Däubler/KittnerGeschichte der Betriebsverfassung
Bund-Verlag, Frankfurt am Main 2020 624 Seiten, gebunden, € 48,–
Däubler/KittnerGeschichte der Betriebsverfassung
In diesen Jahren – wenn auch zuletzt überdeckt vom Schatten der Corona-Pandemie – häufen sich die 100-Jahr-Jubiläen wichtiger Institutionen und großer sozialer Errungenschaften. In den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden sowohl in Deutschland als auch in der neu gegründeten Republik Deutsch-Österreich die rechtlichen Grundlagen des Sozialstaats geschaffen.
Wenn in dieser Zeit der Jubiläen ein Buch mit dem Titel „Geschichte der Betriebsverfassung“ erscheint, wäre allein das für einschlägig Interessierte schon Grund genug, sich der Lektüre dieses Buches zu widmen. Wenn dann die Namen der Autoren Däubler und Kittner sind, wird dieses Buch für alle an der Geschichte des Arbeitsrechts Interessierten zur Pflichtlektüre.
Auf der Rückseite des umfangreichen Buches werden die Namen der beiden Autoren als „Markenartikel“ bezeichnet. Das ist keine marktschreierische Übertreibung, sondern – wie alle Sachkundigen wissen – eine korrekte Tatsachenfeststellung, die nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich gilt.
In der Tat scheint kaum jemand so sehr dazu berufen, über die historische Entwicklung der Betriebsverfassung zu schreiben, wie Däubler und Kittner gemeinsam. Neben zahlreichen anderen Publikationen auf allen Gebieten des Arbeitsrechts sind die beiden auch Herausgeber und Autoren eines großen Kommentars zum deutschen Betriebsverfassungsgesetz, eines Standardwerks (zuletzt in 17. Auflage!), das sich zurecht als „Kommentar für die Praxis“ bezeichnet. Darüber hinaus hat jeder der beiden Autoren ua jeweils ein grundlegendes Werk zum Arbeitskampf publiziert.
Wolfgang Däubler ist Professor für Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen; Michael Kittner ist emeritierter Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Kassel und langjähriger Justitiar der IG Metall.
Die hohen Erwartungen, mit denen man an die Lektüre des umfang- und inhaltsreichen Buches herangeht, werden mehr als erfüllt:
Von den mittelalterlichen Zünften über die betrieblichen Sozialkassen, die Arbeiterausschüsse im 19. Jahrhundert, die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, die Liquidation der demokratischen Betriebsverfassung im Nationalsozialismus, 426 die Wiedergeburt der betrieblichen Mitbestimmung nach dem Zweiten Weltkrieg, das Betriebsverfassungsgesetz 1952 bis zur Betriebsverfassung in der Gegenwart auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 spannt sich ein weiter Bogen detaillierter Darstellung der Entwicklung der Betriebsverfassung, wobei die Schwerpunkte auf dem BRG 1920, dem BetrVG 1952 und dem BetrVG 1972 liegen. Das Buch schließt mit einem ausführlichen Kapitel „Herausforderungen“, in dem aktuelle Probleme der Betriebsverfassung und der Betriebsratstätigkeit in der Praxis behandelt werden. Dazu gehören so wichtige Fragen wie prekäre oder arbeitnehmerähnliche Beschäftigung, Betriebsräte in der Krise des AG-Unternehmens, Krisenprävention oder (schon vor der Corona- Krise!) Kurzarbeit, Home-Office, mobile Arbeit, „Verflüssigung“ der Arbeitszeit, Crowdwork. Ein kurzer Abschnitt ist den Rechtsgrundlagen, der Funktionsweise und der Praxis des Europäischen BR gewidmet, zwei weitere Kapitel befassen sich mit den Themen „Betriebsrat und Globalisierung“ und „Betriebsrat in der digitalisierten Welt“ bis hin zur Frage neuer Arbeitsformen des BR, wie zB Betriebsratssitzungen in Form von Videokonferenzen.
