Der OGH zur Entschädigung von Lebensrettern im nicht benachbarten EU-Ausland
Der OGH zur Entschädigung von Lebensrettern im nicht benachbarten EU-Ausland
Problemstellung
Der persönliche Geltungsbereich der VO 883/2004
Das grenzüberschreitende Element im EU-Freizügigkeitsrecht
Das grenzüberschreitende Element im Koordinierungsrecht
Die Rechtsauffassung des OGH
Der sachliche Geltungsbereich der VO 883/2004
Die Versagung der Hinterbliebenenleistungen als Verstoß gegen Art 21 AEUV
Die Dogmatik der EuGH-Rsp zu Art 21 AEUV
Die Argumentation des OGH
Objektive Rechtfertigung der Beschränkung?
Der bei seiner Rettungstat verunglückte Ehemann bzw Vater der Kl war österreichischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich, so dass er die Voraus setzungen für den abgeleiteten Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen vermitteln konnte, was allerdings an dem Umstand scheiterte, dass die einschlägige Regelung ein Unfallgeschehen nur in Nachbarstaaten erfasst. Diese aus § 176 Abs 4 ASVG resultierende Rechtsfolge ist eindeutig. Möglicherweise steht ihr höherrangiges europäisches Recht entgegen. Der OGH hat hierzu eine eingehende Prüfung vorgenommen, dessen Duktus die nachstehende Untersuchung folgt.
Die naheliegende Rechtsquelle bei Sozialleistungen ist hierbei das Koordinierungsrecht der Leistungen der sozialen Sicherheit. Denn die Bestimmung des Art 5 lit b) VO 883/2004 würde zu der hier interessierenden Problematik die Lösung in dem Sinne herbeiführen, dass der Unfall in Portugal wie ein Unfall in Österreich zu behandeln wäre. Die Anwendung der VO 883/2004 setzt zunächst voraus, dass der persönliche Geltungsbereich iSd Art 2 VO 883/2004 eröffnet ist. Da der OGH diesen wegen Fehlens eines grenzüberschreitenden Elements verneint hat, liegt im Folgenden einer der Schwerpunkte darin, Entwicklung und Stand der Dogmatik hierzu nachzuzeichnen (unten 2.).
Auch wenn sich für den OGH auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung die Prüfung des sachlichen Geltungsbereichs erübrigte, sollen wichtige Fragestellungen, die die Vorinstanz des OLG Linz beschäftigt haben, erörtert werden (unten 3.)
Schließlich muss ein Hauptaugenmerk auf die primärrechtliche Vorschrift des Art 21 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gerichtet werden, die auf Grund der Rsp des EuGH einen weiten Anwendungsbereich besitzt. Die Handhabung dieser Vorschrift durch den OGH bildet deshalb einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung (unten 4.). 420
Die Grundfreiheiten der AN-Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit, aber auch die allgemeine für alle Personen geltende Freizügigkeit geben Schutz vor Diskriminierung und Beschränkungen, wenn von diesen Freiheiten Gebrauch gemacht wird. Solange die Akteure ihre Aktivitäten auf ein und dasselbe Staatsgebiet beschränken, treten diese Rechte nicht in Aktion, bestimmen sie sich allein nach nationalem Recht. Erst die vorübergehende oder dauerhafte Verlagerung der Aktivität in einen anderen Mitgliedstaat eröffnet Tatbestände der Art 45, 49, 56 und 21 AEUV.
