MalornyDie Haftung der Gewerkschaft gegenüber ihren Tarifpartnern und Dritten für Schäden bei rechtswidrigen Streiks

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2019, 314 Seiten, € 89,90

THOMASMATHY (LINZ)

In der vorliegenden Arbeit, welche auf ihrer im Jänner 2019 approbierten Dissertation beruht, widmet sich Frederike Malorny einem sowohl rechtsdogmatisch als auch praktisch bedeutsamen Thema: der schadenersatzrechtlichen Haftung von Gewerkschaften bei rechtswidrigen Streiks. Die Autorin leistet dabei vielfach Grundlagenarbeit, denn trotz der längst nicht mehr überschaubaren Fülle an Schrifttum zum deutschen Arbeitskampfrecht wurde das Streikschadensrecht bislang wenig beachtet. Diese Fokussierung auf die schadenersatzrechtliche Rechtsfolge bedingt es freilich, dass in Bezug auf den Tatbestand bestimmte Prämissen zugrunde gelegt werden: So lässt das Werk zwar eine kritische Auseinandersetzung mit dem Status quo des deutschen Arbeitskampfrechts – das mit seiner weitgehenden Verrechtlichung des Arbeitskampfes mitunter als „abschreckendes Beispiel“ angesehen wird (vgl Felten, Arbeitskampf und kollektivvertragliche Friedenspflicht, in GS Rebhahn [2019] 48) – nicht vermissen (vgl zB 196 ff), hinsichtlich des Rechtswidrigkeitsurteils über ein Streikgeschehen wird jedoch im Wesentlichen der hA gefolgt. Auf dieser Grundlage stellt Malorny nun zwei zentrale Thesen auf: Zum einen soll die Gewerkschaft für ihr zurechenbare Schäden bei rechtswidrigen Streiks idR nicht ex delicto, sondern ex contractu haften. Zum anderen sei eine Beschränkung der Haftung der Gewerkschaft erforderlich, da andernfalls das Tarifsystem gefährdet werde.

Mit Ausnahme des Verstoßes gegen die tarifvertragliche Friedenspflicht (vgl dazu jüngst die kritische Analyse von Felten in GS Rebhahn 47 ff) wird die Haftung der Gewerkschaft bei rechtswidrigem Streik als solche ex delicto angesehen. Dafür wird auf das „Recht auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ (ReaG) zurückgegriffen, bei welchem es sich um ein absolut geschütztes Rechtsgut iSd § 823 Abs 1 BGB handeln soll. Nach Malorny ist es jedoch für das Gros der Fälle unnötig, diese hochumstrittene Rechtsfigur zu strapazieren: Denn zwischen Gewerkschaft und AGSeite bestehe ein Dauerrechtsverhältnis („Tarifverhältnis“) mit gegenseitigen Schutzpflichten – vergleichbar jenem, das die handelsrechtliche Lehre bei laufender Geschäftsverbindung annimmt (135 ff, 142). Das hat zur Konsequenz, dass reine Vermögensschäden auch ohne die Herleitung eines absolut geschützten Rechtsgutes ersatzfähig sind; das ReaG als subsidiäres Rechtsinstitut wird damit bei rechtswidrigem Streik weitgehend obsolet. An die rechtsdogmatische Einordnung der Beziehung zwischen Gewerkschaft und AG-Seite als Schuldverhältnis knüpft sich freilich eine zentrale Frage: jene nach der Reichweite der Schutzpflichten. Im Allgemeinen wird zu deren Konkretisierung auf den „Rahmen des Zumutbaren“ verwiesen (Bachmann in MünchKommBGB8 § 241 Rz 116). Diesen will Malorny bestimmen, indem sie die gegenwärtige richterrechtliche Arbeitskampfdoktrin zur Rechtswidrigkeit von Streiks zum Maßstab erhebt: Den Gewerkschaften sei es zumutbar, rechtswidrige Arbeitskämpfe zu unterlassen (155 ff). Zwar begründet das dadurch bestehende hohe Haftungsrisiko für die Gewerkschaften eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems – denn bereits die Angst, dass die Gewerkschaft eine existenzbedrohende Haftung treffen könnte, bewirkt ein die AGSeite begünstigendes Verhandlungsungleichgewicht: Aufgrund des Haftungsrisikos würden nämlich selbst solche Arbeitskämpfe, bei denen bloß eine entfernte Möglichkeit besteht, dass diese als rechtswidrig qualifiziert werden, unterbleiben (75 ff, 88 f). Der Gefahr der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems will Malorny jedoch auf der Ebene der Rechtsfolge und nicht auf jener des Tatbestands begegnen (171). Es sei der zivilrechtliche Grundsatz der Totalreparation, welcher einer Modifikation bedürfe. Den dogmatischen Ansatzpunkt für diese Haftungsbeschränkung soll im verfassungsrechtlichen Übermaßverbot zu finden sein: Eine existenzgefährdende Haftung der Gewerkschaft stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit 499 dar (89 ff). Solange der Gewerkschaft bloß fahrlässiges Verhalten angelastet werden kann (88 f), sei aufgrund des durch die Tarifpartnerschaft begründeten gemeinsamen Verantwortungsbereichs (102 ff) die Haftung im Wege der analogen Anwendung der Mitverschuldensregel des § 254 BGB zu beschränken (99 ff). Die Haftung soll dabei auf jene Summe reduziert werden, die für die Gewerkschaft gerade noch nicht existenzbedrohend ist. Um diesen Betrag zu ermitteln, schlägt Malorny vor, Anleihen beim Insolvenz eröffnungstatbestand der Überschuldung (§ 19 InsO) zu nehmen (111 ff).