Das Buch von Däubler und Kittner enthält aber nicht nur eine akribische wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der (deutschen) Betriebsverfassung, es stellt darüber hinaus auch einen (weiteren) wertvollen Beitrag zur Dogmatik und zur Institutionenlehre des Betriebsverfassungsrechts dar, der auch für Österreich relevant ist. Beispielhaft sei nur auf die zentralen Thesen von Sinzheimer zur Unterscheidung von politischer und wirtschaftlicher Demokratie und zur Tarifautonomie hingewiesen. Was Sinzheimer im Jahr 1919 zum Vorrang der Gewerkschaften in der Lohnpolitik postuliert hatte, gehört auch heute noch zu den tragenden Grundsätzen der Arbeitsverfassung – sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Ein anderes Beispiel, das die enge Verbindung des deutschen und des österreichischen Betriebsverfassungsrechts über die historische Entwicklung hinweg illustriert, ist die Anknüpfung der Organisation an den „Betrieb“. Die Definition des Betriebsbegriffs, wie sie in den 1920er-Jahren von Jacobi entwickelt worden ist, hat auch Eingang in das österreichische BRG 1947 (§ 2 Abs 1) gefunden und findet sich heute noch – allerdings dringend reformbedürftig – mit ähnlichem Wortlaut im § 34 Abs 1 des geltenden ArbVG.
Das Buch geht über eine deskriptive Darstellung der historischen Entwicklung der Betriebsverfassung weit hinaus. Es leuchtet den politischen Hintergrund und die gesellschaftlichen Zusammenhänge der gesetzlichen Regelungen aus und stellt immer wieder die Verbindung mit der Praxis der betrieblichen und der überbetrieblichen Interessenvertretung her. Vor allem der Teil über die „Betriebsverfassung in der Gegenwart“ (413 ff) zeichnet sich durch große Praxisnähe aus. Hier bringt Däubler als Autor nicht nur interessante Ergebnisse empirischer Untersuchungen, sondern auch eigene Erfahrungen ein, die er durch zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis illustriert. Dabei werden auch Handlungsanleitungen für eine möglichst effiziente Durchsetzung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte gegeben, was dem Buch – in Verbindung mit den Lehren aus der Geschichte – auch den Charakter eines Ratgebers für die Praxis verleiht. Vieles davon, wie etwa die aus einer Untersuchung von Kotthoff entwickelte „Typologie“ der Betriebsräte (468 ff), ist durchaus auch auf österreichische Verhältnisse übertragbar.
Die beiden Autoren haben sich den umfangreichen Stoff des Werkes geteilt, wobei jeder seinen Teil allein verantwortet: Michael Kittner hat den Zeitraum von den Anfängen bis zur NS-Zeit bearbeitet, Wolfgang Däubler alles vom Neuanfang 1945 bis heute. Im Vorwort betonen beide die enge Konsultation und das Vergnügen, das ihnen die gemeinsame Arbeit bereitet hat. Das merkt man auch als Leser. Trotz der geteilten Autorenschaft wirkt das Werk wie aus einem Guss: Übersichtliche Gliederung, klare, verständliche Sprache, flüssiger Stil, immer wieder unterlegt mit Hinweisen auf die Praxis, gut lesbar, ja stückweise sogar ausgesprochen spannend.
Das zeitliche Zusammentreffen des Erscheinens des Buches von Däubler und Kittner mit dem 100-Jahr-Jubiläum des ersten Betriebsrätegesetzes sowohl in Deutschland als auch in Österreich (vgl dazu meinen Beitrag in DRdA 2019, 292) regt auch zu einem Vergleich der Entwicklungslinien und der Grundlagen der Betriebsverfassung in beiden Ländern an. Ein solcher Vergleich mit demselben wissenschaftlichen Anspruch wie das Buch selbst kann natürlich nicht im Rahmen einer Rezension vorgenommen werden. Einige vergleichende Hinweise scheinen mir aber doch angebracht.
