WehringerDas Gutachten zum Pflegegeld – Ein Leitfaden zum Verfassen des perfekten Gutachtens
3. Auflage, Manz Verlag, Wien 2019, XII, 164 Seiten, broschiert, € 38,–
WehringerDas Gutachten zum Pflegegeld – Ein Leitfaden zum Verfassen des perfekten Gutachtens
Das nunmehr in dritter Auflage erschienene Werk von Christina Wehringer, ehemals Leiterin der ärztlichen Fachabteilung der Sektion IV im Sozialministerium, 507 ist mit Ausnahme eines Kapitels ident mit der Vorauflage. So blieben die die Einstufung von Personen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr betreffenden Kapitel 1 bis 4 sowie 6 und 7 vollkommen unverändert bzw unbearbeitet. Nur statistische Daten wurden aktualisiert, während zum Teil selbst Literaturzitatstellen nicht angepasst wurden. Diesen Teil betreffend kann unverändert auf die Rezension in DRdA 2016, 456 ff, verwiesen werden. (Nur) Für diesen Teil der Einstufung von Personen ab dem 15. Lebensjahr kann daher die Empfehlung aus der Vorrezension wiederholt werden, welche lautete: „Dieser Teil des Buches kann Gutachterinnen und Gutachtern im Verwaltungsverfahren, egal ob Neueinsteiger oder Erfahrene, die die eigene Begutachtungsroutine einer Selbstevaluierung unterziehen möchten, gleichermaßen als wichtiger Wegbegleiter bei der Gutachtenserstattung empfohlen werden.“
Leider blieb jedoch – wie in der Vorauflage – die Auseinandersetzung mit den qualifizierten Pflegekriterien der Stufen 5 bis 7 wenig gründlich, wodurch in der Praxis gleichermaßen wichtige wie schwierige Abgrenzungsfragen und Spezialprobleme (zB Anfallsleiden) weiter unbearbeitet bleiben.
Die einzige wesentliche Neuerung der dritten Auflage betrifft die völlige Überarbeitung des Kapitels 5 betreffend die Einstufung von Kindern und Jugendlichen bis zum 15. Lebensjahr. Diese wurde durch die mit 1.9.2016 in Kraft getretene Kindereinstufungsverordnung (Kinder-EinstV) erforderlich. Leider kann für diesen (einzig neuen) Teil der dritten Auflage keine vergleichbare Empfehlung abgegeben werden. Im Gegenteil: Vielmehr ist zu fürchten, dass jahrelang begangene (rechtliche) Fehler in der Einstufung von Kindern und Jugendlichen zu deren Lasten prolongiert oder erneut befeuert werden (sollen).
Zur Erinnerung: Der wahre Anlass für die erstmalige Schaffung einer eigenen Einstufungsverordnung für Kinder und Jugendliche war eine E des OLG Linz (6.11.2015, 11 Rs 109/15a). Dieses stellte klar, dass das von der Autorin mitgestaltete Konsensuspapier 2012 betreffend diese Altersgruppe sowie deren Ausführungen dazu in der ersten Auflage dieses Buches im Widerspruch zu den gesetzlichen Vorgaben des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) stand. Konkret sah das Konsensuspapier für die Eingabe von Mahlzeiten eines behinderten Kindes für die Überschreitung einen Maximalwert von zwei Stunden täglich vor, während nach § 4 Abs 3 BPGG der gesamte Pflegebedarf zu berücksichtigen ist, der über jenen von gleichaltrigen Gesunden hinausgeht, dies – anders als im Konsensuspapier 2012 vorgegeben – ohne Höchstgrenzen. Im konkreten Fall bedeutete dies eine Fehleinstufung um drei (!) Stufen.
