Die Entsendung im Sozialversicherungsrecht
Die Entsendung im Sozialversicherungsrecht
Einleitung
Kollisionsnormen der VO 883/2004/EG
Allgemeines
Art 12 VO 883/2004/EG: Sonderregelung für Entsendungen
Zweck und Voraussetzungen
EuGH Rs Alpenrind: Ablöseverbot
Gewöhnliche Tätigkeit des AG im Herkunftsstaat
Art 13 VO 883/2004/EG: Mehrfachbeschäftigung
Zweck und Voraussetzung
Abgrenzung zwischen Entsendung und Mehrfachbeschäftigung
Zwischenergebnis
Verfahrensrechtliche Aspekte
Allgemeines
Bindungswirkung der A1-Entsendebescheinigung
Rechtsprechung des EuGH zur Bindungswirkung der A1-Entsendebescheinigung
Rechtliche Beurteilung der A1-Entsendebescheinigung
Dialog- und Vermittlungsverfahren
Stufen des Dialog- und Vermittlungsverfahrens
Vorrang der A1-Bescheinigung vor nationalen Bescheiden: Verwaltungsrechtliche Aspekte
Kritik am Dialog- und Vermittlungsverfahren
Durchbrechung der Bindungswirkung der A1-Entsendebescheinigung: Betrug
Rechtsprechung des EuGH zum Betrug
Durchbrechung des Grundsatzes der Vermeidung von Doppelversicherungen?
Durchbrechung der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung bei Rechtsmissbrauch?
Fazit und Ausblick
Die Mobilität von Arbeitskräften in der EU ist einer der wichtigsten Pfeiler eines gut funktionierenden Binnenmarkts; gleichzeitig gehört die Mobilität von Arbeitskräften aber auch zu den größten Herausforderungen 522 der Union. Eine der verschiedenen Erscheinungsmöglichkeiten dieser Mobilität ist der grenzüberschreitende AN-Einsatz durch die Entsendung von AN. Obwohl die wirtschaftliche Bedeutung von Entsendungen innerhalb der EU von Jahr zu Jahr steigt – im Jahr 2018 konnte ein Anstieg von 93 % an entsandten AN im Vergleich zu 2011 verzeichnet werden –,* ist das Thema rechtlich und rechtspolitisch höchst umstritten. Das Grundproblem bei Entsendungen ist der Wettbewerb um niedrigere Arbeitskosten im Binnenmarkt: Sollen entsendende Unternehmen aus den Niedriglohnstaaten, die von der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) Gebrauch machen und ihre AN vorübergehend zur Erbringung einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat entsenden, niedrigere Arbeitskosten und Sozialrechtsstandards als Wettbewerbsvorteil gegenüber den Unternehmen in Hochlohnstaaten einsetzen können?* Während die Empfangsstaaten von Entsendungen wegen des erheblichen Lohngefälles zwischen den EU-Staaten Sozialdumping und den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit befürchten, haben die Herkunftsstaaten ein besonderes Interesse daran, von ihrem Wettbewerbsvorteil Gebrauch zu machen. Vor diesem Hintergrund steht das Thema der Entsendung von AN in der EU seit jeher im Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Freiheiten im Binnenmarkt einerseits und dem Sozialschutz andererseits.*
In arbeitsrechtlicher Hinsicht hat man sich auf europäischer Ebene in der Entsende-RL 96/71/EG* auf einen Kompromiss geeinigt: Wenn Unternehmen ihre AN zur Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat entsenden, gilt zwar grundsätzlich das Herkunftslandprinzip; doch legt die Entsende-RL zum Schutz der entsandten AN in Art 3 Abs 1 einen „harten Kern“ an Arbeitsbedingungen fest, der entsandten AN zwingend nach dem Recht des Empfangsstaates garantiert werden muss, sofern die Arbeitsbedingungen des Empfangsstaates günstiger sind als jene des Herkunftsstaates. Aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen, allen voran der EU-Erweiterung in den Jahren 2004 und 2007 sowie zunehmender missbräuchlicher Praktiken, wurden die Vorschriften der Entsende-RL zuletzt durch die Entsende-RL neu 2018/957* erheblich verschärft. Die Entsende-RL neu hat damit das in der ursprünglichen Entsende-RL gefundene Gleichgewicht zwischen der Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs, der Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen und dem Schutz der entsandten AN verschoben, und zwar hin zu mehr Sozialschutz.* Auch wenn osteuropäische Staaten beklagen, dass der Unionsgesetzgeber damit den Arbeitskostenvorteil der entsendenden Unternehmen in arbeitsrechtlicher Hinsicht weitgehend aufgehoben hätte,* bleibt ihnen auch nach Inkrafttreten der Entsende-RL neu ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil erhalten: Gem Art 12 VO 883/2004* bleiben entsandte AN bis zur Dauer von 24 Monaten dem System der sozialen Sicherheit des Herkunftsstaates angeschlossen, sodass die AG von niedrigeren Sozialabgaben im Herkunftsstaat profitieren können. Diese Kollisionsnorm und das dabei einzuhaltende Verfahren werfen jedoch zahlreiche Probleme auf, die in diesem Beitrag näher untersucht werden.