Zunächst fällt auf, dass zwischen der Entwicklung der Betriebsverfassung in Deutschland und jener in Österreich viele Gemeinsamkeiten und Parallelitäten bestehen. Das gilt sowohl für das, was Kittner als „Herkunftslinien“ der Betriebsverfassung bezeichnet (46), als auch für die weitere Geschichte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, die (nie verwirklichten) revolutionären Ansätze der Rätebewegung und der Sozialisierung, die anfangs kritisch-skeptische Haltung der Gewerkschaften gegenüber gesetzlich verankerten Betriebsräten, die spätere Kooperation zwischen den „zwei Säulen“ der AN-Interessenvertretung, den wachsenden Widerstand der Unternehmer, vor allem der Industrie, gegen die Betriebsräte und den politischen Druck auf die Gewerkschaften und Betriebsräte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre, die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit, das Ende von Republik und demokratischer Arbeitsverfassung und deren Liquidation durch den Nationalsozialismus.
Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die großen Entwicklungslinien der Betriebsverfassung in Deutschland und Österreich ähnlich verlaufen, wobei sich allerdings neben den weiter bestehenden Gemeinsamkeiten (Ausbau und Weiterentwicklung der Mitbestimmung über den Betrieb hinaus auf Unternehmen, Konzerne, Aufsichtsräte, Europäische Betriebsräte) doch auch 427 gravierende Unterschiede in den Systemen der kollektiven Interessenvertretung zwischen den beiden Ländern herausgebildet haben. Die Ursachen dieser strukturellen Verschiedenheit reichen bis in die stürmische Zeit der Entstehung der ersten Betriebsrätegesetze zurück.
Es zeigt sich also, dass es zwischen der Geschichte der Betriebsverfassung in Deutschland und jener in Österreich, vor allem bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und bis zur Republikgründung, weitgehende Gemeinsamkeiten gegeben hat.
Enge Verbindungen bestehen traditionell auch in der Arbeitsrechtswissenschaft. Es ist sicher kein Zufall gewesen, dass die beiden Ikonen der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft Hans Floretta und Rudolf Strasser ihre Habilitationsschriften jeweils einem zentralen betriebsverfassungsrechtlichen Thema im Rechtsvergleich mit dem deutschen Recht gewidmet haben. Viele Ähnlichkeiten gibt es letztlich auch im aktuell geltenden Gesetzesrecht zwischen dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz 1972 und dem österreichischen Arbeitsverfassungsgesetz 1974.
Wer aber aufgrund dieser Gemeinsamkeiten als fachlich interessierter österreichischer Leser erwartet, dass in der umfassenden Darstellung von Däubler/Kittner zumindest punktuell auch vergleichend auf die Situation in Österreich Bezug genommen wird, der wird enttäuscht: Lediglich in einer einzigen Fußnote (295) wird auf ein „vergleichbares Betriebsrätegesetz“ in Österreich hingewiesen, wobei aber nicht ausdrücklich erwähnt wird, dass Österreich damit das erste Land der Welt mit einem derartigen Gesetz gewesen ist (Zur Genese des BRG 1919 Mulley, DRdA 2019, 367).
Faktum ist, dass das österreichische Betriebsrätegesetz bereits am 15.5.1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung der „Republik Deutsch-Österreich“ beschlossen wurde, während das deutsche BRG erst im Jänner 1920 vom Reichstag verabschiedet und am 4.2.1920 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden ist.
Bei dieser Feststellung geht es nicht um einen kleinlichen Wettstreit über den zeitlichen Vorrang, sondern um eine grundsätzliche Weichenstellung für die weitere sozialpolitische Entwicklung, die letztlich dazu geführt hat, dass sich das aktuelle System der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Österreich trotz gemeinsamer Frühgeschichte von jenem in Deutschland in zentralen Punkten gravierend unterscheidet.
Nach einer ausführlichen Darstellung der Entstehungsgeschichte und des Inhalts des BRG 1920 kommen Däubler/Kittner zusammenfassend zu einem ernüchternden Befund: Das Hauptproblem des BRG 1920 sei gewesen, dass es als erstes Gesetz einer Reihe von anschließend geplanten Gesetzen zur Verwirklichung des Programms des Art 165 der Weimarer Reichsverfassung geschaffen wurde, dann aber durch das Ausbleiben weiterer Regelungen „in der Luft hing“, was zu Missverständnissen, Unklarheiten und Verständnisproblemen geführt habe (176).