Bereits in der Frühphase der europäischen Integration legte der EuGH den Grundstein für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements als Voraussetzung der Anwendbarkeit der Personenfreizügigkeit. In der EuGH-E Rs Debauve aus dem Jahr 1980 ist die später nur noch unwesentlich geänderte Formulierung enthalten, wonach die „Vertragsbestimmungen über den Dienstleistungsverkehr nicht auf Betätigungen anwendbar sind, deren wesentliche Elemente nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen“.* Diese Rsp wurde in weiteren Urteilen zur Dienstleistungsfreiheit* sowie für die Niederlassungsfreiheit* und schließlich zur AN-Freizügigkeit* fortgeführt, wobei die tatsächlichen Feststellungen für das Vorliegen der über die Grenzen hinausweisenden Gesichtspunkte/Elemente dem nationalen Gericht überantwortet sind. Erst dann – so hat der EuGH in der Rs Steen formuliert – kann sich ein Problem der Nichtdiskriminierung ergeben. Die Notwendigkeit des Vorliegens eines grenzüberschreitenden Elements ergibt sich für Art 21 AEUV bereits aus dem Wortlaut und ist unbestritten.*
Noch früher als bei den primärrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit ist im Koordinierungsrecht das Problem eines grenzüberschreitenden Sachverhalts aufgetaucht. Ohne den Terminus selbst zu benutzen, begründet der EuGH bereits unter Geltung der VO Nr 3 in der Sache das Erfordernis des grenzüberschreitenden Elements im Koordinierungsrecht.* Im Anschluss an die Rs Unger* formulierte der EuGH in der Rs Bertholet, dass die VO Nr 3 „auf Arbeitnehmer anwendbar ist, die sich vorübergehend im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, gleichviel welches der Grund ihres Auslandsaufenthalts ist“.* Eine wesentliche Rolle spielte in der Begründung die auch heute noch in Art 48 AEUV enthaltene Wendung des seinerzeitigen Art 51 EWGV „die für die Herstellung der Freizügigkeit notwendigen Maßnahmen“. Das Koordinierungsrecht ist schon von seiner primärrechtlichen Grundlage her Freizügigkeitsrecht.*
Noch unter Geltung der VO 1408/71 sind die Weichen für die dogmatische Ausrichtung des (ungeschriebenen) Tatbestandsmerkmals „grenzüberschreitendes Element“ gestellt worden. Dabei greift der Gerichtshof auf die früheren im Primärrecht geschaffenen Grundlagen zurück. In der Rs Petit nimmt der Gerichtshof wortwörtlich die Formulierungen in den oben zitierten zur Dienstleistungsfreiheit bzw AN-Freizügigkeit ergangenen Entscheidungen Morais und Steen auf: „Nach ständiger Rechtsprechung gelten die Vorschriften des EWG-Vertrags über die Freizügigkeit und die zu ihrer Durchführung ergangenen Verordnungen nicht für Tätigkeiten, die mit keinem Element über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweisen; ob dies der Fall ist, hängt von tatsächlichen Feststellungen ab, die das innerstaatliche Gericht zu treffen hat.“*
Man hätte erwarten dürfen, dass der OGH eine Bewertung der Voraussetzungen auf der Linie der vorgenannten Rs Petit vornehmen würde, weil er diese EuGH-E an den Anfang seiner Ausführungen stellte (Z 3.2). Diese E taucht jedoch in der folgenden Begründung nicht mehr auf. Stattdessen wird Bezug auf eine Kommentierung genommen,* aus der entnommen wird, dass der „als Grundvoraussetzung für die Anwendung des EU-Rechts zu fordernde Unionsbezug daher voraussetze, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche (Unterstreichung OGH) Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen“
, wobei einzelne in der Kommentarstelle aufgelistete Umstände wie Staatsangehörigkeit, Wohn-oder Beschäftigungsort usw wiedergegeben werden (Z 3.3.).