Welchem System der sozialen Sicherheit AN in grenzüberschreitenden Sachverhalten angeschlossen sind, ist nach der VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und deren Durchführungs-VO 987/2009 (DVO)* zu beurteilen. Die Kollisionsnormen zur Bestimmung des anwendbaren Rechts finden sich in Titel II der VO 883/2004 (Art 11-16) und sind durch den Grundsatz der Exklusivität des anwendbaren Rechts geprägt (Art 11 Abs 1 VO 883/2004). Demnach unterliegt eine Person, für die die VO 883/2004 gilt, stets nur den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaates. Dadurch sollen sowohl positive als auch negative Kompetenzkonflikte vermieden werden. Titel II der VO 883/2004 bildet dem EuGH zufolge dementsprechend ein geschlossenes und einheitliches System von Kollisionsnormen.*
Gem Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, grundsätzlich den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (lex loci laboris-Prinzip). In zwei Fällen weicht die VO 883/2004 aber von dieser Grundregel ab, auf die hier näher einzugehen ist: einerseits bei Entsendungen (unten Pkt 2.2.); andererseits bei der Ausübung von Tätigkeiten in mehreren Mitgliedstaaten, wobei die Entsendung iSd Art 12 VO 883/2004 nur schwer von der Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 VO 883/2004 abzugrenzen ist (unten Pkt 2.3.). Zudem normiert Art 16 VO 883/2004 die Möglichkeit, Ausnahmen von den Art 11-15 VO 883/2004 zu vereinbaren, weil die starren Kollisionsregeln nicht bei allen Sachverhalten zu sachgerechten Ergebnissen führen. Art 16 VO 883/2004 schafft damit auch im 523 Rahmen der Sozialrechtskoordinierungs-VO eine gewisse Flexibilität, wenn die betroffenen Mitgliedstaaten eine Einigung erzielen können.*
Art 12 Abs 1 VO 883/2004 modifiziert das lex loci laboris-Prinzip und sieht vor, dass ein AN, der von seinem AG in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort für Rechnung des AG Arbeit auszuführen, bis zur Dauer von 24 Monaten weiterhin dem System der sozialen Sicherheit des Herkunftsstaates angeschlossen bleibt, sofern er nicht eine andere entsandte Person ablöst (unten Pkt 2.2.2) und der AG gewöhnlich im Herkunftsstaat tätig ist (unten Pkt 2.2.3).*
Zweck der Sonderregelung in Art 12 VO 883/2004 ist nach stRsp des EuGH, den freien Dienstleistungs verkehr und die Freizügigkeit der AN zu fördern sowie administrative Schwierigkeiten für AN, AG und Sozialversicherungsträger zu vermeiden.* Damit dient die Sonderregelung für Entsendungen sowohl den Interessen der entsandten AN als auch den Interessen der entsendenden AG und der Sozialversicherungsträger: Den Ausgangspunkt bei der Auslegung der Bestimmungen der VO 883/2004 und deren DVO bilden stets die Interessen der entsandten AN, weil die VO 883/2004 kompetenzrechtlich auf Art 48 AEUV gestützt ist und die AN-Freizügigkeit garantieren soll.* Entsandte AN haben bei vorübergehenden Entsendungen ein Interesse daran, dass ihr Versicherungsverlauf im Herkunftsstaat nicht unterbrochen wird. Wenngleich die Kompetenzgrundlage der VO 883/2004 Art 48 AEUV ist, berücksichtigt der EuGH bei der Auslegung der Sonderregelung für Entsendungen auch die Interessen der entsendenden AG,* die die Wettbewerbsvorteile des freien Marktes nutzen und nicht mit höheren Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden wollen, wenn sie von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen und vorüber gehend AN in einen anderen Mitgliedstaat entsenden.* Relevant sind überdies die Interessen der Sozialversicherungsträger, die administrative Schwierigkeiten bei kurzfristigen Auslandseinsätzen vermeiden wollen und daher – wie auch entsandte AN und entsendende AG – ein Interesse daran haben, dass kurzfristige Wechsel zwischen den Sozialversicherungssystemen bei vorübergehenden Entsendungen verhindert werden.*
Schwieriger ist dagegen die Frage, ob bei der Auslegung des Art 12 VO 883/2004 auch die Interessen der Empfangsstaaten zu berücksichtigen sind, die in eine entgegengesetzte Richtung deuten: Empfangsstaaten haben grundsätzlich ein Interesse daran, Wettbewerbsverzerrungen aufgrund der Unterschiede zwischen den Beitragssätzen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu vermeiden und Sozialdumping zu verhindern.* Dass bei der Auslegung des Art 12 VO 883/2004 aber auch diese Interessen berücksichtigt werden müssen, hat der EuGH zuletzt in der Rs Alpenrind* ausdrücklich bestätigt, in der er das Ablöseverbot zu interpretieren hatte.*
In der Rs Alpenrind schloss das österreichische Unternehmen Alpenrind im Jahr 2007 zunächst mit Martin Meat, einem in Ungarn ansässigen Unternehmen, einen Vertrag ab, in dem sich Martin Meat verpflichtete, Fleischzerlegungsarbeiten auf einem Schlachthof in Salzburg durchzuführen. Zu diesem Zweck wurden AN aus Ungarn nach Österreich entsandt. Zum 31.1.2012 gab Martin Meat den Bereich der Fleischzerlegung auf und führte danach Schlachtungen für Alpenrind durch. Am 24.1.2012 schloss Alpenrind mit Martimpex, auch einem in Ungarn ansässigen Unternehmen, einen Vertrag ab, in dem sich Martimpex vom 1.2.2012 bis 31.1.2014 zur Fleischzerlegung verpflichtete. Ab dem 1.2.2014 beauftragte Alpenrind wiederum Martin Meat mit den Fleischzerlegungsarbeiten.
Fraglich war, ob hier ein Verstoß gegen das Ablöseverbot iSd Art 12 Abs 1 VO 883/2004 vorlag. Der EuGH hat das bejaht. Er hat das Ablöseverbot weit* und arbeitsplatzbezogen ausgelegt.* Der wiederholte Rückgriff auf entsandte AN zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes im Empfangsstaat 524 widerspreche dem Wortlaut des Art 12 Abs 1 VO 883/2004 sowie dessen Zielen und Kontext. Dies auch dann, wenn verschiedene AG die Entsendung vornehmen. Ob es zwischen den Unternehmen personelle und/oder organisatorische Verflechtungen gebe, sei unerheblich. Es komme auch nicht darauf an, ob die AG der entsandten AN ihren Sitz im gleichen Mitgliedstaat haben.* Der EuGH hat das Ablöseverbot daher aus der Perspektive des Empfangsstaates interpretiert. Durch das arbeitsplatzbezogene Ablöseverbot wird verhindert, dass bestimmte Aufgaben oder Funktionen im Empfangsstaat ständig von entsandten AN wahrgenommen werden, die nicht dem System der sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaates unterliegen. Durch die weite und arbeitsplatzbezogene Auslegung des Ablöseverbots stellt der EuGH die Interessen des Empfangsstaates, vor Wettbewerbsverzerrungen geschützt zu werden, über die Interessen der entsendenden AG und der entsandten AN.*
Auch wenn das Ergebnis des EuGH in der Rs Alpenrind vor dem Hintergrund des Sachverhalts nachvollziehbar sein mag, führt die weite Auslegung des Ablöseverbots durch den EuGH nun dazu, dass es auch bei kurzen Auslandsentsendungen zu einem Wechsel des anwendbaren Sozialversicherungsrechts kommt, wenn auf dem Arbeitsplatz im Empfangsstaat zuvor ein entsandter AN durch einen anderen AG, der mit dem entsendenden AG weder personell noch organisatorisch verflochten ist und seinen Sitz möglicherweise in einem anderen Mitgliedstaat hat, eingesetzt worden ist. Zudem betont der EuGH in der Rs Alpenrind, dass das Ablöseverbot kumulativ neben der Voraussetzung in Bezug auf die Höchstdauer von 24 Monaten der entsandten AN anwendbar sei und ein entsandter AN schon deshalb, weil er eine andere Person ablöse, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Herkunftsstaates unterliegen könne.* Damit ist jede Ablösung eines entsandten AN durch einen anderen AN unzulässig und zwar selbst dann, wenn ein entsandter AN einen anderen ablöst und die Entsendedauer von 24 Monaten noch nicht überschritten ist.
