cordons.

Bereits im 16. Jahrhundert wurden zur Abwehr der Pest an den Landesgrenzen Stationen errichtet, in welchen – sollte das Nachbarland von einer Seuche befallen sein – Händler und Waren eine bestimmte Zeit verweilen mussten und erst nach einer Desinfektion weiter reisen durften.* In diesen „Kontumazstationen“ (Contumaz-Stationen oder Quarantäneeinrichtungen) wurden, wie eine Verordnung vom 25.8.1766 besagt, vom Kontumazdirektor ein Gesundheitspass ausgestellt, der zur Weiterreise berechtigte.* Bereits im 18. Jahrhundert gewann die See- bzw Küstenquarantäne an Bedeutung. Zur Abwehr der Pest wurden in den Häfen Quarantäne-Stationen errichtet.* 1755 wurde von Maria Theresia eine „General-Gesundheits-Ordnung“ mit Instruktion für die österreichischen Küstengebiete erlassen.* Nachdem Konstantinopel als „Hotspot“ der Pest galt, der Handel über das Meer florierte, mussten alle an den zur Habsburgermonarchie gehörenden Häfen ankommenden Schiffe „Gesundheitspässe“ mit sich führen: Analog den heutigen Reisewarnungen gab es ein nach dem Grad der „Verseuchung“ des jeweiligen Landes abgestimmtes System über die Herkunftshäfen. Wiewohl die Pest in Österreich zuletzt 1713 auftrat, blieben die zur Abwehr der Seuche erlassenen Vorschriften in Geltung, wurden zum Teil erneuert und beim Ausbruch anderer ansteckender Krankheiten, wie Cholera und Pocken, zur Anwendung gebracht. Nachdem die Abwehr der meist aus dem Orient über die Türkei und Ägypten einbrechenden Krankheiten eine gemeinsame Maßnahme der europäischen Staaten notwendig machte, wurden Quarantäne-Behörden mit europäischer Beteiligung in Konstantinopel und Alexandria errichtet.* 1887 wurde beim in Wien stattfindenden „VI. Internationalen Kongress für Hygiene und Demographie“ die Frage diskutiert, auf welchen Grundsätzen ein internationales Epidemie-Regulativ beruhen sollte. Nach dem Bonner Universitätsprofessor für Hygiene Carl Maria Finkelnburg müsste eine internationale Berichtsstelle geschaffen werden, die über das Auftreten von Cholera, Pest und Gelbfieber die Regierungen, aber auch durch Publikationen alle Menschen, zu informieren hat. Im Verkehrsbereich (Schiff, Bahn) sollte eine einheitliche Vorgangsweise etwa durch die Errichtung von Epidemiehäusern und Desinfektionsstationen vereinbart und der Reiseverkehr beaufsichtigt werden. Die Anzeigepflicht von infektiösen Krankheiten sollte in allen Vertragsstaaten gesetzlich geregelt sein.* In den folgenden Jahren wurden, ausgehend von der Notwendigkeit, die Handelswege auch in Zeiten von Seuchen offen zu halten, in mehreren Konferenzen sanitätspolizeiliche Vereinbarungen geschlossen.* So etwa kam es durch die Ausbreitung der Cholera 1892-95 zur „Dresdner Konvention“,* zur „Venediger Konvention“* und zur die vorherigen Übereinkommen zusammenfassenden „Internationalen Übereinkunft betreffend Maßregeln gegen Pest, Cholera und Gelbfieber von 1903“.*

Neben Pest und Cholera wurde die Bevölkerung besonders des 18. Jahrhunderts von nahezu regelmäßigen Pockenepidemien genervt,* was zu zahlreichen auf die „Blattern“ bezogenen Rechtsvorschriften führte.* Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte „Vakzination“ trug entscheidend zur Ausrottung der Pocken bei.* Allerdings war die Impfung in der Bevölkerung nicht unumstritten, sodass der Gesetzgeber von einem „Impfzwang“ Abstand nahm und mit Anreizen eine Impfung durchzusetzen suchte.* Auch in die Entwürfe zu einem Epidemiegesetz Anfangs des 20. Jahrhunderts wurde deshalb die Möglichkeit eines „Impfzwanges“ nicht aufgenommen.