Genau solche, die Vorschriften über die Betriebsräte ergänzende Gesetze konnten in Österreich während der Zeitspanne zwischen dem Beschluss des österreichischen BRG 1919 und des deutschen BRG 1920 geschaffen werden: Mit dem am 18.12.1919 von der Nationalversammlung beschlossenen, am 13.2.1920 in Kraft getretenen „Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge“ (zum 100-Jahr-Jubiläum dieses Gesetzes Felten/Mosler, DRdA 2020, 91; Mulley, DRdA 2020, 166) setzte der Gewerkschafter Ferdinand Hanusch als Sozialminister sein großes sozialpolitisches Reformwerk fort und schuf zusammen mit dem am 26.2.1920 beschlossenen Arbeiterkammergesetz (zu dessen 100-Jahr-Jubiläum Cerny, DRdA 2020, 4; Mulley, DRdA 2020, 64) die Grundlagen der österreichischen Arbeitsverfassung.
Aus heutiger Sicht unterscheidet sich die österreichische von der deutschen Arbeitsverfassung vor allem in folgenden zentralen Punkten:
Während in Deutschland das „Projekt Arbeiterkammer“ nach mehreren Gesetzentwürfen und endlosen Diskussionen in den revolutionären Plänen zur Sozialisierung der Wirtschaft „aufgegangen“ und damit letztlich gescheitert ist, konnte in Österreich die Gewerkschaftsbewegung ihre langjährige Forderung nach der gesetzlichen Errichtung von Arbeiterkammern als Gegengewicht zu den schon seit 1868 bestehenden Handelskammern mit dem Arbeiterkammergesetz vom 20.2.1920 durchsetzen. Mit diesem Gesetz, dem Betriebsrätegesetz 1919 und dem Einigungsamtsgesetz 1920 ist das Fundament für jenes „Drei-Säulenmodell“ geschaffen worden, das auch heute noch eine wirksame Interessenvertretung der AN durch Betriebsräte, Gewerkschaften und Arbeiterkammern ermöglicht (vgl dazu meinen Aufsatz zum 100-Jahr-Jubiläum des BRG in DRdA 2019, 292).
Anders als in Österreich ist es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zur Errichtung von Arbeiterkammern gekommen, und auch im Buch von Däubler und Kittner wird dieses Thema nicht weiter behandelt. Was das Verhältnis von Betriebsräten und Gewerkschaften betrifft, meint Däubler im Kapitel „Differenzierte Realität“ die Vorstellung, wonach zwei „Säulen“ vorhanden sind, die auf gleicher Ebene miteinander verkehren, würde „die Realität missverstehen“ (491).
Die mit dem Einigungsamtsgesetz 1920 geschaffenen Grundlagen des österreichischen Kollektivvertragsrechts wurden in der Zweiten Republik durch das Kollektivvertragsgesetz 1947 und durch das ArbVG 1974 in mehrfacher Hinsicht weiterentwickelt. Die Änderungen betrafen vor allem die Kollektivvertragsfähigkeit 428 und die Rechtswirkungen des KollV (Näheres jüngst bei Felten/Mosler, DRdA 2020, 91). Da Kollektivverträge in Österreich auf AG-Seite von einer gesetzlichen Interessenvertretung abgeschlossen werden, der alle AG angehören (der Wirtschaftskammer), und aufgrund der Normwirkung (§ 11 ArbVG) und der Außenseiterwirkung (§ 12 ArbVG) nicht nur für die Mitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft, sondern für alle AN eines kollektivvertragsangehörigen AG gelten, hat das Kollektivvertragssystem in Österreich einen umfassenden Wirkungsbereich: Über 95 % der AN sind von einem KollV erfasst, was nicht nur unabdingbaren Schutz für die AN, sondern auch intensive Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten beim Zustandekommen und bei der Anwendung des KollV im Betrieb mit zusätzlichen Mitwirkungsmöglichkeiten aufgrund von Öffnungsklauseln oder Ermächtigungen zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen (§ 29 ArbVG) bedeutet.