Der Terminus der rechtlichen Beziehung wird zum tragenden Begründungselement des Urteils. Es gelangt zu der Feststellung, dass ein grenzüberschreitendes Element begründende Umstände in dem zu entscheidenden Fall nicht vorliegen (Z 4.1.) Der einzige auf den Mitgliedstaat Portugal bezogene Umstand sei der Ort des Unfalls. Hierin liege aber bloß eine faktische Beziehung, zumal die Kl nicht behaupten, dass durch den Unfall Ansprüche nach portugiesischem Sozialrecht begründet wären (4.3). 421 Diese Rechtsauffassung trägt die Verneinung des grenzüberschreitenden Elements nicht. Sie steht in eindeutigem Widerspruch zu der in dem Urteil zwar erwähnten, aber inhaltlich nicht aufgegriffenen Rsp des EuGH. In keinem seiner Entscheidungen hat der EuGH eine rechtliche Beziehung zur Erfüllung des Merkmals verlangt. Schon der Begriff des grenzüberschreitenden Elements beinhaltet, dass es sich in aller Regel um faktische Gegebenheiten handelt, die für die Subsumtion unter diesen Begriff konstitutiv sind. Dies kommt in der zur Standardformel gewordenen unmissverständlichen Formulierung in der Rs Petit zum Ausdruck, wonach der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts und der auf seiner Basis ergangenen Verordnungen nicht gegeben ist „für Tätigkeiten, die mit keinem Element über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausreichen“
. Alle oben zitierten Urteile des EuGH hatten tatsächliche Sachverhalte zum Gegenstand, mit denen das grenzüberschreitende Element begründet wurde. Das einfachste grenzüberschreitende Element wird durch den Aufenthalt begründet. Selbst wenn sich dabei ein privater (im Gegensatz zum Arbeitsunfall) Unfall ereignet, ändert dies nichts am Bestehen eines grenzüberschreitenden Elements und führt zur Anwendung der KoordinierungsVO. Das zeigen zahlreiche Urteile des EuGH.*
Der Aufenthalt des Verstorbenen war im vorliegenden Fall demnach ein grenzüberschreitendes Element. An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn man im Gegensatz zur Prüfformel des EuGH als Ausgangspunkt der Prüfung eine rechtliche Beziehung forderte. Diese muss nur in ihrer koordinationsrechtlichen Relevanz verstanden werden. In diesem Sinn erläutert die vom OGH in Bezug genommene Kommentarstelle die konstitutiven Umstände, welche von der Staatsangehörigkeit abgesehen allesamt tatsächliche Elemente sind. Aus tatsächlichen Gegebenheiten resultieren fast immer Rechtsbeziehungen. Das gilt auch für den in Art 1 lit k) VO 883/2004 definierten Aufenthalt, womit eine koordinierungsrechtliche Beziehung entsteht, die bei Hinzutreten weiterer Voraussetzungen zu Leistungen aus der Koordinierung führen kann. Mit dem Überschreiten der Grenze begründet der Unionsbürger aber auch eine freizügigkeitsrechtliche Beziehung, die von den Vorschriften der UnionsbürgerRL 2004/38 rechtlich gestaltet wird. Und schließlich ist der unionsrechtliche Bezug auch dadurch gegeben, dass die Reise des Verstorbenen in Wahrnehmung seiner passiven Dienstleistungsfreiheit erfolgte, die aus Art 56 AEUV resultiert.* Somit steht fest, dass sich im vorliegenden Fall das grenzüberschreitende Merkmal unter verschiedenen Anknüpfungspunkten herleiten lässt. Der OGH hat deshalb zu Unrecht den persönlichen Geltungsbereich des Art 2 VO 883/2004 verneint.
Wäre der persönliche Geltungsbereich bejaht worden, wären schwierige Fragen im Zusammenhang mit Art 3 VO 883/2004 zu beantworten gewesen. Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, die Problematik eingehend zu erörtern. Einige Anmerkungen scheinen dennoch notwendig. Der in § 176 ASVG geregelte Anspruch auf Leistungen für Lebensretter erfüllt sicherlich die Voraussetzungen einer Leistung der sozialen Sicherheit iSd Art 3 Abs 1 VO 883/2004. Es könnte aber der Ausnahmetatbestand des Art 3 Abs 5 VO 883/2004 greifen, wenn man in diesen Leistungen eine Haftungsübernahme eines Mitgliedstaats für Personenschäden mit Entschädigungsleistung subsumieren wollte. Das Berufungsgericht hat diesen Weg beschritten.