3.
Erstes „Epidemiegesetz“ und „Cholera-Lockdown“

Gegenüber den zahlreichen sanitätsrechtlichen Vorschriften der vergangenen Jahrhunderte stellte die „Normal-Vorschrift über das bei Epidemien zu beobachtende Verfahren, über Mittel, denselben vorzubeugen und deren Verbreitung zu verhüten“ vom 21.1.1830* – zumindest auf dem Papier – einen epochalen Fortschritt dar. In § 4 wurde „Epidemie“ als Krankheit definiert, „wenn in den nämlichen Orten mehrere Personen von derselben Krankheit befallen werden und dieselben hienach den Charakter einer Volkskrankheit annimmt“. Die bisherigen Rechtsvorschriften, meist bei einem konkreten Anlassfall rasch verordnet, regelten Maßnahmen zur Verhinderung eines Ausbruchs der Epidemie und zu ihrer Bekämpfung, wenn sie im Lande ausgebrochen ist. Im Focus standen die Aufgaben des Sanitätspersonals, die Versorgung der Kranken, die Bestattung der Verstorbenen und die Meldungen an die jeweilige Obrigkeit. War die Seuchenprophylaxe bislang kein Thema, so wird nun in § 6 der „Normal-Vorschrift“ festgehalten: „Zur493Entstehung von Volkskrankheiten tragen vorzüglich bei: die sanitätswidrige Bauart der Wohnungen; das zu enge Beisammensein der Menschen in einzelnen Häusern; Alles was die Luft anhaltend feucht, und unrein macht; Mangel und schlechte Qualität der Nahrungsmittel; schädliche Gewohnheiten, und ungeregelte Lebensweise.“* In der Folge träumt die Rechtsvorschrift von geräumigen Wohnungen, gegen die Sonne gebaute Häuser und öffentlichen Plätzen, die eine „gesunde Atmosphäre“ ausstrahlen sollten. Spiegelt die Vorschrift das gewonnene bürgerliche Hygienebewusstsein, jedoch auch die gewünschte Sozialdisziplinierung des Vormärz wider, so zeigt sie doch erste Wege zu einer vorausschauenden Eindämmung von Seuchen auf. Allerdings: Der Arbeiterklasse, die im Übergang von der Manufaktur- zur Fabriksperiode in miserablen, kaum beschreibbaren Wohnverhältnissen bei 14- bis 16-stündiger Arbeitszeit dahin vegetierte,* halfen diese Bestimmungen nichts. Der zweite Teil dieses Epidemiegesetzes beschreibt die „zweckmäßige Behandlung einzelner Krankheiten und der Verhütung und Weiterverbreitung derselben“. Ein dritter Teil beschäftigt sich ausführlich mit dem behördlichen Verfahren beim Ausbruch von Epidemien und ein vierter Abschnitt handelt von den Kosten, die durch Medikamente, Behandlung und Verpflegung der Kranken, Einrichtung von Quarantänestationen etc anfallen.