Das Ablöseverbot wurde aber durch die VO 24/64* in die VO 3/58* aufgenommen, die ursprünglich kein Ablöseverbot vorsah, weil sich in der Praxis gezeigt hat, dass AG die Dauer von 24 Monaten dadurch zu umgehen versuchten, dass sie kurz vor Ablauf der 24 Monate ihre AN zurückholen und durch andere entsandte AN ersetzen.* Warum nunmehr jede Ablöse, völlig unabhängig von der Entsendedauer von 24 Monaten, unzulässig sein soll, selbst wenn die erste Entsendung – möglicherweise durch einen anderen AG aus einem anderen Mitgliedstaat – nur von ganz kurzer Dauer war, ist vor dieser Zielsetzung nicht nachvollziehbar.*
Die weite Auslegung des Ablöseverbots durch den EuGH in der Rs Alpenrind wirft zudem die Frage auf, wie ein entsendender AG überprüfen können soll, ob der Arbeitsplatz zuvor durch entsandte AN anderer AG aus anderen Mitgliedstaaten „besetzt“ war. IdR werden weder das entsendende Unternehmen noch die Träger im Herkunftsstaat wissen, ob der entsandte AN einen anderen AN eines anderen AG – möglicherweise aus einem anderen Mitgliedstaat – ablöst. In der Literatur wurde vorgeschlagen, entweder die Dienstleistungsempfänger im Empfangsstaat in die Pflicht zu nehmen* oder die Dienstleistungserbringer, die sich beim Dienstleistungsempfänger erkundigen müssten, ob auf dem beabsichtigten Arbeitsplatz entsandte AN tätig gewesen seien.* ME müsste sich der Träger im Herkunftsstaat beim Träger im Empfangsstaat informieren, ob bereits ein entsandter AN auf dem Arbeitsplatz im Empfangsstaat eingesetzt worden ist, bevor er eine A1-Entsendebescheinigung ausstellt (zur A1-Entsendebescheinigung siehe unten Pkt 3.).* In der Praxis ist das jedoch für die Träger des Empfangsstaates mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und kaum umsetzbar.*
Auch wenn die EuGH-E in der Rs Alpenrind damit im Ergebnis zahlreiche Fragen aufwirft, bringt der Fall deutlich zum Ausdruck, dass Art 12 VO 883/2004 sehr missbrauchsanfällig ist und entsendende Unternehmen unterschiedliche Strategien entwickelt haben, um die Voraussetzungen des Art 12 VO 883/2004 zu umgehen. Diesen wollte der EuGH zu Recht einen Riegel vorschieben, doch hätte er sich dazu mE des Rechtsinstituts des Rechtsmissbrauchs bedienen können.
Eine andere, weitverbreitete Umgehungsstrategie bei Art 12 VO 883/2004 bestand darin, Briefkastengesellschaften in Mitgliedstaaten mit niedrigen Sozialversicherungsbeiträgen zu errichten, in denen AN nur eingestellt werden, um in Mitgliedstaaten mit höheren Sozialrechtsstandards entsandt zu werden. Auch diesen Praktiken hat der EuGH entgegengewirkt. In den Rs Fitzwilliam*und Plum* hat der Gerichtshof betont, die Rechtsvorschriften des Herkunftsstaates sollen nur dann anwendbar sein, wenn die Geschäftstätigkeit des AG im Herkunftsstaat nicht nur eine völlig untergeordnete Bedeutung hat. Richtet ein AG dagegen seine gesamte Tätigkeit auf das Gebiet des Empfangsstaates aus, soll er auch dessen Sozialversicherungspflicht unterworfen sein.*525
Die Voraussetzung der gewöhnlichen Tätigkeit des AG im Herkunftsstaat findet sich nun ausdrücklich in Art 12 Abs 1 VO 883/2004 und wird in Art 14 Abs 2 DVO dahingehend konkretisiert, dass der AG im Herkunftsstaat gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten ausüben muss. Dabei sind alle Kriterien zu berücksichtigen, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens kennzeichnen, wie etwa die Zahl der im Herkunftsstaat geschlossenen Verträge oder der Umsatz.*
Problematisch ist jedoch, dass Art 13 VO 883/2004, der die Mehrfachbeschäftigung regelt, diese Voraussetzung – im Gegensatz zu Art 12 VO 883/2004 – nicht vorsieht. Aus diesem Grund zeigt sich derzeit eine gewisse Verlagerung der Missbrauchsanfälligkeit von Art 12 VO 883/2004 auf Art 13 VO 883/2004,* auf die näher einzugehen ist.
Art 13 VO 883/2004 regelt, welchem System der sozialen Sicherheit AN oder selbständige Personen angeschlossen sind, die gewöhnlich in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind. Grundsätzlich soll gem Art 13 VO 883/2004 auch dann stets nur die Rechtsordnung eines einzigen Mitgliedstaates anwendbar sein, wenn eine Person gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten tätig ist.* Da bei Mehrfachbeschäftigungen aus diesem Grund eine Anknüpfung an den Beschäftigungsort nicht möglich ist, normiert auch Art 13 VO 883/2004 eine Ausnahme vom lex loci laboris-Prinzip. Gem Art 13 Abs 1 lit a VO 883/2004 idF VO 465/2012* unterliegt eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohn-Mitgliedstaates, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.* Übt eine Person im Wohn-Mitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit aus, unterscheidet Art 13 Abs 1 lit b VO 883/2004 idF VO 465/2012 zwischen vier Fällen, wobei hier vor allem sublit i von Interesse ist: Wird die Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten für ein Unternehmen oder einen AG ausgeübt, weil die Person bei einem Unternehmen oder AG beschäftigt ist, kommt es auf den Mitgliedstaat an, in dem das Unternehmen oder der AG seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Art 13 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 verlangt jedoch nicht, dass der AG in dem Sitz-Mitgliedstaat auch für gewöhnlich eine nennenswerte Tätigkeit ausüben muss. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, dass sich AG, die ihre AN nacheinander in unterschiedliche Mitgliedstaaten entsenden, auf Art 13 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 berufen und auf diese Weise verhindern können, die Voraussetzung der gewöhnlichen Tätigkeit im Herkunftsstaat iSd Art 12 VO 883/2004 erfüllen zu müssen. Zu diesem Problem wird der EuGH in naher Zukunft Stellung beziehen müssen; aktuell ist folgender Fall dazu beim EuGH anhängig:*
Ein polnisches Unternehmen mit Sitz in Polen hat mit einem in Polen wohnhaften AN vom 20.10.2006 bis 31.12.2009 einen befristeten Arbeitsvertrag abgeschlossen. Als Arbeitsort wurden im Arbeitsvertrag mehrere Mitgliedstaaten angeführt. Der AN wurde vom 5.11.2007 bis 6.1.2008 in Großbritannien und direkt anschließend ab 7.1.2008 mehrere Monate in Frankreich eingesetzt. Fraglich ist, ob der Begriff einer Person, die iSd Art 13 VO 883/2004 gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, auch eine Person erfasst, die im Rahmen eines Arbeitsvertrages nicht gleichzeitig oder parallel, sondern im Rahmen von unmittelbar aufeinanderfolgenden mehrmonatigen Zeiträumen in mindestens zwei Mitgliedstaaten eingesetzt wird. IdZ wird sich der EuGH mit der Abgrenzung zwischen einer Entsendung iSd Art 12 VO 883/2004 und einer Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 VO 883/2004 auseinandersetzen müssen, die de lege lata erhebliche Schwierigkeiten aufwirft, weil die VO 883/2004 keine klaren Abgrenzungskriterien dazu enthält.