Nach dem deutschen Tarifvertragsgesetz (TVG) gelten Tarifverträge grundsätzlich nur zwischen den tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Die Tarifbindung ergibt sich aus der Mitgliedschaft zu einer der Tarifvertragsparteien. Diese können Gewerkschaften, einzelne AG oder Vereinigungen von AG sein (§ 2 TVG). Tarifverträge können entweder als Flächentarifverträge für eine bestimmte Branche oder für ein bestimmtes Gebiet oder als Firmentarifvertrag für ein bestimmtes Unternehmen abgeschlossen werden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt werden (§ 5 TVG). Aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärung ist der Tarifvertrag innerhalb seines Geltungsbereichs unabhängig vom Willen der Arbeitsvertragsparteien anzuwenden.
Das hier nur in den Grundzügen skizzierte deutsche Tarifvertragssystem unterscheidet sich also fundamental vom österreichischen Kollektivvertragssystem. Der Unterschied im Rechtssystem wirkt sich auch entscheidend auf die Reichweite und die Verwirklichung des Schutzzwecks für die AN aus: Nach den von Däubler (493) zitierten Angaben des Statistischen Bundesamts werden in Gesamtdeutschland nur noch 46 %, also nicht einmal die Hälfte aller AN, durch einen Tarifvertrag geschützt. Ursache dafür ist die „Erosion der Flächentarife“, die laut einem Zitat aus der FS Däubler (schon 1999!) die Erosion der gewerkschaftlichen Autorität signalisiert. Däubler berichtet in diesem Zusammenhang von „Verselbständigungstendenzen von Betriebsräten“ und von einer neuen empirischen Untersuchung, die ergeben hat, dass die „emotionale Distanz“ von Betriebsräten zu Gewerkschaften bisweilen „erschreckend groß“ sei (494). Das führe dazu, dass Betriebsräte „an anderer Stelle Unterstützung suchen“ und „bei Bedarf auch andere Experten, wie zB Betriebswirte oder spezialisierte Informatiker, in Anspruch nehmen“ (494).
Spätestens hier werden die Vorzüge des österreichischen Drei-Säulen-Modells mit Betriebsräten, Gewerkschaften und Arbeiterkammern, die über unterstützendes Expertenwissen verfügen, wieder bewusst.
Dass das Betriebsverfassungsrecht ein besonders ideologieempfindliches Rechtsgebiet ist (Strasser, Einleitung zum ArbVG-Handkommentar [1975] XXXI), zeigt sich besonders deutlich bei den Rechtsvorschriften über das Verhältnis des BR zum AG bzw Betriebsinhaber, deren Entwicklungsgeschichte und unterschiedlicher Interpretation durch die Arbeitsrechtswissenschaft. Von der Vorstellung der Betriebsräte als Teil eines revolutionären Sozialisierungsprogramms bis zur Illusion einer „Betriebs- oder Werksgemeinschaft“ reicht das ideologische Spektrum.
Im deutschen Betriebsrätegesetz 1920 waren neben der Vertretung der AN-Interessen im Betrieb die Förderung des guten Einvernehmens mit dem AG, die Unterstützung der Betriebsleitung zur Erreichung einer möglichst hohen Wirtschaftlichkeit und die Mitarbeit bei der Einführung neuer Arbeitsmethoden zur Förderung der Wirtschaftlichkeit ausdrücklich angeführte Aufgaben der Betriebsräte (§ 66 BRG 1920).
Zusammenfassend ergibt sich für Kittner folgender Befund (192):
„Das BRG brachte zwar neue organisatorische Grundlagen der Betriebsräte, erstmals eine wirkliche ‚Betriebs-Verfassung‘, aber für ihr Alltagshandeln keine Mitbestimmungsrechte im Wortsinne.“
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahm zunächst der Alliierte Kontrollrat die Initiative für ein neues Betriebsrätegesetz. Das „Kontrollratsgesetz Nr 22“ vom April 1946 bezeichnet Kittner (301) als „Abkehr von Weimar“
. In diesem Gesetz fehlten die sozialpartnerischen Elemente, die im BRG 1920 enthalten waren. Von einer Unterstützung des AG zur Erreichung einer möglichst hohen Wirtschaftlichkeit war nirgends mehr die Rede. Das neue Recht kannte auch keine Friedenspflicht, dem BR waren Arbeitskampfmaßnahmen nicht untersagt. „Die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital waren konfliktatorisch, nicht sozialpartnerschaftlich-kooperativ ausgestaltet“
(Kittner, 302).