Im Frühjahr 1831 breitete sich von Russland kommend die Cholera aus und begann bald weite Teile Galiziens zu infizieren. Verzweifelt versuchte man ihre Ausbreitung hintanzuhalten, besonders jedoch sollte die Haupt- und Residenzstadt Wien von der „epidemischen Brechruhr“ geschützt werden.* Nachdem auch bald Krankheitsfälle in Ungarn auftraten, wurde um Wien ein Sanitätscordon mit entsprechenden „Contumaz-Anstalten“ errichtet. Contumaz-Anstalten waren Quarantäne-Stationen für Personen und Waren. Wiewohl es seit einem Jahr eine Vorschrift gab, wie bei epidemischen Krankheiten zu verfahren sei, griff man auf das um vieles strengere Pestreglement zurück. Militär wurde entlang hermetisch geschlossener „Pest-Cordons“ positioniert, Personen und Waren wurden kontrolliert und allenfalls in Quarantäne beordert. Für Händler wurden Gesundheitspässe wieder eingeführt. Darüber hinaus gab die Pestordnung dem Staat auch die Möglichkeit, sozialdisziplinär gegen Bevölkerungsgruppen vorzugehen: „Gegen aufgegriffene Landstreicher, paßlose Handwerksburschen, vorzüglich aber gegen Schacherjuden der benachbarten ungarischen Comitate, wurde mit großer Strenge verfahren.“* Eine Sanitäts-Commission mit weitreichenden Vollmachten sollte das Eindringen der Cholera aus den Nachbarstaaten zu verhindern suchen. Sie sollte die Behandlung der Kranken sicherstellen und Fürsorgemaßnahmen für „Notleidende“ treffen. Die Landesregierungen der Steiermark und Oberösterreichs wurden beauftragt, die Landwirte ihrer Provinzen zu bitten, Vieh nach Wien zu führen, da die Lieferkette aus Ungarn cholerabedingt eingebrochen war. Wie einst zur Abwehr der Pest für die Hafenstädte entwickelt, wurde nun für den Personen- und Warenverkehr ein nach Infizierungsgrad abgestuftes System für die Comitate und Distrikte Ungarns eingeführt. Die „Reisefreiheit“ war somit aufgehoben, nur Personen aus infektionsfrei bezeichneten Comitaten sowie aus Kroatien und Slawonien durften mit einem entsprechenden Sanitätspaß „contumazfrey“ einreisen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die Seuche sich durch die „Cordons“ nicht aufhalten ließ und in Wien Einzug hielt. Damit wurde nicht nur der Glaube an die Möglichkeit, die Krankheit durch Grenzziehungen aufhalten zu können, in der Bevölkerung erschüttert, sondern auch die strenge Handhabung des nun als unnütz angesehenen Pestreglements wurde allenthalben kritisiert. Dies führte im Herbst 1831 zu einer sukzessiven Lockerung der Quarantäne-Bestimmungen und letztlich am 4.10. zu einer Außerkraftsetzung der für einen Einbruch der Pest gedachten Vorschriften. Nun sollte wieder nach der für Epidemien gültigen Rechtsvorschrift von 1830 vorgegangen werden.

4.
Vom „Reichssanitätsgesetz“ 1870 zum Epidemiegesetz 1913

Die sanitätsrechtlichen Vorschriften der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts gerieten bald in Vergessenheit, wurden zum Teil nicht einmal in allen Regionen der Monarchie kundgemacht.* Im Jahre 1848 brachte das Innenministerium durch einen Erlass die Vorschriften über das Verhalten bei Epidemien in Erinnerung. Die erneute Gefahr einer Cholera-Epidemie ließ es notwendig erscheinen, auf die „Handhabung der sanitäts-polizeilichen Vorkehrungen und einige ungewöhnliche Anordnungen hinzuweisen“. Seelsorger, Ärzte, Wundärzte, Gemeinde- und Ortsvorsteher hatten die Bevölkerung zur Einhaltung von Hygiene zu belehren. Des Weiteren wurden wie schon in der „Normal- Vorschrift“ von 1830 die Aufgaben der Ärzte, die genaue Protokollierung über die Ausbreitung und den Verlauf der Krankheit, die zu treffenden sanitätspolizeilichen Vorkehrungen und Kostenfragen behandelt. 1852 wurden in das Strafgesetz im Neunten Hauptstück auch „zur Hintanhaltung der drohenden Gefahr der Pest oder anderer ansteckender und für den allgemeinen Gesundheitszustand gefährlicher Krankheiten“ Strafbestimmungen über „Vergehen und Uebertretungen gegen die Gesundheit“ aufgenommen.* Eine grundsätzliche Regelung über das bis dahin organisatorisch und rechtlich zersplitterte Sanitätswesen brachte das Reichssanitätsgesetz vom 30.4.1870.* Nach § 2c oblag der Staatsverwaltung ausdrücklich „die Handhabung der Gesetze über ansteckende Krankheiten, über Endemien, über Epidemien494und Thierseuchen, sowie über Quarantainen“ und nach § 2d „die Leitung des Impfwesens“. In dem selbständigen Wirkungskreis der Gemeinden fiel ua die Handhabung der örtlichen sanitätspolizeilichen Vorschriften. Im übertragenen Wirkungskreis hatte die Gemeinde die entsprechenden örtlichen Vorkehrungen zur Verhütung und Weiterverbreitung ansteckender Krankheiten zu treffen.