Das Problem besteht darin, dass die Mitgliedstaaten neben der klassischen Arbeitsunfallversicherung für bestimmte Personengruppen Leistungen der Arbeitsunfallversicherung vorsehen, wenn sie einen Unfall in dem für sie bezeichneten Tätigkeitsbereich erleiden, dabei aber das Arbeitsunfallrecht für anwendbar erklären. Dazu gehören zB Unfälle von Studenten, Schülern, Zeugen, Blutspendern oder wie hier Lebensrettern. In der deutschen Fachliteratur wird hierbei von der sogenannten unechten UV gesprochen.* Ob diese Unfälle in die Koordinierung der Leistungen bei Arbeitsunfällen nach Art 36 ff VO 883/2004 fallen, ist bislang nicht geklärt. Während Art 52 VO 1408/71 Arbeitsunfälle nur für AN und Selbständige vorsah, enthält Art 36 VO 883/2004 eine Beschränkung auf diesen Personenkreis nicht mehr. In der Literatur wird die Anwendbarkeit des Koordinierungsrechts zum Teil befürwortet,* zum Teil verneint* oder offen gelassen.*
Sicher ist, dass der Begriff nach EU-Recht zu beurteilen ist.* Das bedeutet auch, dass es nicht ausschlaggebend ist, wenn die Entschädigung von Lebensrettern nach der nationalen Systematik als soziale Entschädigung (im Gegensatz zur SV) betrachtet wird. Dass die Lebensretterhaftung nicht über Beiträge finanziert wird, kann nicht ausschlaggebend sein. Das ergibt sich bereits aus Art 3 Abs 2 VO 883/2004. In der deutschen Literatur hat man versucht, eine Abgrenzung von echter und unechter UV dahingehend vorzunehmen, dass erstere an das Grundmodell der abhängigen Beschäftigung und vergleichbare Fälle sozialer Schutzbedürftigkeit anknüpft,* letztere an Tätigkeiten im Allgemeininteresse, wobei aber vermerkt wird, dass damit eine trennscharfe Abgrenzung nicht möglich ist.* Wenn der EuGH einmal aufgefordert sein sollte, den Begriff der Entschädigung von Personenschäden für nicht beispielhaft genannte 422 Materien zu erläutern, könnte es durchaus sein, dass er sich dabei an dem bisherigen Ausschlusstatbestand der Kriegsopferversorgung orientiert. Auch für diese waren immer wieder Abgrenzungsfragen zu beantworten.* Dabei hat der Gedanke der nationalen Anerkennung als wesentliches Motiv für Leistungen der Kriegsopferversorgung eine wichtige Rolle gespielt. Kann man sagen, dass die Entschädigung für Lebensretter auch diesen nationalen Bezug aufweist? Im Krieg kämpfen die Soldaten im Dienst für das eigene Land. Der Lebensretter ist auch für Menschen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Staatsangehörigkeit tätig. Es zeigt sich, dass die Zuordnung einer Leistung zu Art 3 Abs 5 VO 883/2004 einer europaeinheitlichen Richtschnur und Orientierung bedarf, die nur der EuGH liefern kann. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll gewesen, wenn das Berufungsgericht, das sich mit der Vorschrift auseinandersetzte, nicht selbst entschieden, sondern die Frage dem EuGH vorgelegt hätte.
Vor dem Hintergrund der Verneinung des persönlichen Geltungsbereichs der VO 883/2004 musste sich der OGH konsequenterweise nicht mit Art 3 Abs 5 VO 883/2004 befassen. Vielmehr unternimmt er eine Prüfung der Unfallregelung für Lebensretter anhand von Art 21 AEUV. Dies überrascht und stellt gewissermaßen einen Bruch mit oder eine indirekte Rücknahme seiner Annahme dar, dass ein grenzüberschreitendes Element nicht vorliege. Denn wie oben gezeigt wurde,* ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements unbestrittene Voraussetzung für die Anwendung des Art 21 AEUV. Für den Ausgang des Rechtsstreits kann dies aber bei Seite gelassen werden, entscheidend ist, dass eine Prüfung anhand von Art 21 AEUV vorgenommen wurde. Und ehe man sich den hierzu vom OGH vorgetragenen Argumenten zuwendet, ist es notwendig, die in der Rsp des EuGH entwickelte Dogmatik zu Art 21 AEUV in seinen wesentlichen Koordinaten und zentralen Inhalten vorzustellen.