Das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr 22 blieb freilich nur ein Zwischenspiel in der Entwicklung der deutschen Betriebsverfassung der Nachkriegszeit. Das BetrVG 1952 kehrte zum partnerschaftlichen Modell des BRG 1920 zurück, wobei die Zusammenarbeit zwischen BR und AG noch stärker betont wurde: § 49 Abs 1 verpflichtet den AG und den BR, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, und zwar „im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen“
. Ziel der Zusammenarbeit ist das „Wohl des Betriebes und seiner Arbeitnehmer“
. Nach § 49 Abs 2 Satz 1 muss der BR alles unterlassen, was „geeignet ist, die Arbeit und den Frieden des Betriebes zu gefährden“
, und als Konsequenz daraus bestimmt Satz 2, dass jede Maßnahme des Arbeitskampfes im Verhältnis BR – AG verboten ist.
Das BetrVG 1972 brachte zwar einen (weiteren) Ausbau der Mitwirkungsrechte der Betriebsräte, hielt aber an der grundsätzlich partnerschaftlichen Ausrichtung des Betriebsverfassungsrechts 429 weiterhin fest. § 2 Abs 1 enthält eine Art deskriptive Generalklausel: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten unter Beachtung der geltenden Tarifverträge vertrauensvoll und im Zusammenwirken mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebes zusammen.“
§ 74 Abs 2 Satz 1 verbietet Arbeitskämpfe zwischen BR und AG; nach Satz 2 müssen alle Betätigungen unterlassen werden, durch die der Arbeitsablauf oder der „Frieden des Betriebs“ beeinträchtigt werden. Auch das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb ist weiterhin Bestandteil des deutschen Betriebsverfassungsrechts.
Das Verhältnis zwischen BR und AG war auch in der Entwicklung des österreichischen Betriebsverfassungsrechts ein ideologisch umstrittenes Thema, wobei aber eine so deutlich überwiegende partnerschaftliche Ausrichtung wie in Deutschland – sieht man von der „Werksgemeinschaft“ im Ständestaat ab – in Österreich nicht festzustellen ist.
Ein heiß umkämpfter und bis zuletzt in den Sozialpartnerverhandlungen offener Punkt waren die Bestimmungen des ArbVG 1974 über die Grundsätze der Interessenvertretung. Erst ein „typisch österreichischer“ Kompromiss ermöglichte die parlamentarische Beschlussfassung über die Gesamtreform des kollektiven Arbeitsrechts durch das ArbVG. Dabei sind auch Elemente des deutschen Betriebsverfassungsrechts in Formulierungen des Gesetzestextes des ArbVG eingeflossen, ohne jedoch dessen grundsätzliche Ausrichtung zu übernehmen.
Im Gegensatz zum deutschen BetrVG enthält das ArbVG einen klaren Auftrag zur Vertretung der AN-Interessen durch die Organe der Arbeitnehmerschaft, also auch für den BR (§ 38 ArbVG), und geht bei den Grundsätzen der Interessenvertretung vom Ziel eines Ausgleichs der unterschiedlichen Interessen zum Wohl der AN und des Betriebes aus (§ 39 Abs 1 ArbVG). Diese Grundsatzbestimmung wird zwar in der Literatur unterschiedlich nuanciert interpretiert (vgl dazu nur Gahleitner in Gahleitner/Mosler [Hrsg], ArbVR 26 [2020] § 39 Rz 1), fest steht aber jedenfalls: Das österreichische Betriebsverfassungsrecht kennt – anders als das deutsche – weder eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit des BR mit dem AG noch ein Arbeitskampfverbot oder eine gesetzliche Friedenspflicht. Dadurch und durch eine im Vergleich zur deutschen Judikaturpraxis zurückhaltende Rsp haben die Betriebsräte in Österreich bei der Wahrnehmung der AN-Interessen im Betrieb einen größeren Handlungsspielraum.