Bereits 1885 wurde vom Wiener Bezirksarzt Heinrich Adler im Rahmen einer als notwendig angesehenen „Reform der Medizinal- und Sanitätsverfassung“ ein „Epidemiegesetz“ mit nachfolgenden Inhalten gefordert: „Einführung der obligatorischen Impfung, Einführung des Spitalzwanges bei Infektionskrankheiten im Falle undurchführbarer Isolierung der Erkrankten, ungenügender oder mangelnder Pflege, Regelung der Prostitution“.* 1902 forderte der sozialliberale Abgeordnete Joseph Maria Baernreither die Regierung auf, ein „Gesetz, betreffend die Verhütung und Bekämpfung von allgemein gefährlichen Krankheiten zur verfassungsmäßigen Behandlung vorzulegen“.*

In der Tat hatte man sich bereits in dem für Sanitätsangelegenheiten zuständigen Ministerium des Inneren mit der Erarbeitung einer entsprechenden Rechtsvorschrift beschäftigt, zumal bei der Choleragefahr 1893 das Ministerium widerrechtlich den Gemeinden zustehende Kompetenzen an sich gezogen hatte. Das Sanitätsdepartment sah sechs Bereiche, die einer umfassenden gesetzlichen Regelung unterworfen werden müssten. Das waren: Vorkehrungen zur Verhinderung der Entwicklung und Fortpflanzung von „Ansteckungskeimen“ (1), Anordnungen zur Verhinderung der Einschleppung (2), Maßnahmen beim Auftreten der Krankheit (3) sowie Bestimmungen zur Unschädlichmachung der „Keime“ (4). Des Weiteren waren Entschädigungsfragen (5) sowie Strafrechtliches (6) zu klären.* Befördert wurde die Arbeit des Innenministeriums durch die Beschlussfassung eines deutschen „Seuchengesetzes“, dessen sieben Abschnitte Bestimmungen über Anzeigepflicht, Ermittlung von Krankheiten, Schutzmaßregeln, Behörden, Entschädigungen, Kosten und Strafvorschriften enthielten,* woran sich dann auch der österreichische Gesetzesantrag orientierte. Nachdem die Vorarbeiten des Sanitätsdepartments an den Obersten Sanitätsrat weitergeleitet wurden, erstellte dieser 1906 ein umfassendes Gutachten und formulierte „allgemeine Grundsätze für ein Volksseuchengesetz“. Auch der Sanitätsrat sah die Notwendigkeit eines Epidemiegesetzes im Fehlen gesetzlicher Regelungen. Er merkte zB an, dass es „nur der Furcht der Bevölkerung vor Volksseuchen“ zu danken war, dass etwa Maßnahmen zur Absonderung von Kranken nicht als gesetzwidrig angefochten wurden. Der vom Sanitätsrat aufgestellte umfangreiche Forderungskatalog nach rechtlicher Normierung floss ebenso wie die Vorschläge des Sanitätsdepartments zusammen mit der Beobachtung der Epidemiegesetzgebung anderer Staaten in die Legistik ein.

Nach nahezu einem Jahrzehnt Arbeit an dem Gesetzesvorschlag wurde dieser am 10.3.1909 dem Herrenhaus als Regierungsvorlage zur Beschlussfassung übersandt. Der Gesetzesentwurf orientierte sich an den Vorschlägen des Sanitätsdepartments und gliederte sich in fünf „Hauptstücke“ (I. Ermittlung der Krankheit, II. Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten, III. Schadenersatz und Bestreitung der Kosten, IV. Strafbestimmungen und V. Allgemeine Bestimmungen). An dieser Gliederung sollte sich bis zur Beschlussfassung nichts mehr ändern. In den Erläuterungen wurde festgehalten, dass aus finanziellen und verfassungsrechtlichen Gründen Bestimmungen über Assanierungsmaßnahmen nicht in den Vorschlag aufgenommen wurden. Ebenso wurde von der Einführung eines Impfzwanges abgesehen, da der dann einsetzende Diskurs die Gesetzeswerdung nur verzögern würde. Das Fehlen dieser beiden Themen, Assanierung als Seuchenprophylaxe und Regelung des Impfzwanges, wurde vom Herrenhaus kritisiert und in eigenen Resolutionen gefordert. Mit minimalen Korrekturen und der Forderung nach einer Kostenvergütung auch für nicht im öffentlichen Sanitätsdienst stehende Ärzte wurde der Regierungsentwurf vom Herrenhaus beschlossen und noch im Juni 1909 an das Abgeordnetenhaus weitergeleitet. Nachdem es jedoch dort infolge einer vorzeitigen Schließung der Reichsratssession nicht mehr behandelt werden konnte, wurde die ein wenig modifizierte Regierungsvorlage in der folgenden Session erneut dem Herrenhaus übersandt. Das Herrenhaus verzichtete auf Einwände und übersandte die Vorlage erneut dem Abgeordnetenhaus. In der Zwischenzeit kam es jedoch zu föderal bedingten Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Landesverwaltungen und dem Ministerium, was die Behandlung im von Victor Adler geleiteten Sanitätsausschuss des Abgeordnetenhauses verzögerte.* Infolge der Beendigung der Legislaturperiode 1911 musste mit Beginn der neuen Session die nun wiederum modifizierte Regierungsvorlage zum dritten Mal in das Herrenhaus eingebracht werden, welches das Gesetz mit geringen Änderungen im März 1912 beschloss und an das Abgeordnetenhaus weiterleitete.

