Holoubek/Lienbacher (Hrsg)GRC-Kommentar – Charta der Grundrechte der Europäischen Union
2. Auflage, Manz Verlag, Wien 2019, XXII, 1.000 Seiten, Leinen, € 238,–
Holoubek/Lienbacher (Hrsg)GRC-Kommentar – Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Der von Holoubek/Lienbacher im Jahr 2014 begründete und nunmehr in zweiter Auflage herausgegebene Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist – man kann es nicht anders sagen – „eingeschlagen“. Innerhalb kürzester Zeit hat er sich zum Standardwerk bei Grundrechtsfragen mit Bezug zum Unionsrecht etabliert, wie seine beeindruckende Rezeption vor allem durch die Rsp zeigt. Verantwortlich dafür ist nicht nur die auch in Österreich steigende Anzahl an Verfahren, in denen es um Anwendungs- und Auslegungsfragen der GRC geht. Es zeugt vielmehr von der hohen Qualität dieses Kommentars, gäbe es doch inzwischen genug deutschsprachige Konkurrenzprodukte, die man zu Rate ziehen könnte.
Die zweite Auflage will diesen erfolgreichen Weg fortführen und festigen. Zu diesem Zweck wurde das Konzept der Kommentierung geringfügig, aber doch merklich, verändert. Bewährtes, wie die übersichtliche Darstellung der komplexen Querverbindungen der GRC zu anderen Rechtsquellen, wie der EMRK, dem AEUV oder der Europäischen Sozialcharta, in einem eigenen Abschnitt – mit der Überschrift „Inkorporierte Rechtsquellen“ – wurde erfreulicherweise beibehalten. Anderes wie der Versuch der Vorauflage, jeweils die Implikationen für Österreich herauszuarbeiten, wurde hingegen aufgegeben. Ein Grund dafür mag sein, dass man auf diese Weise die Breitenwirksamkeit des Kommentars im deutschsprachigen Raum außerhalb Österreichs erhöhen wollte. Zum anderen hat die Vorauflage gezeigt, dass sich nicht immer etwas Sinnvolles zu diesem Punkt schreiben ließ. Zuweilen haben sich die Implikationen für Österreich darauf beschränkt, auf die Rsp des VfGH (2012/VfSlg 19.632) zu verweisen, dass die Chartarechte als verfassungsgewährleistete Rechte iSd Art 144 bzw Art 144a B-VG zu qualifizieren sind und somit auch innerstaatlich geltend gemacht werden können. Dass freilich dort, wo auf konkrete Auswirkungen inhaltlich eingegangen wurde, diese Ausführungen auf Grund des Wegfalls dieses Gliederungspunktes nunmehr gar keine Erwähnung mehr finden (vgl zB Art 24), ist bedauerlich, da dadurch – gerade für den/ die österreichische/n RechtsanwenderIn – wichtige Erkenntnisse verloren gehen, die man in anderen Kommentaren vergeblich sucht. Man hätte in diesem Punkt vielleicht anlassbezogen etwas mehr Flexibilität zulassen können.
Inhaltlich erfüllt die zweite Auflage die wichtige Aufgabe, die seit 2014 ergangene Rsp des EuGH, die inzwischen zu einer gewissen Konturierung der Chartarechte geführt hat, einzuarbeiten. Diese stärkere Einbeziehung der Judikatur verleiht den Kommentierungen zweifelsfrei noch mehr Tiefgang, so zB wenn bei Art 27 die Rs AMS (EuGH 15.1.2014, C-176/12) kritisch analysiert wird (Rz 34 ff) oder bei der Ausleuchtung des Grundrechts auf kollektives Verhandeln gem Art 28 und dessen vom EuGH bereits in der Rs Albany grundgelegten Bereichsausnahme vom Kartellrecht auf die Rs FNV Kunsten (EuGH 4.12.2014, C-413/13) verwiesen wird (Rz 47). Zu letzterem Problemkreis würde man sich freilich eine etwas differenziertere Auseinandersetzung mit der Begründung des EuGH erwarten. Zwar ist es richtig, dass der Gerichtshof die Zulässigkeit kollektiver Vereinbarung für Aushilfsmusiker, die sich „in einer vergleichbaren Situation wie Arbeitnehmer befinden“ bejaht hat. Welche Personengruppe er damit konkret gemeint hat, ist hingegen alles andere als klar. Es ist nicht einmal gesichert, ob echte Selbständige diese Qualifikation überhaupt erfüllen können. Immerhin spricht der EuGH in dieser Entscheidung im selben Atemzug von „Scheinselbständigen“. Darunter versteht man gemeinhin persönlich abhängig Beschäftigte, die gerade keine Selbständigen sind. Für beide Ansichten gibt es Pro- und Kontra-Argumente (Grillberger, DRdA 2015, 167). Diese darzulegen, wäre freilich Aufgabe des Kommentars.
Ebenfalls unberücksichtigt bleibt die zuletzt vom EuGH in den Rs King (EuGH 29.11.2017, C-214/16) und Max-Planck-Gesellschaft (EuGH 6.11.2018, C-684/16) vorgenommene Aufwertung des Art 31 Abs 2, mit der die RL 2003/88/EG im Bereich des Urlaubsrechts zwischen Privaten neue Bedeutung gewonnen hat. Zwar wird die Rs King zitiert (Rz 35), konkrete Schlüsse werden daraus aber nicht gezogen. Auch auf die dazu ergangene Literatur (zB Auer-Mayer, DRdA 2018, 299; dies, ZAS 2018, 12) wird nicht Bezug genommen. Das mag zwar der zeitlichen Nähe dieser Entscheidungen zum Erscheinen der Neuauflage und der damit verbundenen frühzeitigen Abgabe des Manuskripts geschuldet sein. Diese gerade für das österreichische Arbeitsrecht wichtige und in andere Bereiche, wie das Arbeitszeitrecht, ausstrahlende Entwicklung sollte aber jedenfalls für die nächste Auflage berücksichtigt werden.
Dass eine solche dritte Auflage folgen wird, ist nur zur hoffen. Mit der vorgelegten zweiten Auflage haben die Herausgeber jedenfalls bereits unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, auf aktuelle Entwicklungen durch zeitnahe Neuauflagen zu reagieren. In Anbetracht der Vielzahl an AutorInnen ist das keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Nur so lässt sich aber sicherstellen, dass sich der Kommentar als Standardwerk etabliert. Das ist freilich jetzt schon gelungen!