181Entziehung eines zu Unrecht gewährten Rehabilitationsgeldes auch bei nur geringfügigen Verbesserungen des Gesundheitszustandes zulässig
Entziehung eines zu Unrecht gewährten Rehabilitationsgeldes auch bei nur geringfügigen Verbesserungen des Gesundheitszustandes zulässig
Die materielle Rechtskraft des Gewährungsbescheids steht im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität einer späteren Entziehung nur dann entgegen, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist.
Ist eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen und geistigen Zustands der ursprünglich bestehenden Beeinträchtigungen feststellbar, ist eine Entziehung gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt.
Die 1969 geborene Kl hat 294 Beitragsmonate nach dem ASVG erworben, sie war von 2005 bis 2015 als Kindergartenassistentin beschäftigt. Ihr wurde von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) ab 1.8.2016 aufgrund vorübergehender Invalidität Rehabilitationsgeld gewährt. Sie leidet an einem Zustand nach Bandscheibenoperation L4/5 im September 2014, Protrusionen der gesamten Lendenwirbelsäule mit Nervenwurzeltangierung sowie einer Kniegelenksabnützung links.
Aufgrund dieser gesundheitlichen Einschränkungen wäre sie noch in der Lage, eine ganztägige, leichte körperliche Arbeit, beispielsweise als Tagportierin, zu verrichten. Ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestand daher eigentlich gar nicht. Die PVA hatte ihr zu Unrecht Rehabilitationsgeld zugesprochen. Während des Bezugs des Rehabilitationsgeldes unterzog sich die Kl einer Kniegelenksimplantation. Das führte zu einer Verbesserung ihrer Steh- und Gangleistung, gleichzeitig verschlechterte sich jedoch die Feinmotorik der Kl.
Die PVA entzog das Rehabilitationsgeld mit Bescheid vom 13.2. ab 31.3.2019 aufgrund einer Besserung des Gesundheitszustandes. Die Kl sei nun 429 auf Grund der durchgeführten Kniegelenksimplantation für leichte körperliche Arbeiten geeignet.
Die Kl erhob dagegen Klage, welcher vom Erstgericht stattgegeben wurde. Begründend führte dieses aus, die Kl sei nie vorübergehend invalid gewesen. Es sei zu keiner wesentlichen Verbesserung gekommen, weshalb die Rechtskraft des Bescheids von 2016 einer Entziehung entgegenstehe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der PVA insofern Folge, als es die Sache ans Erstgericht zurückverwies. Es müsse festgestellt werden, ob es wesentliche Änderungen im Gesundheitszustand, insb auch im Verweisungsfeld gegeben hat.
Der OGH gab dem Rekurs der PVA Folge und erkannte in der Sache selbst, dass kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld vorliege; das Eventualbegehren auf Gewährung einer Invaliditätspension wurde zurückgewiesen.
„1.1 Die Entziehung des Rehabilitationsgelds als laufende Geldleistung aus der Krankenversicherung (§ 143a ASVG) ist nach § 99 Abs 1 ASVG zu beurteilen. […]
1.3 Rehabilitationsgeld soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Ersatz für den Wegfall der befristeten Invaliditätspension sein […]. Beim Rehabilitationsgeld handelt es sich jedoch um eine unbefristete Dauergeldleistung (10 ObS 123/19i). Eine […] wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands bewirkt nicht das Erlöschen des Anspruchs auf Rehabilitationsgeld ohne weiteres Verfahren, sondern ist Voraussetzung dafür, dass es […] entzogen werden kann. […]
2.1 Die Entziehung einer laufenden Leistung, wie des Rehabilitationsgeldes, ist nach § 99 Abs 1 ASVG nur zulässig, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 50/15y SSV-NF 29/48); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS-Justiz RS0106704; RS0083941 [T1]). […]
3.2 Im vorliegenden Fall lag allerdings nach den Feststellungen bei der Klägerin im Gewährungszeitpunkt keine vorübergehende Invalidität vor, sodass ihr das Rehabilitationsgeld materiell unrichtig zuerkannt wurde. Zwar hat sich der körperliche und geistige Zustand der Klägerin verändert. […] Damit stellt sich die Frage, ob diese Veränderung des Gesundheitszustands der Klägerin unter Beachtung der materiellen Rechtskraft des Gewährungsbescheids eine Entziehung der Leistung rechtfertigt.
4.1 […] Aus der formellen Rechtskraft eines Bescheids erwächst grundsätzlich auch seine materielle Rechtskraft. Dabei handelt es sich um die mit dem Bescheid verbundene Bindungswirkung für die Behörden und Parteien, und zwar nicht nur hinsichtlich der normativen Aussagen, sondern auch hinsichtlich der Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit. […]
4.2 Ihre ursprüngliche Identität verliert eine Sache erst durch eine Änderung der entscheidungsrelevanten Fakten. Wesentlich ist eine Änderung des Sachverhalts nur dann, wenn […] die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheids zumindest möglich ist (Hengstschläger/Leeb, § 68 AVG Rz 26 mzN). […]
4.3 Nach ständiger Rechtsprechung in Sozialrechtssachen ist ein Leistungsentzug nicht gerechtfertigt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. […] Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (10 ObS 20/92, SSV-NF 6/17 mwH; RS0083941 [T6]). § 99 ASVG bietet keine Grundlage für die Korrektur einer fehlerhaften Zuerkennung von Pensionen […].