Es geht zunächst um Urteile des Gerichtshofs, die noch zur Vorläufervorschrift des Art 18 EG vor allem in den Jahren nach 2000 ergangen sind, mit denen – kurz gesagt – die heute gleichlautend in Art 21 AEUV verbriefte, an die Unionsbürgerschaft geknüpfte Freizügigkeit zu einer Grundfreiheit ausgebaut wurde. Diese Rsp des EuGH deutet die Garantie allgemeiner Freizügigkeit nach Art 21 AEUV als umfassendes Beschränkungsverbot.* Und man möchte hinzufügen, dass der Schwerpunkt der Entwicklung dieser Rsp gerade die Inanspruchnahme von Sozialleistungen betraf.* Bemerkenswert ist, dass dabei auch Ansprüche auf Leistungen, die nach Art 3 Abs 5 VO 883/2004 von der Koordinierung ausgenommen sind, einer freizügigkeitsrechtlichen Prüfung unterzogen werden müssen.*
Das Fundament und den Ausgangspunkt der Freizügigkeitsrechtsprechung, soweit Sozialleistungen betroffen sind, bildet jener Corpus von Urteilen, die in den seinerzeit aufsehenerregenden Rs Decker*und Kohll* ergangen sind. Die in diesen Entscheidungen entwickelten und mittlerweile in zahlreichen weiteren Rechtssachen bestätigten Grundsätze zum Verhältnis von nationalem Sozialrecht und EU-Recht* münden in die Formel ein, wonach das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, gleichwohl die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht beachten müssen. Der erste Teil dieser Formel garantiert die Autonomie und ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, darüber zu entscheiden, ob sie ein System der sozialen Sicherheit einrichten; eine Verpflichtung hierzu besteht nicht. Aber wenn sie sich für ein bestimmtes System der sozialen Sicherheit entscheiden, muss dies im Einklang mit dem Unionsrecht geschehen.
Diese Grundsätze werden von der Rsp zu Art 21 AEUV aufgegriffen. Exemplarisch sei auf die Rs Tas-Hagen verwiesen. Es wird anerkannt, dass die Entschädigung für zivile Kriegsopfer in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Aber: „Diese müssen von dieser Zuständigkeit jedoch unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Vertragsbestimmungen über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen.“
* Spätere Urteile folgen dieser Richtschnur.* Darin liegt ein ganz wesentlicher Pfeiler des Gebäudes, in dem die Beachtung der Grundfreiheiten ebenso für das Recht der sozialen Sicherheit wie für das Recht der allgemeinen Freizügigkeit bei der Gestaltung sonstiger Sozialleistungen postuliert wird. Treffend wurde formuliert:*„Die mitgliedstaatliche Kompetenz wird unter den Generalvorbehalt der Unionsbürgerschaft, insbesondere der Freizügigkeit, gestellt.“
Aber es gilt auch hier, dass für die Mitgliedstaaten keine Verpflichtung erwächst, bestimmte Ansprüche auf Sozialleistungen zu etablieren. Aber wenn sie es tun, muss es im rechtlichen Rahmen des Freizügigkeitsrechts geschehen. Das hat der EuGH 423 immer wieder im Zusammenhang mit Ansprüchen auf Förderung eines Auslandsstudiums betont.*
Eine Angleichung an die übrigen Grundfreiheiten beruht auf einem weiteren Pfeiler, der die unionsbürgerschaftlich begründete Freizügigkeit mit einem umfassenden Beschränkungsverbot versieht.
Kernaussagen der Rsp hierzu sind:
Eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkung der Freiheiten dar, die Art 21 AEUV jedem Unionsbürger verleiht.*
Die vom Vertrag eröffneten Erleichterungen der Freizügigkeit könnten ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile daran knüpft, dass er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat.*
Der OGH hat auf alle vorgenannten und weiteren für den Rechtsstreit einschlägigen Entscheidungen des EuGH Bezug genommen (Z 6.1.-7.4.). Dabei werden alle prüfungsrelevanten Akzente fast immer in Anlehnung an den Wortlaut des Gerichtshofs hervorgehoben. Aber die Anwendung der Grundsätze der Rsp des Gerichtshofs bleibt weitestgehend aus.