5.

Der Gesetzesentwurf führte im Abgeordnetenhaus 1912 und 1913 zu einer heftigen Kontroverse. Die Beratungen über das Epidemiegesetz, die bereits im Juli 1912 hätten beginnen sollen, wurden zweimal unterbrochen. Zum einen beschlossen die Abgeordneten den Gesetzesentwurf an den Sanitätsausschuss mit der Aufgabe, ihn nochmals zu überarbeiten, zurück zu überweisen. Zum anderen musste die dritte Lesung, und damit die Beschlussfassung über das Gesetz, um einige Tage verschoben werden. Es waren Anhänger der Naturheilkunde, die in Bestimmungen des Gesetzesentwurfs eine Aufforderung zur Impfung bzw zum 495 Impfzwang sahen. Desgleichen wurden auch von Abgeordneten fehlende Bestimmungen zur allgemeinen Seuchenprophylaxe kritisiert. Die Möglichkeit von Betriebseinschränkungen und Schließung von Unternehmungen rief heftigen Protest von Gewerbetreibenden hervor, zumal Entschädigungen in einem ohnehin sehr beschränkten Ausmaß nur für AN vorgesehen waren. Einigen Abgeordneten war auch das vorgesehene Strafausmaß bei Nichtbefolgung der zur Bekämpfung der Epidemie behördlichen Anordnungen viel zu hoch. Andere waren der Ansicht, dass die alten, bisher gültigen Bestimmungen durchaus ausreichend für die Seuchenabwehr und -bekämpfung seien, man also das neue Gesetz gar nicht bräuchte. Und wieder anderen gingen einzelne Inhalte nicht weit genug und wollten etwa auch die Tuberkulose und die Syphilis in die Liste meldepflichtiger Krankheiten aufnehmen. Es war vor allem der Sozialdemokrat und Arzt Victor Adler, der als Obmann des Sanitätsausschusses vehement auf eine Beschlussfassung drängte. Nach der Rücküberweisung zur Überarbeitung an den Sanitätsausschuss berichtete Victor Adler, dass alle diese nun vorgenommenen Änderungen auch in der Plenardebatte des Abgeordnetenhauses beschlossen hätten werden können. Er befürwortete den nun aufgenommenen Entschädigungsanspruch für das Kleingewerbe und die kleinen Landwirte und meinte: „Ich leugne gar nicht, daß in dieser Beziehung, was Entschädigungen anbelangt, das Gesetz lange nicht so weit geht, wie wir alle wünschen. (So ist es!; Zwischenruf, Anm des Verfassers) Auch hier handelt es sich ja nur um einen Kompromiß. (Sehr richtig!)“* Am 30.1.1913 wurde das Gesetz endlich beschlossen, erhielt im März die Zustimmung des Herrenhauses und am 14.4. die kaiserliche Sanktion.* Sowohl Herren- wie Abgeordnetenhaus hatten gegenüber der ersten Regierungsvorlage zahlreiche Verbesserungen, teils formaler, teils inhaltlicher Art eingebracht und beschlossen. Ohne nun auf die Details einzugehen, sei angemerkt, dass der § 32 „Vergütung für den Verdienstentgang“ ebenso wie der § 35 „Ruhe und Versorgungsgenüsse für Pflegepersonen und ihre Hinterbliebenen“ nicht in der Regierungsvorlage enthalten waren, sondern durch Beschluss des Sanitätsausschusses des Abgeordnetenhauses in das Gesetz aufgenommen wurden.* Für Änderungen im § 34 „Ruhe- und Versorgungsgenüsse der Ärzte und ihrer Hinterbliebenen“ hatte sich von Beginn an bereits das Herrenhaus eingesetzt.*