Den Ausgangspunkt für die Abgrenzung zwischen der Entsendung iSd Art 12 VO 883/2004 und der Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 VO 883/2004 bildet zunächst Art 14 Abs 5 DVO. In seiner Stammfassung normierte Art 14 Abs 5 DVO, dass sich die Worte „eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt“ insb auf eine Person beziehen, die (lit a) eine Tätigkeit in einem Mitgliedstaat beibehält, aber zugleich eine gesonderte Tätigkeit in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten ausübt, und zwar unabhängig von der Dauer oder der Eigenart der gesonderten Tätigkeit oder (lit b) eine Person, die kontinuierlich Tätigkeiten alternierend in zwei oder mehr Mitgliedstaaten nachgeht, und zwar unabhängig von der Häufigkeit oder der Regelmäßigkeit des Alternierens. Seit Inkrafttreten der VO 465/2012 stellt Art 14 Abs 5 DVO nunmehr da rauf ab, dass eine Person gleichzeitig oder abwechselnd Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt; unbedeutende Tätigkeiten werden dabei gem Art 14 Abs 5b DVO idF VO 465/2012 nicht berücksichtigt.*
Art 14 Abs 5 DVO verlangt daher nicht, dass die Tätigkeiten gleichzeitig in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten ausgeübt werden müssen; vielmehr können sie auch abwechselnd erfolgen. Im Praktischen Leitfaden der Verwaltungskommission (VWK) wird dazu ausgeführt: „Abwechselnd ausgeübte
526Tätigkeiten sind solche, die nicht gleichzeitig im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten ausgeübt werden, sondern bei denen nacheinander Arbeitsaufträge in verschiedenen Mitgliedstaaten erledigt werden. Will man feststellen, ob die Tätigkeiten nacheinander ausgeübt werden, so darf man nicht nur auf die geplante Dauer der Arbeitseinsätze abstellen, sondern auch auf den Charakter der betreffenden Arbeiten. Es kommt nicht darauf an, wie oft abgewechselt wird, jedoch ist eine gewisse Regelmäßigkeit erforderlich (eigene Hervorhebung).“
* Das würde grundsätzlich dafür sprechen, in der anhängigen Rs FormatArt 13 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 zu bejahen. Dem steht de lege lata auch Art 14 Abs 7 DVO nicht entgegen, der eine konkrete Regelung zur Abgrenzung der Mehrfachbeschäftigung von Entsendungen enthält: „Um die Tätigkeiten nach den Absätzen 5 und 6 von den in Artikel 12 Absätze 1 und 2 der Grundverordnung beschriebenen Situationen zu unterscheiden, ist die Dauer der Tätigkeit in einem oder weiteren Mitgliedstaaten (ob dauerhaft, kurzfristiger oder vorübergehender Art) entscheidend. Zu diesem Zweck erfolgt eine Gesamtbewertung aller maßgebenden Fakten, einschließlich insbesondere, wenn es sich um einen Arbeitnehmer handelt, des Arbeitsortes, wie er im Arbeitsvertrag definiert ist.“
In der Literatur wird daraus abgeleitet, dass es darauf ankomme, ob die Tätigkeit im Ausland nur punktuell erfolge – dann liege eher eine Entsendung iSd Art 12 VO 883/2004 vor –, oder ob absehbar sei, dass es immer wieder, also regelmäßig, zu grenzüberschreitenden Auslandseinsätzen kommen werde – dann sei eher von einer Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 VO 883/2004 auszugehen. Ein Indiz für eine Mehrfachbeschäftigung und gegen eine Entsendung könne daher sein – darauf weist auch Art 14 Abs 7 DVO hin –, dass im Arbeitsvertrag als Arbeitsort der ständige Einsatz in anderen Mitgliedstaaten festgelegt worden ist.*
Um aber zu verhindern, dass die Voraussetzungen des Art 12 VO 883/2004 umgangen werden, indem im Arbeitsvertrag unterschiedliche Mitgliedstaaten als Arbeitsort genannt werden, obwohl der AN tatsächlich nicht in verschiedenen Mitgliedstaaten eingesetzt wird, hat der EuGH in der Rs Format aus dem Jahr 2012* zu Recht betont, dass es nicht nur auf die vertragliche Vereinbarung ankomme, sondern darauf, ob tatsächlich Einsätze in verschiedenen Mitgliedstaaten erfolgt seien. Entsprechend hat der EuGH in dieser Rechtssache eine Mehrfachbeschäftigung verneint, obgleich zwar in allen drei befristeten Arbeitsverträgen, die zwischen dem polnischen AG und dem AN abgeschlossen worden waren, als Arbeitsort „Betriebe und Baustellen in Polen und im Gebiet der Europäischen Union (Irland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Finnland)“ angegeben waren. Denn tatsächlich wurde der AN im Rahmen jedes befristeten Arbeitsvertrags stets nur in einem einzigen Staat eingesetzt. Da in der Rs Format aus dem Jahr 2012 aber die Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 VO 883/2004 schon aus diesem Grund verneint werden konnte, musste der EuGH nicht näher auf die Abgrenzung zwischen Art 12 und 13 VO 883/2004 eingehen und sich zur Frage äußern, ob auch zeitlich nacheinander folgende Arbeitseinsätze im Ausland, die im Rahmen eines einzigen Arbeitsvertrags erfolgen, grundsätzlich von Art 13 VO 883/2004 erfasst werden können.
GA Mazák hat das in seinen Schlussanträgen unter Berufung auf Art 14 Abs 5 DVO bejaht.* Ähnlich hat auch GA Bot in der Rs Chain dafür plädiert, bei Auslandseinsätzen, die in aufeinanderfolgenden Zeiträumen in verschiedenen Mitgliedstaaten ausgeübt werden, von einer Mehrfachbeschäftigung iSd Art 13 Abs 1 VO 883/2004 auszugehen. Denn nicht nur Art 12 VO 883/2004, sondern auch Art 13 VO 883/2004 sei kompetenzrechtlich auf Art 48 AEUV gestützt und müsse vor dem Hintergrund der Förderung der AN-Freizügigkeit ausgelegt werden. Würde bei zeitlich aufeinander folgenden Auslandseinsätzen das lex loci laboris-Prinzip angewendet, hätte das administrative Schwierigkeiten für AN, AG und die Sozialversicherungsträger zur Folge, die es gerade zu vermeiden gelte.*
Den Ausführungen der Generalanwälte ist zwar zuzustimmen, doch ist zu beachten, dass durch die Anwendung der Kollisionsnorm des Art 13 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 bei kurzen, aufeinanderfolgenden „Entsendungen“ Missbrauch Tür und Tor geöffnet würde, zumal Art 13 VO 883/2004 nicht die gleichen (strengen) Voraussetzungen verlangt wie Art 12 VO 883/2004. Entsendende AG könnten daher die Voraussetzungen des Art 12 VO 883/2004 leicht umgehen, indem direkt im Anschluss an die erste „Entsendung“ eine weitere angehängt wird. Die Missbrauchsgefahr gilt nicht nur für die Voraussetzung der gewöhnlichen Tätigkeit des AG im Herkunftsstaat iSd Art 12 Abs 1 VO 883/2004, die mE de lege ferenda in Art 13 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 aufgenommen werden sollte, sondern auch für die anderen Voraussetzungen des Art 12 Abs 1 VO 883/2004. Entsprechend hat GA Mazáketwa vorgeschlagen, nur dann von einer „Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist“
auszugehen, wenn die Dauer eines ununterbrochenen Arbeitszeitraums in einem Mitgliedstaat – wie in Art 12 VO 883/2004 – bis zu 24 Monate (damals noch zwölf Monate) betrage, nicht jedoch darüber hinaus. Andernfalls könnten sich entsendende AG durch Art 13 VO 883/2004 auch über die Dauer von 24 Monaten iSd Art 12 VO 883/2004 hinwegsetzen.* Zudem stellt sich de lege lata das praktische Problem, dass häufig erst im Nachhinein beurteilt werden kann, ob im Anschluss an einen Auslandseinsatz tatsächlich auch ein weiterer Auslandseinsatz stattgefunden hat. Wie der EuGH in der Rs Format aus dem Jahr 2012 selbst betont hat, werden zum Zeitpunkt 527 der Ausstellung der A1-Bescheinigung oftmals die Vertragsunterlagen ausschlaggebend sein, sodass durch eine entsprechende Formulierung des Arbeitsortes im Arbeitsvertrag die Anwendung des Art 13 VO 883/2004 erzielt werden könnte. Die Träger haben dabei gem Art 14 Abs 10 DVO die für die folgenden zwölf Kalendermonate angenommene Situation zu berücksichtigen; ob die Situation aber auch tatsächlich so eintritt, wird oft erst ex post beurteilt werden können.