Der OGH widerspricht der Auffassung der Revision, dass Österreich verpflichtet sei, den Unfallversicherungsschutz von Lebensrettern auch für Unfälle im EU-Ausland vorzusehen. Dem ist zuzustimmen, wobei der OGH sich auf die von ihm unter Z 7.2. zitierte Rsp des EuGH berufen kann. Aber warum greift er nicht den ebenfalls in Z 7.2. zitierten, aus der Rs Tas-Hagen entnommenen Satz auf, wonach dann, wenn ein Mitgliedstaat ein solches vorsieht, es so ausgestaltet werden muss, dass das aus Art 21 AEUV fließende Freizügigkeitsrecht nicht in ungerechtfertigter Weise beschränkt wird?
Österreich hat in § 176 Abs 1 und 4 ASVG ein System des Unfallversicherungsschutzes von Lebensrettern im Ausland eingeführt, allerdings beschränkt auf benachbarte (de facto) EU-Länder. Hierzu merkt der OGH an (Z 8.5.), dass die Frage, ob die in § 176 Abs 4 ASVG festgelegten Anspruchsvoraussetzungen geeignet seien, das Freizügigkeitsrecht einzuschränken, im zu beurteilenden Fall nicht entscheidend sei, weil die österreichische Staatsbürgerschaft* und der (letzte) Wohnsitz des Verstorbenen nicht strittig sind. Offenbar wird dabei davon ausgegangen, dass eine Prüfung des in Art 21 AEUV enthaltenen Beschränkungsverbots entbehrlich ist, wenn Staatsangehörigkeit und Inlandswohnsitz als Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind. Es ist einzuräumen, dass in den meisten vom OGH in Bezug genommenen Urteilen des EuGH das Fehlen eines Inlandswohnsitzes als Voraussetzung des Leistungsanspruchs Gegenstand der Prüfung anhand von Art 21 AEUV war. Aber anzunehmen, wie es der OGH tut, dass nur darin eine Beschränkung der Freizügigkeit bestehen könne und deshalb eine Prüfung aus anderen Gründen entbehrlich sei, steht in eindeutigem Widerspruch zur Rsp des EuGH.
Bereits die vom OGH unter Z 7.4. und 7.5. in Bezug genommenen Urteile in den Rs d‘Hoop, Martens sowie Morgan und Buchner zeigen, dass auch andere Merkmale Beschränkungen darstellen können. Diese Urteile hätten sogar als Richtschnur für die OGH-E dienen können. Es sind Beispiele dafür, dass der Schutz des Art 21 AEUV auch zugunsten von eigenen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats mit dortigem Wohnsitz gilt, wenn diese von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben.* Im Fall d‘Hoop wurde der belgischen Kl mit Wohnsitz in Belgien das für Schulabgänger vorgesehene Überbrückungsgeld versagt, weil sie ihre Schulbildung in Frankreich absolviert hatte. Entsprechend den oben unter 4.1. wiedergegebenen Grundsätzen wird dies als Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern angesehen, weil sie trotz belgischer Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in Belgien allein deshalb benachteiligt wird, weil sie in Wahrnehmung ihres Freizügigkeitsrechts eine Schulbildung im EU-Ausland absolviert hatte.*
Genau in diesen Begründungsduktus passt der Lebensretterfall, den der OGH zu entscheiden hatte. Den Kl werden die Hinterbliebenenleistungen allein deshalb versagt, weil der Verstorbene zwar die Anspruchsvoraussetzungen Staatsangehörigkeit und Wohnsitz in Österreich erfüllt, die leistungsauslösende Handlung in Wahrnehmung seines Freizügigkeitsrechts aber in Portugal vorgenommen hatte. Das gleiche Geschehen in Österreich oder Deutschland hätte zu einem Anspruch geführt. Damit ist die Benachteiligung allein auf die Wahrnehmung der Freizügigkeit und man könnte hinzufügen „der (passiven) Dienstleistungsfreiheit“ zurückzuführen.*
Die Richtigkeit dieses Ergebnisses lässt sich durch ein weiteres neueres Urteil des EuGH unterstreichen.*424Der schwerbehinderte finnische Kl mit Wohnsitz in Finnland benötigt an seinem Studienort in Estland eine sogenannte persönliche Assistenz. Diese ist nach finnischem Recht für Schwerbehinderte vorgesehen, nicht aber für ein Studium im Ausland. Der Kl macht die Gewährung dieser persönlichen Assistenz in Estland geltend.