Inhaltlich ist zweifellos jenen KritikerInnen Recht zu geben, die in dem Gesetz nur eine Kodifikation bisheriger Vorschriften zur Seuchenbekämpfung sahen und Bestimmungen über vorbeugende Maßnahmen – wie sie einst in der „Normal-Vorschrift“ von 1830 formuliert wurden – vermissten.* Verordnungen regelten die Bestattung von mit anzeigepflichtigen Krankheiten behafteten Personen* sowie die Absonderung Kranker, krankheits- und ansteckungsverdächtiger Personen und die Kennzeichnung von Wohnungen und Häusern von Infizierten.*

Als in Wien 1918 die sogenannte „Spanische Grippe“ ausbrach* und im Herbst 1918 sehr rasch hunderte Todesopfer forderte, wurde sie nicht zu den „hochvirulenten Krankheiten“ gezählt. Eine Anzeigepflicht mache – so wurde vom zuständigen Sektionschef des 1917 errichteten k.k. Ministerium für Volksgesundheit und Mitverfasser des Epidemiegesetzes erklärt – „schon deshalb keinen rechten Sinn, weil diese Krankheit nicht scharf umschrieben ist, weil wir den oder die Erreger nicht kennen und weil bei dem massenhaften Auftreten der Seuche eine strenge Isolierung der Kranken undurchführbar erscheint“.* Allerdings wurde in Wien eine Schulsperre und auf Antrag des Wiener Sanitätsrates vom Statthalter eine Sperre der Vergnügungslokale, Theater und Kinos ausgesprochen. Sowohl Theater- wie KinobesitzerInnen protestierten heftig gegen die Sperre und verwiesen auf dadurch notwendige Entlassungen ihrer Angestellten und BühnenarbeiterInnen. Der niederösterreichische Landessanitätsrat befürwortete im Oktober 1918 eine Entschädigung für die BetreiberInnen von Kinos und Theater.* Ob es tatsächlich zu dieser kam bleibt jedoch weiteren historischen Forschungen vorbehalten. Der Minister für Volksgesundheit Ivan Horbaczewski hielt gar nichts von den Sperren, da der öffentliche Verkehr, der Einkauf, die Bahn- oder Tramfahrten nicht stillgelegt werden könnten.* Insgesamt scheint es, dass die monarchische Regierung in den letzten Wochen ihres Bestehens nichts mit der Epidemie zu tun haben wollte.

6.
Das Epidemiegesetz 1950 und die Novelle 1974

In der ersten Republik kam es zu zwei Novellierungen des Epidemiegesetzes, die inhaltlich keine wesentlichen Änderungen brachten.* In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die reichsdeutschen Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten in der „Ostmark“ eingeführt, womit auch eine allgemeine Impfpflicht verbunden war.* Zu Beginn der Zweiten Republik wurden 1947 mit dem BG über die Wiederherstellung des österreichischen Rechtes auf dem Gebiet des Gesundheitswesens*496 Änderungen im Epidemiegesetz 1913 vorgenommen: Die Liste der anzeigepflichtigen Krankheiten wurde erweitert, Meldung musste nun nicht an die Gemeinden, sondern an die Gesundheitsämter der Bezirkshauptmannschaften erstattet werden, die Bestimmungen in § 17 Abs 1 Epidemiegesetz 1913 über „Personen, die als Träger von Krankheitskeimen einer anzeigepflichtigen Krankheit anzusehen sind“, wurden neu gefasst. Für „Personen, die sich berufsmäßig mit der Krankenbehandlung, der Krankenpflege oder Leichenbesorgung beschäftigen und für Hebammen“ konnte nun eine Impfpflicht angeordnet werden. Die §§ 4, 36 lit a, 38 und 46 Epidemiegesetz 1913 wurden aufgehoben. Das sind bereits im Wesentlichen jene Änderungen, die mit der Kundmachung in das Epidemiegesetz 1950 eingearbeitet wurden. Dazu kamen eine Neuformulierung der Bestimmungen für den Verdienstentgang (§ 32), ein zusätzlicher § 33a betreffend einen „Kurkostenersatz für die von wütenden Hunden gebissenen armen Personen“ sowie die Umrechnung der Geldstrafen in Schilling.* Das Epidemiegesetz 1950 wurde in der Folge mehrmals geändert: 1961 wurde die infektiöse Hepatitis in die Liste der anzeigepflichtigen Krankheiten aufgenommen.* Mit einer in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung beschlossenen Änderung des § 36 sollte die Stellung der Landeshauptleute, mithin der mittelbaren Bundesverwaltung, gestärkt werden. Der Landeshauptmann sollte nun über alle in § 36 Abs 1 aufgezählten Ansprüche an den Bund zu entscheiden haben. Vorher war dafür zum Teil das Sozialministerium zuständig.* 1968 ergaben sich Änderungen im Epidemiegesetz 1950 durch das Tuberkulosegesetz.*