Obgleich Art 12 VO 883/2004 ursprünglich eingeführt wurde, um die AN-Freizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit zu fördern und administrative Schwierigkeiten für AN, AG und Sozialversicherungsträger zu vermeiden, mussten aufgrund zunehmender missbräuchlicher Praktiken immer strengere Voraussetzungen in Art 12 VO 883/2004 eingeführt werden, um diesen Umgehungsstrategien entgegenzuwirken. Da Art 13 VO 883/2004 nicht die gleichen (strengen) Voraussetzungen vorsieht wie Art 12 VO 883/2004, verlagert sich die Missbrauchsgefahr nunmehr auch auf Art 13 VO 883/2004. Mit Spannung darf daher erwartet werden, wie der EuGH in der derzeit anhängigen Rs Format Art 12 von Art 13 VO 883/2004 abgrenzen wird. Um Missbrauchsfällen vorzubeugen, sollte aber auch der Unionsgesetzgeber aufgerufen werden, Art 13 VO 883/2004 zu novellieren. Es bleibt zu hoffen, dass im Zuge der aktuellen Trilog-Verhandlungen zur Novelle der VO 883/2004* bei den Entsendevorschriften eine Balance zwischen der Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs auf der einen Seite und der Bekämpfung von Missbrauch und Betrug auf der anderen Seite gefunden werden und diesbezüglich eine Einigung erzielt werden kann.
Die Missbrauchsgefahr bei Entsendungen betrifft nicht nur die Kollisionsnormen der VO 883/2004, sondern auch das bei Entsendungen einzuhaltende Verfahren. Besondere Schwierigkeiten wirft idZ die sogenannte A1-Bescheinigung auf, die in der Europäischen Sozialrechtskoordinierung mittlerweile eine Dauerbaustelle darstellt, mit der der EuGH seit dem Jahr 2000 bereits mehr als zehn Mal* befasst war. In der A1-Bescheinigung bescheinigt der Träger des Herkunftsstaates bei Entsendungen, dass ein AN oder eine selbständige Person seinem System der sozialen Sicherheit angeschlossen ist. Die A1-Bescheinigung entfaltet dem EuGH zufolge Bindungswirkung und hat zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates nicht angewendet werden darf, solange sie vom ausstellenden Träger nicht widerrufen oder für ungültig erklärt wird (Art 5 Abs 1 DVO). IdZ stellen sich mehrere Probleme, auf die näher einzugehen ist.
Gem Art 15 DVO hat der entsendende AG oder die selbständige Person, die „sich selbst entsendet“, den zuständigen Träger im Herkunftsstaat darüber zu unterrichten. Diese Unterrichtung hat grundsätzlich im Voraus zu erfolgen, „wann immer dies möglich ist“. Der Träger des Herkunftsstaates hat in Folge eine A1-Bescheinigung auszustellen und dem von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, bezeichneten Träger unverzüglich Informationen über die anzuwendenden Rechtsvorschriften zugänglich zu machen.*
Die A1-Bescheinigung entfaltet gem Art 5 Abs 1 DVO Bindungswirkung für die Träger des Empfangsstaates, und zwar so lange, bis sie von den Trägern des Herkunftsstaates, die sie ausgestellt haben, widerrufen oder für ungültig erklärt wird.* Die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung geht ursprünglich auf die Rsp des EuGH zurück. Sie dient dem EuGH zufolge der Rechtssicherheit über das anwendbare Sozialversicherungsrecht, das vorhersehbar sein müsse. Entsandte AN dürfen nur einem einzigen System der sozialen Sicherheit unterliegen und Doppelversicherungen müssen vermieden werden. Zudem betont der Gerichtshof, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit iSd Art 4 Abs 3 EUV, der auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert, die Träger des Herkunftsstaates verpflichtet, die Richtigkeit der in der A1-Bescheinigung angeführten Angaben zu gewährleisten und die Träger des Empfangsstaates verpflichtet, sich daran gebunden zu sehen.*
In weiteren Entscheidungen hat der EuGH die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung mehrfach bestätigt und weiterentwickelt. So entfaltet die A1-Bescheinigung nach Ansicht des EuGH nicht nur für die Träger des Empfangsstaates, sondern 528 auch für die Gerichte des Empfangsstaates Bindungswirkung; könnten nämlich die Träger des Empfangsstaates von einem Gericht im Empfangsstaat die A1-Bescheinigung für ungültig erklären lassen, wäre das auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten gegründete System gefährdet.* Ferner bejaht der EuGH die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung auch dann, wenn sie verspätet ausgestellt wird; denn sie entfalte Rückwirkung.* Die A1-Bescheinigung ist nach Ansicht des EuGH auch dann bindend, wenn dem Träger des Herkunftsstaates offensichtliche Beurteilungsfehler in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der VO 883/2004 und deren DVO unterlaufen sind, etwa weil die betreffenden AN nach Ansicht der Träger des Empfangsstaates offensichtlich nicht in den Anwendungsbereich des Art 12 der VO 883/2004 fallen,* oder weil die Entsendedauer von 24 Monaten überschritten ist.* Überdies entfaltet die A1-Bescheinigung dem EuGH zufolge auch dann Bindungswirkung, wenn sie der Träger des Herkunftsstaates erst ausstellt, nachdem der Träger des Empfangsstaates bereits die Zugehörigkeit des AN zu seinem System der sozialen Sicherheit festgestellt habe.* Zuletzt hat der EuGH die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung auch dann bejaht, wenn die zuständigen Behörden die VWK angerufen haben und diese zum Ergebnis kam, dass die A1-Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt worden ist und zurückgezogen werden sollte. Zieht der Träger des Herkunftsstaates die A1-Bescheinigung dennoch nicht zurück, bleibt sie bindend.*
IdZ drängt sich zunächst die Frage auf, wie die A1-Bescheinigung rechtlich einzuordnen ist. ME ist die A1-Bescheinigung als transnationaler Verwaltungsakt zu qualifizieren,* der dadurch gekennzeichnet ist, dass er von einem nationalen Träger eines Mitgliedstaates erlassen wird, jedoch nicht nur nationale, sondern transnationale Wirkungen über die Grenzen des Erlassstaates hinaus entfaltet. Diese Wirkung besteht bei der A1-Bescheinigung darin, dass sie den Trägern der anderen Mitgliedstaaten die Möglichkeit sperrt, die betroffenen AN in ihr eigenes System der sozialen Sicherheit einzubeziehen, solange die A1-Bescheinigung vom Träger des Herkunftsstaates nicht zurückgezogen oder widerrufen wird. Die A1-Bescheinigung entfaltet daher eine Sperrwirkung.*