Der EuGH verneinte das Vorliegen einer Leistung bei Krankheit, so dass die VO 883/2004 nicht zur Anwendung gelangte. Als sedes materiae sah der Gerichtshof Art 21 AEUV als einschlägig an. Dabei wiederholte der Gerichtshof seine allbekannten Grundsätze zur Unzulässigkeit von Beschränkungen der Freizügigkeit nach dieser Vorschrift. Die finnische Bekl wandte dagegen ein, dass das Behindertengesetz eine persönliche Assistenz nicht für ein Auslandsstudium vorsah. Es wollte damit zu erkennen geben, dass Mitgliedstaaten nicht zur Schaffung eines Systems der sozialen Sicherheit verpflichtet seien und das finnische Recht ein solches für eine persönliche Assistenz für ein Auslandsstudium auch nicht vorgesehen hätte.
Das hinderte den EuGH nicht, dennoch seine „Beschränkungsrechtsprechung“ zur Anwendung zu bringen.* Wörtlich heißt es: „Es steht indes fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz nur mit der Begründung verweigert wurde, dass das Hochschulstudium, das A – der im Übrigen sämtliche weiteren Voraussetzungen für diese Assistenz erfüllte – aufzunehmen beabsichtigte, in einem anderen Mitgliedstaat als Finnland stattfinden sollte. Eine solche Verweigerung ist als Beschränkung der jedem Unionsbürger von Art 21 Abs 1 AEUV zuerkannten Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, anzusehen.“
ME bestätigt diese Entscheidung die bisherigen Grundsätze der Rsp zu Art 21 AEUV nicht nur, sie geht sogar einen Schritt weiter. Eine Beschränkung liegt nämlich auch dann vor, wenn kein System für Auslandsaktivitäten geschaffen wurde, aber das Hindernis allein an eine solche geknüpft ist. Im Ergebnis würde das für die österreichische Entschädigungsregelung darauf hinauslaufen, dass diese Rettungspersonen auch dann zugutekäme, wenn es den Abs 4 des § 176 ASVG nicht gäbe, der Leistungsanspruch vielmehr auf das Staatsgebiet beschränkt wäre.
Nach stRsp des EuGH kann eine Beschränkung der Freizügigkeit gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimer Weise verfolgten Ziel steht. Verhältnismäßig ist eine Vorschrift oder Maßnahme, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist.* Der OGH hat konsequenterweise eine solche Prüfung nicht angestellt, weil er bereits eine Beschränkung verneinte.
Dem Verfasser dieser Zeilen ist die Gesetzgebungsgeschichte, die zu § 176 Abs 4 ASVG geführt hat, nicht im Einzelnen bekannt. Einer Regierungsvorlage aus dem Jahre 1978* ist zu entnehmen, dass ursprünglich an eine Gleichstellung mit Arbeitsunfällen gedacht war, wenn die Rettung außerhalb des österreichischen Staatsgebietes vorgenommen wurde, sofern der Unfallort von der österreichischen Staatsgrenze nicht mehr als 10 km in der Luftlinie entfernt war. Das zeigt, dass die grundsätzliche Beibehaltung des Territorialitätsprinzips befürwortet wurde, der Gesetzgeber sich aber letztlich doch für eine großzügigere Handhabung entschied. Da Österreich an Länder grenzt, die für den Bergtourismus bedeutsam sind, könnte die Ausdehnung auch damit in Zusammenhang stehen, insb wenn es um Hilfsmaßnahmen zugunsten österreichischer Staatsbürger ging.
