180Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für Mitarbeiterin des Internationalen Zentrums für Migrationspolitikentwicklung
Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für Mitarbeiterin des Internationalen Zentrums für Migrationspolitikentwicklung
Der Begriff „Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in Österreich haben“ in Art 14 Abs 2 des International Centre for Migration Policy Development-(ICMPD-)Amtssitzabkommens ist nicht iSd Art 18 dieses Abkommens auszulegen. Der ständige Wohnsitz muss daher nicht bereits zum Zeitpunkt des Dienstantritts vorliegen.
Die Kl ist montenegrinische Staatsangehörige und seit 16.1.2012 beim Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (in weiterer Folge „ICMPD“) mit Sitz in Wien beschäftigt. Am 29.6.2009 heiratete sie, damals in Montenegro lebend, einen österreichischen Staatsbürger mit Wohnort in Wien. Seit der Heirat hielt sie sich in Wien und Spanien auf. Die gemeinsame Tochter, für die der Vater die Familienbeihilfe bezieht, wurde am 24.3.2016 in Wien geboren. Im Jahr 2016 hielt sich die Kl jedenfalls hauptsächlich in Wien auf. Ab Februar 2017 besuchte das Kind einen Kindergarten in Wien. Die Kl erhielt vom ICMPD für die Zeit von 15.3. bis 4.7.2016 Wochengeld. Sie beantragte im Juni 2016 Kinderbetreuungsgeld in der Variante 12+2 in Höhe von € 33,- täglich ab der Geburt ihrer Tochter für die höchstmögliche Bezugsdauer.
Mit Bescheid lehnte die Bekl den Kinderbetreuungsgeldbezug mit der Begründung ab, dass die Kl nach Art 14 Abs 2 des Amtssitzabkommens zwischen der Republik Österreich und dem ICMPD von Leistungen aus dem Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen ausgeschlossen sei. Nach dieser Regelung sind die „Angestellten des Zentrums sowie deren im gemeinsamen Haushalt lebende Familienmitglieder, auf die sich das Abkommen bezieht, […] von den Leistungen aus dem Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen oder einer Einrichtung mit gleichartigen Funktionen ausgeschlossen, sofern diese Personen weder österreichische Staatsbürger sind noch ihren ständigen Wohnsitz in Österreich haben“
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In ihrer dagegen erhobenen Klage begehrte die Kl die Feststellung, dass ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld besteht und berief sich darauf, dass sie ihren ständigen Wohnsitz seit 2009 in Österreich habe.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil mit der Begründung, Art 14 Abs 2 des Abkommens beziehe sich nach seinem Wortlaut und seinem Zweck auf den Zeitraum der Inanspruchnahme der Familienbeihilfeleistung. Es ließ die Revision zu, um die Frage zu klären, ab welchem Zeitpunkt und über welchen Zeitraum ein „ständiger Wohnsitz in Österreich“ iSd Art 14 Abs 2 des Amtssitzabkommens vorliegen muss, damit Angestellte des ICMPD nicht vom Bezug von Leistungen des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfe ausgeschlossen sind.
Der OGH erachtete die Revision der Bekl als nicht berechtigt.
„[…] 1. Nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG hat ein Elternteil Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld für sein Kind, wenn für dieses ein Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird. Der Kinderbetreuungsgeldanspruch knüpft somit an den Familienbeihilfeanspruch nach dem FLAG an. […]
2.3 Die Klägerin ist als Angestellte des ICMPD von der Ausschlussklausel in Art 14 Abs 2 des Amtssitzabkommens nicht erfasst, wenn sie ihren ständigen Wohnsitz (‚permanent residence‘) in Österreich hat. Strittig ist vorerst die Auslegung des Begriffs ‚ständiger Wohnsitz‘. […]
4.1 Art 18 des Amtssitzabkommens enthält unter dem Titel ‚Österreichische Staatsangehörige und Personen mit ständigem Wohnsitz in der Republik Österreich‘ folgende Regelung:
‚Österreichische Staatsangehörige und Personen, die zum Zeitpunkt ihres Dienstantritts ihren ständigen Wohnsitz in Österreich haben, genießen nur die in den Art 12, Art 14 (1) (a), (b) mit den darin vorgesehenen Einschränkungen, (c) und (d) und Art 16 (1) (a), (b) und (c) angeführten Privilegien und Immunitäten.‘
4.3 Art 14 Abs 2 des Abkommens fordert nach seinem Wortlaut im Gegensatz zu Art 18 nicht, dass der ständige Wohnsitz in Österreich bereits zum Zeitpunkt des Dienstantritts vorliegen muss. Das Abkommen selbst enthält keine ausdrückliche Legaldefinition des Begriffs ‚ständiger Wohnsitz‘. Dieser wird im Zusammenhang mit unterschiedlichen Regelungsinhalten verwendet, einerseits als Ausnahme vom Ausschluss von Familienbeihilfeleistungen in Art 14 Abs 2 und andererseits mit der 427 Einschränkung von Steuer- und Abgabenbefreiungen und sonstigen Privilegien der Angestellten des ICMPD in Art 18. […]
6.1 Die Frage, welche Privilegien und Immunitäten Diplomaten oder Angestellte einer internationalen Organisation mit Sitz in Österreich haben, wird erst mit Beginn der Funktionsübernahme oder dem Dienstantritt aktuell. Der Zweck der den Angestellten des ICMPD im Abkommen eingeräumten Privilegien und Immunitäten liegt nach dessen Art 19 Satz 2 darin, dem ICMPD die ungestörte Ausübung der amtlichen Tätigkeiten zu ermöglichen und die vollkommene Unabhängigkeit der Personen, denen sie eingeräumt werden, sicherzustellen.