Transnationale Verwaltungsakte sind aufgrund des Trennungsprinzips grundsätzlich in dem Mitgliedstaat zu bekämpfen, in dem sie erlassen worden sind.* Die betroffenen AN und AG können daher die A1-Bescheinigung vor den Gerichten des Staates bekämpfen, in dem sie ausgestellt worden ist. Haben aber die Träger des Empfangsstaates Zweifel an der Richtigkeit der A1-Bescheinigung, verweist sie der EuGH* auf ein dreistufiges Dialog- und Vermittlungsverfahren, das in Art 5 Abs 2-4 DVO und Art 76 Abs 6 VO 883/2004 kodifiziert ist.*
Bei Zweifeln an der Korrektheit der A1-Bescheinigung hat sich der Träger des Empfangsstaates in der ersten Stufe des Verfahrens an den Träger des Herkunftsstaates zu wenden und diesen um die notwendige Klarstellung und gegebenenfalls um den Widerruf der A1-Bescheinigung zu ersuchen. Der ausstellende Träger hat die notwendige Überprüfung der A1-Bescheinigung binnen einer Frist von drei Monaten vorzunehmen.* Können die Träger keine Einigung erzielen, ist in der zweiten Stufe des Verfahrens vorgesehen, dass die zuständigen Behörden benachrichtigt werden; das sind idR die zuständigen Ministerien. Kommt es auch zwischen den Behörden nicht zu einer Einigung, können sie in dritter Stufe die VWK anrufen, deren Aufgabe gem Art 72 VO 883/2004 ua in der Behandlung von Verwaltungs- und Auslegungsfragen besteht, die sich aus der VO 883/2004 und deren DVO ergeben.* Die Rolle der VWK beschränkt sich in diesem Schlichtungsverfahren aber auf eine Annäherung der Standpunkte der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten.* Sie kann jedoch de lege latakeine bindenden Entscheidungen treffen; gegen die Stellungnahme der VWK kann auch keine Nichtigkeitsklage nach Art 263 AEUV erhoben werden.* Aus diesem Grund entfaltet die A1-Bescheinigung dem EuGH zufolge auch dann Bindungswirkung, wenn die VWK zum Ergebnis kommt, dass die A1-Bescheinigung zu Unrecht 529 ausgestellt wurde, der Träger des Herkunftsstaates diese aber dennoch nicht zurückzieht. So hat etwa der ungarische Träger in der Rs Alpenrind die A1-Bescheinigung trotz einer entsprechenden Stellungnahme der VWK nicht zurückgezogen, mit der Begründung, dass das nationale ungarische Recht einer Zurückziehung der A1-Bescheinigung entgegenstehen würde und das Problem nur durch eine gerichtliche E gelöst werden könnte.*
Wenn aus diesen Gründen auch die dritte Stufe nicht zum Erfolg führt, bleibt den Mitgliedstaaten zuletzt nur die Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gem Art 259 AEUV;* in der Praxis machen die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit jedoch nur ganz selten Gebrauch.* Damit sind den Trägern der Empfangsstaaten weitgehend die Hände gebunden, solange die Träger des Herkunftsstaates nicht kooperativ sind und die A1-Bescheinigung widerrufen oder für ungültig erklären. Die Träger der Empfangsstaaten haben auch nicht die Möglichkeiten, einen nationalen Bescheid zu erlassen, mit dem sie die betroffenen AN in ihr System der sozialen Sicherheit einbeziehen, weil die A1-Bescheinigung Vorrang vor den nationalen Bescheiden hat und – auch rückwirkend – Bindungswirkung entfaltet. Das wirft jedoch einige verwaltungsrechtliche Fragen auf.
Einseitige Handlungen der Träger der Empfangsstaaten müssen nach Ansicht des EuGH ausgeschlossen werden; andernfalls wäre die Rechtssicherheit der AN beeinträchtigt und deren Freizügigkeit innerhalb der Union gefährdet. Der Gerichtshof möchte damit einen „Wettlauf“ zwischen den nationalen Behörden verhindern, bei dem jede Behörde versucht wäre, als erste einen Bescheid über die Versicherung in ihrem System der sozialen Sicherheit auszustellen,* iS von „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Aus diesem Grund hat auch das BVwG in der Rs Alpenrind den Bescheid des österreichischen Trägers wegen internationaler Unzuständigkeit zur Gänze ersatzlos behoben;* der VwGH hat dies nach der E des EuGH bestätigt.*
Schwieriger ist die Situation jedoch, wenn der Bescheid im Empfangsstaat bereits in Rechtskraft erwachsen ist, etwa weil der Bescheid durch den Träger des Empfangsstaates erlassen wird und der Träger des Herkunftsstaates erst zu einem späteren Zeitpunkt die A1-Bescheinigung ausstellt, die dann Rückwirkung entfaltet. Grundsätzlich ist ein Bescheid, der gegen Unionsrecht verstößt, nach der hL nicht automatisch unbeachtlich und unanwendbar, sondern nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit gültig und wirksam.* Das Unionsrecht verlangt auch nicht, dass rechtskräftige Bescheide, die nationale Behörden erlassen haben, jedenfalls zurückgenommen werden müssen, wenn sie unionsrechtswidrig sind. Etwas anderes ist auch aus der EuGH-E Ciola* nicht abzuleiten.* Vielmehr sind die Rechtswirkungen individueller Vollzugsakte nach dem nationalen Recht zu beurteilen, wenn dafür keine unionsrechtlichen Vorschriften vorgesehen sind. Unter Einhaltung des Äquivalenz- und des Effektivitätsprinzips sind daher entsprechende nationale Vorschriften heranzuziehen, die die Durchbrechung der Rechtskraft normieren.* Im österreichischen Recht kommen eine Nichtigerklärung des Bescheids gem § 68 Abs 4 Z 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) iVm § 416 ASVG oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens gem § 69 Abs 1 Z 2 AVG in Betracht, wobei im Einzelfall geprüft werden muss, ob ein Verschulden der Partei iSd § 69 Abs 1 Z 2 AVG vorliegt oder nicht.* Im Ergebnis wird es aber den österreichischen Trägern in der Regel nicht gelingen, die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung dadurch zu durchbrechen, dass sie die nach Österreich entsandten AN mittels Bescheids in ihr System der sozialen Sicherheit einbeziehen.