Neben der gesetzlich geregelten Betriebsverfassung bildet auch die informelle Zusammenarbeit von ANund AG-Verbänden in Form der Sozialpartnerschaft ein wesentliches Element der kollektiven Arbeitsbeziehungen. Während das in Österreich aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Modell der Sozialpartnerschaft international als Beispiel für eine funktionierende Beziehung zwischen den Verbänden der AN und der AG auf der überbetrieblichen, gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebene angesehen wird, ist das Verständnis des Begriffes „Sozialpartnerschaft“ in Deutschland differenzierter und jedenfalls nicht so weit reichend, wie das in Österreich auch heute noch der Fall ist. Meistens wird in Deutschland unter „Sozialpartnerschaft“ das Verhältnis der Tarifvertragspartner und deren Kooperation zur Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen verstanden, wobei politisch eine Verbindung mit dem System der „sozialen Marktwirtschaft“ hergestellt wird.
Ansätze zu einer gesetzlichen Regelung der „Sozialpartnerschaft“ – wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang und aus völlig anderen politischen Motiven – könnte man in dem im Zuge der revolutionären Umwälzung der deutschen Wirtschaft im November 1918 abgeschlossenen „Arbeitsgemeinschaftsabkommen“ und im Art 165 der Weimarer Verfassung sehen. Die Aufgaben, die im Statut der „Zentral-Arbeitsgemeinschaft“ und in Art 165 dem „Reichswirtschaftsrat“ zugeordnet worden sind (Kittner, 150 bzw 161), entsprechen zum Teil dem, was heute die Sozialpartner machen. Alle Pläne für eine paritätische Gestaltung der Wirtschaft zerbrachen aber schon nach kurzer Zeit am Antagonismus ihrer Partner (Kittner, 152).
Auch in Österreich blieb die Sozialpartnerschaft lange Zeit gesetzlich ungeregelt. Die Sozialpartner selbst definierten in einer gemeinsamen Erklärung vom 23.11.1992 den Begriff als eine bestimmte Haltung, einen Politikstil, den sie als „Kultur der Konfliktaustragung“ bezeichneten. Dabei blieb es bis zum Jahr 2008, in dem der Verfassungsgesetzgeber in einer Novelle zum B-VG neue Bestimmungen über die „nichtterritoriale Selbstverwaltung“ in die Verfassung eingefügt hat, darunter den Art 120a Abs 2, wonach die Republik die Rolle der Sozialpartner anerkennt, deren Autonomie achtet und den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern fördert. Weder im Verfassungstext noch in den Gesetzesmaterialien gibt es eine Definition des Begriffes „Sozialpartnerschaft“, was zusammen mit anderen Unklarheiten zu einer lebhaften literarischen Diskussion über die genaue Bedeutung der neuen Verfassungsbestimmungen geführt hat (Näheres dazu bei R. Müller, DRdA 2020, 17, 21).
Zusammenfassend könnte man das Ergebnis des Vergleichs – in Abwandlung eines (angeblichen) Satzes von Karl Kraus hinsichtlich der Sprache – pointiert so formulieren: Die Betriebsverfassung in Österreich unterscheidet sich von jener in Deutschland durch die gemeinsame Geschichte.
Zu einer zentralen Frage der Betriebsverfassung kann allerdings auch das breit angelegte und tiefgehende Buch von Däubler/Kittner weder für Deutschland noch für Österreich eine zufriedenstellende Antwort geben, nämlich zum Auseinanderfallen von Recht und Rechtswirklichkeit bei der Errichtung von Betriebsräten.
Unter der Überschrift „Das große Defizit: Betriebe ohne Betriebsrat“
(519) berichtet Däubler über eine 430 Erhebung, nach der im Jahr 2017 in Deutschland nur 9 % der Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten einen BR hatten, umgekehrt also in 91 % (!) der Betriebe von den gesetzlichen Möglichkeiten kein Gebrauch gemacht wurde.* Nach der Anzahl der Beschäftigten liegt die Quote bei ca 40 %, und das seit 20 Jahren mit sinkender Tendenz.