6.2 Für den Bezug von Familienbeihilfeleistungen, der in Art 14 Abs 2 des Abkommens geregelt wird, hat diese Unabhängigkeit, wie sie etwa durch die Immunität gewährleistet werden soll, keine Bedeutung. Nach Sinn und Zweck der Ausschlussklausel kann nur der Beginn des Zeitraums relevant sein, ab dem Familienbeihilfeleistungen überhaupt beansprucht werden können. Dieser Zeitraum beginnt nicht jedenfalls mit dem Dienstantritt: Für Kinder, die erst nachher geboren werden, gibt es zum Zeitpunkt der Funktionsübernahme noch keine Familienbeihilfe. Eine Verlegung des (Familien-) Wohnsitzes als Lebensmittelpunkt in einen anderen Staat (beispielsweise den Herkunftsstaat), die nach Übernahme der Funktion während des Anspruchszeitraums erfolgt, schließt zufolge § 2 Abs 1 und 8 FLAG den Anspruch auf Familienbeihilfe aus. Es wäre sinnlos, Personen im Abkommen von der Ausschlussklausel zunächst auszunehmen, um sie dann an den in § 2 Abs 8 FLAG (siehe auch § 2 Abs 1 Z 4 KBGG) geregelten Voraussetzungen für den Bezug der Familienbeihilfe und des Kinderbetreuungsgeldes scheitern zu lassen.
7. Der Begriff ‚Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in Österreich haben‘ in Art 14 Abs 2 des ICMPD-Amtssitzabkommens ist nicht iSd Art 18 dieses Abkommens auszulegen. Der ständige Wohnsitz muss daher nicht bereits zum Zeitpunkt des Dienstantritts vorliegen.
8.1 Nach dem österreichischen Begriffsverständnis setzt der Begriff des Wohnsitzes zwei Elemente voraus, die Tatsache des Aufenthalts an einem bestimmten Ort und die erweisliche oder aus den Umständen nach außen hervorgehende Absicht, dort einen bleibenden Aufenthalt zu nehmen (§ 66 Abs 1 JN; VwGH 17.10.2017, Ro 2016/01/0011; 3 Ob 169/17z; RIS-Justiz RS0046600 [T3]). Mehrfachwohnsitze sind möglich, wenn die Absicht bestand, mehrere Orte zum jeweiligen Mittelpunkt der Lebensführung zu machen. […]
8.2 Nach § 2 Abs 1 FLAG haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz (oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt) haben, Anspruch auf Familienbeihilfe. Art 14 Abs 2 des Abkommens nimmt von der Ausschlussklausel – neben österreichischen Staatsbürgern – nur Personen mit ständigem Wohnsitz in Österreich aus, fordert nach seinem Wortlaut insofern also mehr als das FLAG oder andere Amtssitzabkommen, die im Zusammenhang mit der Ausnahme vom Ausschluss die Formulierung „Wohnsitz in der Republik Österreich“ genügen lassen (Art X Abschnitt 26 IAEO-Abkommen; Art XII Abschnitt 39 lit b der UN- und UNIDO-Abkommen). Im Gegensatz zu diesen Amtssitzabkommen werden in Art 14 Abs 2 des Abkommens jedoch nicht nur Staatenlose, sondern auch Drittstaatsangehörige österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.
8.3 Diese Gleichstellung spricht in Verbindung mit dem verwendeten Ausdruck ‚ständigen‘ für eine Auslegung, nach der die Vertragsparteien der Ausnahmeregelung eine besondere Nahebeziehung zu Österreich (wie sie das nationale Recht in § 2 Abs 8 FLAG und § 2 Abs 1 Z 4 KBGG verankert) zugrunde legten.