In der Literatur* wurde bereits mehrfach auf die Mängel des Dialog- und Vermittlungsverfahrens hingewiesen, das de lege lata zahlreiche Schwachstellen aufweist und nicht effizient ist. Problematisch ist zunächst, dass es sich bei der Ausstellung der A1-Bescheinigung um ein „Massenverfahren“ handelt und die Träger in den Herkunftsstaaten häufig gar nicht die Kapazitäten haben, jedes einzelne Formular gründlich im Hinblick auf alle Vo raus setzungen des Art 12 VO 883/2004 zu prüfen.* Zudem haben die Träger im Herkunftsstaat oftmals kein Interesse daran, eine bereits ausgestellte A1-Bescheinigung zurückzuziehen; dies wäre auch mit komplexen Rückabwicklungsfragen verbunden, insb wenn der AN im Herkunftsstaat bereits Leistungen in Anspruch genommen hat. Aus diesem Grund hält sich die Kooperationsbereitschaft der Träger der Herkunftsstaaten oft in Grenzen.*
Der EuGH hält aber dennoch an der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung fest und betont, dass 530 die Durchführung des Unionsrechts nicht von einer Gegenseitigkeitsvoraussetzung abhängig gemacht werden dürfe. MaW: Nur weil ein Staat den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verletzt, heißt das noch nicht, dass auch der andere Staat nicht mehr daran gebunden ist. Der Empfangsstaat kann die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht damit rechtfertigen, dass andere Mitgliedstaaten auch nicht ihren Verpflichtungen nachkommen würden.* Selbst bei offenkundigen Fehlern dürfen die Träger der Empfangsstaaten daher die A1-Bescheinigung nicht einseitig außer Acht lassen.*
Diese Probleme, die darauf zurückzuführen sind, dass bindende Verwaltungsakte eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat nicht bekämpft werden können, sind auch bereits aus anderen Bereichen der horizontalen Verwaltungskooperation in der Union bekannt.* Vor dem Hintergrund, dass die A1-Bescheinigung aber sehr missbrauchsanfällig ist und bei Entsendungen häufig betrügerische Praktiken angewendet werden, wobei in vielen Fällen nur die Träger der Empfangsstaaten in der Lage sind, diesen Betrug zu erkennen, hat sich die Rsp des EuGH zur Bindungswirkung der A1-Bescheinigung als besonders problematisch erwiesen. Erstmals im Jahr 2018* akzeptierte der EuGH aus diesem Grund eine Durchbrechung der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung bei Betrug, die er seither bereits zwei weitere Male bestätigt hat.*
Blindes Vertrauen kann aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht abgeleitet werden; es soll nicht dazu missbraucht werden, betrügerischem Verhalten Tür und Tor zu öffnen.* Das hat der EuGH seit 2018 bereits in drei Entscheidungen – Altun,* Kommission/Belgien* und CRPNPAC und Vueling*– bestätigt und betont, dass die Gerichte des Empfangsstaates in Strafverfahren gegen den AG die A1-Bescheinigung außer Acht lassen können, wenn festgestellt worden ist, dass die A1-Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht worden ist. Ob Betrug vorliegt, muss unionsrechtlich autonom ausgelegt werden. Der EuGH verlangt dafür ein objektives und ein subjektives Element. Das objektive Element besteht in der Nichterfüllung der Kriterien für den Erhalt einer A1-Bescheinigung; das subjektive in der Absicht der Betreffenden, die Voraussetzungen für die Ausstellung der A1-Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen. Liegen beide Voraussetzungen vor, hat der Träger des Empfangsstaates dem ausstellenden Träger im Herkunftsstaat Beweise* – in der Rs Vuelingspricht der EuGH dagegen von Indizien* – vorzulegen, die den Schluss zulassen, dass die A1-Bescheinigung betrügerisch erlangt worden ist. Der ausstellende Träger hat dann anhand der Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist und die A1-Bescheinigung gegebenenfalls zurückzuziehen. Unterlässt der ausstellende Träger die erneute Überprüfung innerhalb einer angemessenen Frist, können die Beweise in einem gerichtlichen Verfahren im Empfangsstaat geltend gemacht werden, um zu erreichen, dass das Gericht des Empfangsstaates die A1-Bescheinigung außer Acht lässt. Voraussetzung ist jedoch, dass die Träger des Empfangsstaates vor der Außerachtlassung der A1-Bescheinigung durch die Gerichte des Empfangsstaates zunächst verpflichtend ein Dialogverfahren eingeleitet haben.* Denn für eine definitive Feststellung von Betrug ist es nach Ansicht des EuGH notwendig, mit den Trägern des Herkunftsstaates in Kontakt zu treten. Selbst wenn also sowohl das objektive als auch das subjektive Element für Betrug vorliegen, darf das Gericht des Empfangsstaates die A1-Bescheinigung nicht außer Acht lassen, wenn die Träger des Empfangsstaates nicht zuvor das Dialogverfahren eingeleitet haben.* Dass auch die VWK angerufen werden muss, bevor die Gerichte des Empfangsstaates die A1-Bescheinigung außer Acht lassen, verlangt der EuGH dagegen nicht; die Anrufung der VWK bleibt fakultativ.