Die Analyse der Gründe für diese Entwicklung und der Hindernisse, die einer Betriebsratsgründung entgegenstehen, ist durchaus schlüssig und – mit Abstrichen – auch auf österreichische Verhältnisse übertragbar. Die „Gegenmaßnahmen“, die Däubler vorschlägt, könnten zwar zu einer Verbesserung des Status quo beitragen, das grundsätzliche Problem aber letztlich auch nicht lösen. Sie versagen vor allem dort, wo ein AG als Eigentümer von seiner wirtschaftlichen Übermacht Gebrauch macht und unter der Drohung von Massenkündigungen oder gar der Stilllegung des Betriebes die Wahl eines BR verhindert, wie das vor einiger Zeit spektakulär (als ein Beispiel unter vielen) bei einem privaten TV-Sender in Salzburg geschehen ist.
Das von Däubler referierte „Argument“, „keine Belegschaft solle zu ihrem Glück gezwungen werden“
(531), kann hier ebenso wenig überzeugen, wie der Hinweis auf die „gesamtgesellschaftliche Atmosphäre“
(528) oder auf das „allgemeine soziale Umfeld“
(539). Däublers Vermutung, es bei den „weißen Flecken“ zu belassen, laufe darauf hinaus, den bestehenden Kompromiss in Sachen betrieblicher Mitbestimmung nicht in Frage zu stellen, wirkt doch ziemlich resignativ. Zumindest wäre es notwendig, auf die Grenzen des Rechts in einem durch Privateigentum, Wettbewerb und Profitstreben gekennzeichneten Wirtschaftssystem hinzuweisen und andere Möglichkeiten zur Interessendurchsetzung in Betracht zu ziehen, wie das schon im Vorwort „Zum Buch“ geschieht:
„Die Betriebsverfassung ist Ausdruck bestimmter politischer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse, die sich nicht nur in den Rechtsnormen, sondern auch in der unterschiedlichen Praxis der Betriebsräte niederschlagen.“
Und weiter: „Das geschriebene Recht und die dazu ergangene Rechtsprechung können außerdem nur einen (kleinen?) Teil der Realität abbilden...“
Aus der Geschichte der Betriebsverfassung kann man lernen, dass der Rosa Luxemburg nachempfundene Satz „Erwartet von niemandem Hilfe außer von euch selbst“
immer noch gültig ist.
Bei der unüberschaubaren Fülle an Publikationen zur Betriebsverfassung (das Literaturverzeichnis des Buches von Däubler/Kittner umfasst zwölf eng bedruckte Seiten) ist es kaum vorstellbar, dass ein neues Buch erscheint, von dem man ernsthaft behaupten könnte, dass es eine Lücke im einschlägigen Schrifttum schließen würde. Genau das ist aber bei dem Buch von Däubler und Kittner der Fall: Eine so akribische, systematische und vollständige Darstellung der Geschichte der Betriebsverfassung in einer einzigartigen Zusammenschau von Rechtsgeschichte, politischer Geschichte, Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie, gestützt auf jahrzehntelange praktische Erfahrung, hat es bisher nicht gegeben.
Diese Feststellung gilt auch für Österreich. Die aktuellen Großkommentare zum ArbVG enthalten zwar jeweils auch einen einleitenden Abriss der historischen Entwicklung des Betriebsverfassungs- und Arbeitsverfassungsrechts, der aber bei Weitem nicht dem entspricht, was das Buch von Däubler/Kittner bietet. Die jüngsten, aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Betriebsrätegesetzes, des Einigungsamtsgesetzes und des Arbeiterkammergesetzes in dieser Zeitschrift (DRdA 4/2019, DRdA 1/2020 und DRdA 2/2020) publizierten Abhandlungen haben den Blick auf die historische Entwicklung des kollektiven Arbeitsrechts in Österreich erweitert und vertieft. Eine vollständige, fundierte Gesamtschau der großen Linien und Zusammenhänge der Betriebsverfassung in ihrer historischen Entwicklung, wie sie das Werk von Däubler/Kittner bietet, fehlt aber auch hier bislang. Sie könnte beweisen, dass die österreichische Betriebsverfassung im Vergleich mit der deutschen mehr Beachtung verdient als nur eine Fußnote. 431