Zwar ist die Begründung einer Haftungsbeschränkung im Wege einer Analogie zu § 254 BGB insofern systemkonform, als auch die Haftungserleichterung des AN im Verhältnis zum AG („innerbetrieblicher Schadensausgleich“) in Deutschland vielfach aus dieser Bestimmung hergeleitet wird (vgl BAG 27.9.1994, GS 1/89), die Schwierigkeiten einer solchen Haftungsbegrenzung erschöpfen sich jedoch nicht allein in den von Malorny eingestandenen und de lege lata wohl auch nicht zu vermeidenden Einsichtsmöglichkeiten des sozialen Gegenspielers in die Organisation der Gewerkschaft (120 ff). Vielmehr knüpfen sich an offene Fragen in Bezug auf die praktische Durchführung der Haftungsbeschränkung solche nach der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht. Fraglich erscheint ua, in welcher Weise die Haftungserleichterung umgesetzt werden soll, wenn die Gewerkschaft von einer Mehrzahl geschädigter AG in Anspruch genommen wird: Bringt man das Prioritätsprinzip zur Anwendung, werden idR jene AG, die als erstes ein rechtskräftiges Urteil erwirkt haben, voll befriedigt, während die übrigen leer ausgehen. Damit entscheiden vielfach die Unwägbarkeiten des gerichtlichen Verfahrensgangs darüber, ob eine Ersatzpflicht besteht oder nicht; Zweifel an der Sachlichkeit einer solchen Ungleichbehandlung von AG, die durch das gleiche Verhalten geschädigt wurden, sind alles andere als unangebracht. Aber auch eine anteilsmäßige Kürzung der Ersatzansprüche sämtlicher geschädigter AG erweist sich als problematisch: Einerseits bestehen Bedenken, inwieweit ein Zivilprozess für eine endgültige Quotenberechnung geeignet ist (vgl OGH 29.6.2017, 8 Ob 94/16f: zu § 275 Abs 2 UGB). Andererseits ist es zweifelhaft, ob die Einfügung einer derartigen materiellrechtlichen Haftungsbeschränkung ohne insolvenzrechtliche Begleitgesetzgebung den Anforderungen des Gleichheitssatzes genügen kann: Gerät die Gewerkschaft nämlich trotz Haftungserleichterung für Streikschäden in weiterer Folge aufgrund „normaler“ Verbindlichkeiten in Insolvenz, führt dies zu einer doppelten Kürzung der Ersatzansprüche der durch einen rechtswidrigen Streik geschädigten AG: Neben der Kürzung ihres Anspruchs aufgrund des materiellen Rechts müssen sie sich auch eine Kürzung aufgrund des Insolvenzrechts gefallen lassen. Damit erhalten sie lediglich eine „Quote von der Quote“, obwohl das Ziel der materiellrechtlichen Haftungsbeschränkung – die volle Funktionsfähigkeit des Tarifpartners zu erhalten – gescheitert ist (vgl allgemein dazu Schauer, Die Reduktionsklausel im Entwurf des österreichischen Schadenersatzrechts, NZ 2007, 131 f).

Der Verdienst der vorliegenden Arbeit liegt darin aufgezeigt zu haben, dass der Status quo des deutschen Arbeitskampfrechts zu einer Gefährdung des Tarifsystems führt. Die Schlussfolgerung, die de lege lata daraus zu ziehen ist, kann jedoch nicht die von Malorny vorgeschlagene Modifikation des zivilrechtlichen Schadenersatzrechts sein. Diese würde willkürliche Ergebnisse nach sich ziehen und damit ebenso gegen verfassungsrechtliche Vorgaben verstoßen wie die derzeitige Gefährdung des Tarifsystems. Es bedarf folglich eines anderen Ansatzes: Wenn eine tragfähige Lösung auf Basis der zugrunde gelegten Prämissen nicht gefunden werden kann, sind es die Prämissen, die es zu überdenken gilt. Damit verlagert sich der Fokus von der Rechtsfolge auf den Tatbestand. Malorny scheut vor dieser Konsequenz zurück, weil sie meint, dass „die Rechtsfolge selbst [...] die Erfüllung der tatbestandlichen Bedingung nicht [beeinflusst]“ (171). Das Gegenteil ist der Fall. Das Prinzip der beiderseitigen Rechtfertigung von Rechtsfolgen (grundlegend F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts3 [2013] 92 ff) gebietet es, bereits bei der teleologischen Interpretation des Tatbestands die Rechtsfolge mitzubedenken (Kodek in Rummel/Lukas, ABGB4 § 6 Rz 162). Das bedeutet: Nicht das positivierte Schadenersatzrecht, sondern die ungeschriebene Arbeitskampfdoktrin erweist sich vor dem Hintergrund der Gefährdung des Tarifsystems als anpassungsbedürftig.