Wenngleich der EuGH mit dieser Rsp einen großen Schritt bei der Bekämpfung von Sozialbetrug vollzogen hat, bleiben nach den drei Entscheidungen zahlreiche Fragen offen. So geht aus den Rs Altun, Kommission/Belgien und Vueling bislang nicht hervor, ob die Empfangsstaaten bei Betrug neben der Verhängung von Strafmaßnahmen gegen den AG auch ex tunc die Sozialversicherungsbeiträge einheben dürfen, was dazu führen würde, dass in zwei Mitgliedstaaten gleichzeitig Beiträge entrichtet würden und damit der Grundsatz der Vermeidung von Doppelversicherungen iSd VO 883/2004 durchbrochen würde.* GA Saugmandsgaard hat das in seinen Schlussanträgen bejaht, weil bei Betrug sichergestellt werden müsse, dass die Beteiligten 531 keinen Vorteil aus dem betrügerischen Verhalten ziehen. Dies gehe dem Grundsatz der Anwendung der Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates im Bereich der sozialen Sicherheit vor.* Den Schlussanträgen des GA ist viel abzugewinnen; ausdrücklich bestätigt hat das der EuGH bislang aber nicht. Immerhin hat der EuGH aber bereits ein Signal dafür gesetzt, indem in der Rs Vueling in Rn 68 hervorhebt, dass das Dialogverfahren verpflichtend eingehalten werden muss, weil andernfalls die Gefahr bestünde, dass die Träger des Empfangsstaats allein aufgrund des Vorliegens konkreter Indizien für einen Betrug die A1-Bescheinigungen einseitig außer Acht lassen würden und Beiträge im Empfangsstaat geschuldet würden, obwohl in diesem Stadium nicht definitiv festgestellt werden konnte, ob tatsächlich Betrug vorliegt, weil der Träger des Herkunftsstaates nicht einbezogen worden ist.*
Ferner ist unklar, ob die Rsp in den Rs Altun, Kommission/Belgien und Vueling auch auf das Rechtsinstitut des Rechtsmissbrauchs übertragen werden kann. Wenngleich der EuGH in allen drei Entscheidungen einleitend festhält, dass sich Rechtsunterworfene nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können und dass der Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstelle,* setzt er sich in allen drei Entscheidungen in Folge nur mit dem Betrug auseinander.* Zur Durchbrechung der A1-Bescheinigung bei Rechts missbrauch, der andere Elemente voraus setzt als der Betrug,* hat sich der EuGH noch nicht geäußert. Bislang konnte es der Gerichtshof vermeiden, sich bei Entsendungen im Sozialversicherungsrecht mit dem Rechtsinstitut des Rechtsmissbrauchs näher zu befassen, weil er bereits die Voraussetzungen des Art 12 VO 883/2004 so weit ausgelegt hat – etwa beim Ablöseverbot in der Rs Alpenrind (oben Pkt 2.2.2.) –, dass sich die Frage nach dem Rechtsmissbrauch gar nicht mehr gestellt hat. Sollte der EuGH aber in Zukunft mit einer Konstruktion konfrontiert sein, bei der die Voraus setzungen des Art 12 VO 883/2004 zwar erfüllt sind, die sich jedoch als eine „rein künstliche und jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung“* herausstellt, die nur zur Ausnutzung günstigerer Sozialversicherungsbeiträge in einem Mitgliedstaat gewählt wurde und alle Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchs im Unionsrecht erfüllt, ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH auch bei Rechtsmissbrauch eine Durchbrechung der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung annehmen würde. Der Nachweis von Rechtsmissbrauch ist für die Träger des Empfangsstaates aber freilich noch schwieriger als das Vorliegen von Betrug.*
Das Dialog- und Vermittlungsverfahren zeigt de lege lataerhebliche Mängel auf. Es ist unumstritten, dass die Kooperation zwischen den Trägern in der Praxis nicht gut funktioniert und das Unionsrecht keinen Rahmen für eine schnelle und effektive Kooperation zwischen den Trägern bietet. Der EuGH gesteht selbst ein, dass das Dialog- und Vermittlungsverfahren in der Praxis Schwierigkeiten aufwerfe und nicht zufriedenstellend sei.* Diese Probleme sind darauf zurückzuführen, dass die VO 883/2004 und deren DVO historisch nicht auf die Bekämpfung von Betrug und Missbrauch ausgelegt waren. Vielmehr sollten die Bestimmungen der VO 883/2004 und deren DVO gerade dem Interesse der betroffenen Personen dienen. Auch der Zweck der Bestimmungen zur gegenseitigen Kooperation zwischen den Trägern lag nicht primär darin, die betroffenen Personen zu kontrollieren, sondern den betroffenen Personen ihre Rechte und Leistungen zu garantieren.*
Erst nach der EU-Erweiterung 2004 kam das Bedürfnis nach Bekämpfung von Betrug und Missbrauch auch iZm der Sozialrechtskoordinierung auf. Das kam in der VO 883/2004 und deren DVO deutlich zum Ausdruck. Gegenüber der VO 1408/71 und deren DVO wurde die gegenseitige Kooperation als Mittel ua auch zur Bekämpfung von Missbrauch und Betrug verstärkt und verbessert. ErwGr 19 der DVO stellt auch direkt auf die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug ab.* Es zeigt sich jedoch, dass das aktuelle System noch immer zahlreiche Schwachstellen aufweist und de lege ferenda verbessert werden muss.
Zwei Probleme sollen hier hervorgehoben werden. Die erste Schwierigkeit beim Schlichtungsverfahren liegt darin, dass dabei jeder Mitgliedstaat sein eigenes Verfahrensrecht anwendet und keine einheitlichen verfahrensrechtlichen Vorschriften 532 vorgesehen sind. Der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten findet jedoch dort seine Grenzen, wo „aufgrund einer objektiven Beurteilung, dh insb auf Grund bereits gemachter Erfahrungen, zu erwarten [ist], dass es beim Vollzug eines bestimmten unionsrechtlich geregelten Rechtsgebietes durch nationale Behörden regelmäßig Schwierigkeiten geben würde, die die Wirksamkeit des einschlägigen Unionsrechts beschränken würden“
.* Vor dem Hintergrund des Effektivitätsprinzips könnte daher den derzeitigen Schwierigkeiten beim Schlichtungsverfahren de lege ferenda dadurch begegnet werden, dass in der VO 883/2004 und deren DVO bestimmte verfahrensrechtliche Vorschriften – stets unter Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art 5 Abs 4 EUV) und der Subsidiarität (Art 5 Abs 3 EUV)* – vereinheitlicht werden.*
Ein zweiter Schwachpunkt des Dialog- und Vermittlungsverfahrens liegt darin, dass es keine unionsrechtliche Einrichtung gibt, die verbindliche Entscheidungen treffen kann. Es wurde bereits betont, dass die VWK de lege lata im Schlichtungsverfahren nicht bindend entscheiden darf. Mit der VO 2019/1149* wurde zwar nunmehr auch die Europäische Arbeitsbehörde (ELA) errichtet, die ihre Tätigkeit bis zum 1.8.2021 aufnehmen und die Mitgliedstaaten bei der wirksamen Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts im Bereich der unionsweiten Arbeitskräftemobilität und der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit unterstützen wird. In Zukunft kann daher bei Streitigkeiten in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht auch die ELA angerufen werden. Doch kann auch die ELA im Rahmen eines Mediationsverfahrens gem Art 13 VO 2019/1149 nur eine unverbindliche Stellungnahme abgeben. Überdies muss die ELA die VWK davon in Kenntnis setzen, wenn ein Streitfall den Bereich der sozialen Sicherheit betrifft und wird auf Ersuchen der VWK und mit Zustimmung der betroffenen Mitgliedstaaten oder auf Ersuchen eines betroffenen Mitgliedstaates die Fragen, die in den Bereich der sozialen Sicherheit fallen, an die VWK verweisen.* Ob die ELA daher bei der Kooperation zwischen den Trägern in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht erhebliche Verbesserungen bewirken wird, ist nicht gesichert, doch wird das erst die Zukunft zeigen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die Bestimmungen zur gegenseitigen Kooperation als der Schlüssel zur Bekämpfung von Betrug in der Sozialrechtskoordinierung erweisen; eine funktionierende Kooperation zwischen den Trägern bildet das Fundament und ist absolute Voraussetzung für die VO 883/2004, auch für das in Titel II geregelte anwendbare Recht.* Ohne gut funktionierende Kooperation kann und wird die Koordinierung der sozialen Sicherheit nicht gelingen.* Die Schraube, an der es zur Bekämpfung von Missbrauch und Betrug bei Entsendungen in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht zu drehen gilt, sind daher nicht nur die Kollisionsnormen Art 11, 12, 13 und 16 VO 883/2004, sondern auch die Europäische Sozialverwaltung. 533