Auf die Gefahr hin, ein tatsächliches gesetzgeberisches Ziel in dessen Unkenntnis außer Acht zu lassen, wird man aber doch starke Zweifel anmelden müssen. Warum sollte die bloße geographische Nachbarschaft zu einem Mitgliedstaat der EU ein legitimes Ziel der Beschränkung sein? Lebensrettungshandlungen und dabei erlittene Schäden oder gar der Tod erscheinen sozialrechtlich nicht schützenswerter in Nachbarstaaten als in Ländern, mit denen keine gemeinsame Grenze besteht.
Realistischer ist die Annahme, dass das gesetzgeberische Ziel in der Kostenbegrenzung lag. Es entspricht stRsp, dass rein wirtschaftliche Gründe eine Beschränkung nicht rechtfertigen. Jedoch kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.* Die Fälle aus der Rsp des EuGH, in denen dieses Ziel aufgerufen war, zeigen freilich, dass die Hürden für den Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen sehr hoch sind. Soweit im Verfahren Argumente für die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts vorgetragen wurden, konnte sie der Gerichtshof manchmal bereits nach Aktenlage als nicht maßgeblich zurückweisen.* Wo dies nicht möglich war, wurde die Ermittlung der relevanten Tatsachen dem vorlegenden Gericht überantwortet.*
Da der OGH auf Grund der von ihm vertretenen Rechtsmeinung die Rechtfertigungsebene nicht ansprechen musste, sind dem Urteil keine Tatsachen zu entnehmen, die einer Bewertung im Hinblick auf die erhebliche Gefährdung der Finanzierung der sozialen Sicherheit zugänglich wären. Zu betonen ist allerdings, dass die geographische Nähe eines Landes zur Erreichung dieses Ziels entweder nicht geeignet ist oder über das Erforderliche iSd Verhältnismäßigkeitsprüfung hinausgeht. 425
Was den Vergleich der Entschädigungskosten bei Rettungsfällen anbelangt, sind die Kosten in Nachbarländern wie Deutschland, Schweiz und Italien sicherlich höher, zum Teil erheblich höher als in nicht benachbarten Ländern wie Kroatien oder Ungarn. Sicherlich ist ein Unfall in Hamburg und ein damit verbundener Rücktransport nach Österreich kostspieliger als ein vergleichbarer Unfall in dem kroatischen Rijeka. Für die Kosten der medizinischen Versorgung der Rettungsperson müsste die österreichische SV ohnehin aufkommen, ohne Rücksicht auf die geographische Lage des Unfallortes. Und die finanzielle Kompensation (Versehrtengeld, Unfallrenten, Hinterbliebenenleistungen) ist für die österreichische UV ohne Rücksicht auf den Unfallort identisch. Diese Überlegungen gelten auch im Hinblick auf Portugal. Lediglich im Hinblick auf Transportkosten könnten wegen der größeren geographischen Entfernung Bedenken bestehen. Ob aber Flüge im europäischen Raum von Portugal aus signifikant teurer sind als aus der Schweiz oder Deutschland darf ernsthaft bezweifelt werden. Mögliche Mehrkosten könnten außerdem durch niedrigere Versorgungs- und Personalkosten vor Ort egalisiert werden.
Zusätzlich ist in den Raum zu stellen, dass zu ermitteln wäre, ob überhaupt die Zahl der Rettungsfälle in nicht benachbarten Mitgliedstaaten im Verhältnis zu denen in Nachbarländern von Gewicht ist, so dass daraus eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts resultieren würde. Aber auch dann ist zu beachten, dass die Rsp des EuGH es nicht zulässt, Kostenkonflikte im Wege der Diskriminierung Betroffener zu lösen.* Der Diskriminierungsschutz für Unionsbürger wirkt auch zugunsten von eigenen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, wenn diese von den Freizügigkeitsregelungen des AEUV Gebrauch gemacht haben.* Personen, die Menschen retten, dürfen nicht diskriminiert werden, weil sie ihr europäisch verbrieftes Recht der Freizügigkeit nicht in Slowenien oder Italien, sondern in Portugal wahrgenommen haben. Vor diesem Hintergrund ist die Beschränkung in § 176 Abs 4 ASVG objektiv nicht gerechtfertigt.