Das bis 1974 geltende Recht sah in § 32 Epidemiegesetz 1950 eine Entschädigungszahlung an „mittellose Personen, insbesondere Kleinerwerbstreibende, Kleingrundbesitzer, Kleinhändler sowie Personen, die vom Tag- oder Wochenlohn leben, und ausnahmslos jene, die einer Einkommensteuer nicht unterliegen“, für den Verdienstentgang bei einer Beeinträchtigung durch behördliche Maßnahmen gegen einen Seuchenbefall vor.* Nachdem im Rahmen einer Novellierung des Tierseuchengesetzes 1974 im Schadensfall eine „Abgeltung des tatsächlich nachgewiesenen Verdienstentganges unabhängig von der Mittellosigkeit“ beschlossen wurde, traten Landwirtschaftskammer und Arbeiterkammer an das Sozialministerium heran, für das Epidemiegesetz 1950 eine ähnliche großzügige Regelung vorzuschlagen.* Wie sich durch Zahlen untermauern ließ, waren die dafür aufzuwendenden Mittel nicht besonders hoch, zeigten aber große Wirkung: Der sozialistische Abgeordnete Rudolf Tonn berichtete, dass es jährlich im Durchschnitt nur 40 bis 80 Fälle gäbe.* Allerdings war die Schwankungsbreite sehr hoch. So etwa wurden in Oberösterreich 1969 durch eine Paratyphusepidemie 272 Fälle und in Kärnten wurden 1972 durch eine Typhusepidemie 180 Fälle gezählt. 1971 wurden vom Bund rund 24.000,– öS und 1972 1,1 Mio öS für Entschädigung aufgewendet. Eine großzügige Neufassung der Entschädigungsbestimmung im Epidemiegesetz 1950 schien den Abgeordneten somit durchaus leistbar. Ohne Diskussion, es gab außer der Berichterstatterin Hanna Hager (SPÖ) nur die zitierte Wortmeldung von Rudolf Tonn, wurden die auch vom Ausschuss akzeptierten Vorschläge der Regierungsvorlage einstimmig vom Nationalrat angenommen: Vergütungsberechtigt für den Verdienstentgang sind nach dem neuen § 32 Abs 1 „natürliche und juristische Personen sowie Personengesellschaften des Handelsrechts“. Die Vergütung ist unabhängig von der Stellung der Erwerbstätigkeit all jenen zu leisten, die durch Absonderungsmaßnahmen, durch die Untersagung der Abgabe von Lebensmitteln, dem Verbot der Erwerbstätigkeit oder durch die Räumung von Gebäuden oder Wohnungen sowie durch Verkehrsbeschränkungen betroffen sind. Sie ist für jeden Tag der behördlichen Anordnung zu leisten. Für AN ist die Vergütung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz und für selbständig erwerbstätige Personen „nach dem vergleichbaren fortgeschriebenen wirtschaftlichen Einkommen zu bemessen“.* Weiters wurden mit dieser Novelle die Behandlungskosten für von wutkranken Hunden gebissenen Personen und die Strafen bei Verletzung der Meldepflicht und sonstigen Übertretungen geändert.* Zweifellos stellte – wie sich 2020 zeigen sollte – die Novellierung des Epidemiegesetzes im Jahre 1974 eine entscheidende Weichenstellung dar. Damit wurde – wenn auch erst nach rund 61 Jahren – der Wunsch Victor Adlers nach einer großzügigeren Entschädigung bei Beeinträchtigungen durch Seuchenbefall erfüllt. Allerdings: An einen den gesamten Staat umfassenden „Lock-down“ dachte man 1974 nicht.497