Mit der Kinder-EinstV wurden in der Folge für diesen behinderungsbedingten Mehrbedarf iSd § 4 Abs 3 BPGG Richt- und Mindestwerte als Orientierungshilfe festgelegt. Natürlich variiert dieser Mehrbedarf auf Grund der Verschiedenartigkeit der Behinderungen aber von Betroffenen zu Betroffenen massiv. Systemkonform regelt daher die Kinder-EinstV ausdrücklich die Möglichkeit des Über- und Unterschreitens dieser Werte sowie die Voraussetzungen hiefür. Für eine korrekte Einstufung ist die Beachtung dieses Grundsatzes wesentlich.
Dennoch findet er in der dritten Auflage kaum bis keine Beachtung: Weder bei den einzelnen Pflegeverrichtungen, noch in den Übersichtstabellen im Annex und der Innenseite des Buchdeckels findet sich der Hinweis, dass die genannten Zeitwerte Richt- und Mindestwerte sind. Stattdessen werden diese einmal als „Orientierungshilfe“, ein anderes Mal als „Empfehlung für den Regelfall“ und wieder ein anderes Mal als „Pauschalwerte“ und in der Übersichtstabelle gar als „Überschreitungsrahmen“ (!) bezeichnet. Die Überund Unterschreitungsmöglichkeiten iSd § 3 Abs 6 und § 7 Kinder-EinstV werden hingegen an keiner Stelle explizit herausgearbeitet oder gar ihre Wichtigkeit betont, geschweige denn die Voraussetzungen hiefür dargestellt. Stattdessen wird mit dem Begriff „Überschreitungsrahmen“ erneut suggeriert, es sei eine Überschreitung nur in einem gewissen „Rahmen“ möglich, als gäbe es maximal berücksichtigbare Werte. Für den nicht bereits vorgeschulten Leser muss der Eindruck entstehen, als wären die Richt- und Mindestwerte ab Erreichung des Selbständigkeitsalters bzw vor dessen Erreichen im Falle einer schweren Funktionseinschränkung quasi „Fixwerte“. Dies scheint beabsichtigt zu sein, schreibt doch die Autorin, dass die Messung des jeweiligen Zeitaufwands nicht ausreichend exakt sei, weshalb mit der Kinder-EinstV die Entwicklung von typischen Zeitwerten und „Überschreitungsrahmen“ notwendig gewesen sei (Rz 206 f) und legt dar, dass so nicht in jedem Einzelfall der konkrete Zeitaufwand geprüft werden müsse (Rz 205). Richtig kann aber erst wenn der tatsächliche Aufwand feststeht, beurteilt werden, ob ein Abweichen vom Richtwert rechtlich gerechtfertigt ist oder nicht (OGH 13.9.2017, 10 ObS 67/17a).
Dazu passt, dass die Autorin sich gerade dem Anlassbeispiel der Nahrungseingabe in dieser Auflage besonders widmet, die Gutachter vor hohen Zeitangaben der Eltern quasi warnt, die Gründe hiefür in der Familiensituation sieht, familientherapeutische Hilfe für notwendig erachtet und de facto wieder in eine Empfehlung eines höchstzulässigen (glaubwürdigen) Werts von vier Stunden verfällt. Der in diesem Fall davon in Abzug zu bringende natürliche Pflegebedarf wird zudem noch falsch mit zwei statt mit lediglich einer Stunde beziffert (Rz 255), was eine Fehleinschätzung um 30 Stunden pro Monat zur Folge hätte.
Darüber hinaus werden im gesamten Kapitel der Kindereinstufung die tatsächlich rechtlich ausdrücklich geregelten Vorgaben, die Rsp und eigene Interpretationen der Autorin für den Leser völlig ununterscheidbar im Imperativ aufgelistet, als handle es sich allesamt um verbindliche Vorgaben für die Gutachter.
Insgesamt sind die Ausführungen geeignet, die Begutachtung und Einstufung von Kindern und Jugendlichen erneut in eine den gesetzlichen Vorgaben des BPGG und den Intentionen der Kinder-EinstV nicht entsprechende Richtung zu lenken.508