8.4 Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben. Eine Person hat den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in dem Staat, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat (§ 2 Abs 8 FLAG). Der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld setzt nach § 2 Abs 1 Z 4 KBGG voraus, dass der Elternteil und das Kind den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben. Bei verheirateten Personen, die einen gemeinsamen Haushalt führen, besteht die stärkste persönliche Beziehung in der Regel zum Ort, an dem sie und ihre Familie leben (10 ObS 180/19x). Angestellte und im gemeinsamen Haushalt lebende Familienmitglieder, die nicht österreichische Staatsbürger sind, sollen nach dem Zweck des Art 14 Abs 2 des Abkommens von Familienbeihilfeleistungen ausgeschlossen werden, wenn sie einen zusätzlichen Wohnsitz in einem anderen Staat haben, und zwischen zwei oder mehreren Staaten pendeln. In diesem Fall liegt kein ständiger Wohnsitz in Österreich iSd Art 14 Abs 2 des Abkommens vor. […]
9.1 Nach den (teils dislozierten) Feststellungen der Vorinstanzen sind die Klägerin und ihr Mann, ein österreichischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich, seit Jahren Hauptmieter einer Wohnung in Wien (und dort seit 25.4.2012 hauptwohnsitzlich gemeldet). Die gemeinsame Tochter, eine österreichische Staatsbürgerin, wurde am 24.3.2016 in Österreich geboren und besucht seit Februar 2017 einen Kindergarten in Wien. Untersuchungen für den Mutter-Kind-Pass wurden in Wien durchgeführt. Ausdrücklich festgestellt wurde der ständige (zu 95 %) Aufenthalt der Klägerin in Wien für das Jahr 2016. Der Vater bezieht die Familienbeihilfe für das Kind, was seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz in Österreich voraussetzt. Es steht fest, dass er schon 2009 zum Zeitpunkt der Heirat mit der Klägerin in Österreich wohnte. […]
9.3 Die Klägerin erfüllt das Erfordernis des ‚ständigen Wohnsitzes‘ in Österreich iSd Art 14 Abs 2 des Abkommens. Sie ist demnach nicht vom Bezug der Familienbeihilfe und damit des Kinderbetreuungsgeldes ausgeschlossen.“ 428
Eine der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld nach § 2 Abs 1 Z 1 KBGG ist das Vorliegen des Anspruchs auf Familienbeihilfe und deren tatsächlicher Bezug. Nach § 2 Abs 1 FLAG setzt der Anspruch auf Familienbeihilfe einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet voraus. Weiters normiert § 2 Abs 8 FLAG, dass Personen nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe haben, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben, wobei als Mittelpunkt der Lebensinteressen einer Person jener Staat betrachtet wird, zu dem diese die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat.
Im vorliegenden Fall hatte sich der OGH mit der Auslegung des in Art 14 Abs 2 ICMPD-Amtssitzabkommens vorkommenden Begriffs des „ständigen Wohnsitzes“ zu beschäftigen, da nur für den Amtssitzabkommen unterliegende Personen mit österreichischer Staatsbürgerschaft oder aber mit ständigem Wohnsitz in Österreich der in dieser Bestimmung geregelte Ausschluss vom Bezug der Familienbeihilfe nicht zur Anwendung kommt. Zwar fordert Art 14 Abs 2 des Amtssitzabkommens mit dem Erfordernis des „ständigen“ Wohnsitzes in Österreich nach seinem Wortlaut mehr als das FLAG oder andere Amtssitzabkommen. Der OGH hat sich aber entgegen dem Vorbringen der Bekl nicht an dem in Art 18 des Amtssitzabkommens vorhandenen Wohnsitzbegriff – der nach der zuvor genannten Bestimmung bereits bei Dienstantritt vorliegen muss – orientiert, sondern stellt in der Entscheidung klar, dass nach dem Sinn und Zweck der Ausschlussklausel des § 14 Abs 2 lediglich der Beginn des Zeitraums relevant sein kann, ab dem Familienbeihilfeleistungen überhaupt beansprucht werden können.
Der Ausdruck des „ständigen“ Wohnsitzes legt der OGH dahingehend aus, dass damit eine besondere Nahebeziehung zu Österreich gefordert wird. Eine solche Nahebeziehung sieht er in der vorliegenden Konstellation angesichts der konkreten Lebensund Wohnverhältnisse der Familie als gegeben an. Zu einer anderen Beurteilung könnte man nach den Ausführungen des OGH etwa dann gelangen, wenn die Familie schon vor der Geburt des Kindes sowie während des Bezugszeitraums nicht im gemeinsamen Haushalt in Österreich lebte, wenn die Versicherte und ihr Ehemann von vornherein beabsichtigten, nach Beendigung der Tätigkeit für das ICMPD den gemeinsamen Familienwohnsitz ins Ausland zu verlegen oder wenn im Bezugszeitraum ein zusätzlicher Wohnsitz im Ausland bestehen würde. Da Derartiges jedoch im vorliegenden Fall nicht behauptet wurde, kommt die Ausschlussregelung des Art 14 des Amtssitzabkommens nicht zur Anwendung.