4.4 Für den vorliegenden Fall folgt daraus als Zwischenergebnis, dass die Rechtskraft des Gewährungsbescheids der Entziehung aus dem Grund, dass die Klägerin wieder am Arbeitsmarkt einsetzbar ist, entgegensteht, weil sich dieses entscheidungsrelevante Merkmal nicht verändert hat.
5.1 Allerdings hat sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin dennoch gegenüber dem Gewährungsbescheid verändert, insbesondere auch teilweise verbessert. Da somit kein gegenüber dem Gewährungsbescheid unveränderter Sachverhalt vorliegt, stellt sich die Frage, ob diese Änderung vor dem Hintergrund der ursprünglich fehlerhaften Zuerkennung von Rehabilitationsgeld eine Durchbrechung der (materiellen) Rechtskraft des Gewährungsbescheids rechtfertigen kann, ob also Rechtmäßigkeit ausnahmsweise vor Rechtssicherheit zu reihen ist, weil der Schutz des Vertrauens des Leistungsempfängers auf die Rechtsrichtigkeit des Gewährungsbescheids geringeres Gewicht hat als die Rechtsrichtigkeit der Gewährungsentscheidung und damit die Wahrung der Interessen der Versichertengemeinschaft. […]
5.3 […] die Rechtsprechung zu § 99 ASVG [hielt] gerade auch in Fällen einer irrtümlichen Zuerkennung der Leistung wie ausgeführt am Grundsatz „Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit“ fest. Wesentliches Argument dafür war und ist, dass derjenige, dem eine laufende Leistung zuerkannt wurde, darauf vertrauen können soll, dass ihm diese tatsächlich zusteht und er auch in Zukunft weiter damit rechnen kann. [...]
6.1 Auch in der Rechtsprechung wurde in bestimmten Fällen – und zu Sondernormen gegenüber § 99 ASVG – eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids bejaht, mit dem eine Leistung aufgrund einer Fehleinschätzung gewährt wurde: 430
6.2 Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse gemäß § 183 Abs 1 ASVG im Unfallversicherungsrecht nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 203, 210 Abs 1 ASVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 205 Abs 4 ASVG). Zum zweiten Tatbestand dieser Bestimmung hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass hier jeder Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit etwa um 5 % wesentliche Bedeutung zukommen kann […].
6.3 […] Auch im Anwendungsbereich des § 9 Abs 4 BPGG wurde der Grundsatz der Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids, der aufgrund einer Fehleinschätzung zu Unrecht eine Leistung gewährte, im Fall der Entziehung eines ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Pflegegeldes […] bejaht, weil sich der tatsächliche Pflegebedarf im Zeitpunkt der (ungerechtfertigten) Gewährung von 46 Stunden pro Monat auf 40,5 Stunden pro Monat in zwei Bereichen, die für die Zuerkennung des Pflegegelds maßgeblich waren, reduziert hatte […].
6.4 In beiden Fällen liegt kein schutzwürdiges Vertrauen des Leistungsempfängers vor allem auf die Weitergewährung der Leistung vor: Denn sie wurde ihm einerseits zu Unrecht zuerkannt. Andererseits hat sich in beiden Fällen der Sachverhalt im Zeitpunkt der Entziehung gegenüber demjenigen im Zeitpunkt der Gewährung geändert: […]. Mag diese Änderung auch nur geringfügig gewesen sein, so hätte dennoch eine vergleichbare Änderung zur Entziehung einer ursprünglich zu Recht zuerkannten Leistung führen können. Diesem Wertungswiderspruch kann nicht das Argument des Vertrauensschutzes auf die (materielle) Rechtskraft des Bescheids entgegengehalten werden.
7.1 Diese Grundsätze sind, wie dies bereits in der Entscheidung 10 ObS 65/18h SSV-NF 32/62 ausgesprochen wurde, auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgeldes anzuwenden, wenn – wie auch im vorliegenden Fall – der Entziehungsgrund des Wegfalls der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 lit b sublit aa ASVG geltend gemacht wird.
[…]
7.2.1 Anders als eine Pension verfolgt das Rehabilitationsgeld nicht den Zweck der Existenzsicherung nach der Beendigung des Erwerbslebens, sondern bezweckt, den krankheitsbedingten Einkommensausfall auszugleichen, und wird gerade deshalb gewährt, weil keine dauernde Arbeitsunfähigkeit besteht […].
7.2.2 Rehabilitationsgeld wird nur für die Dauer ‚vorübergehender Invalidität‘ gewährt (§ 255b ASVG), daher schon begrifflich nicht auf unbegrenzte Dauer. […]
7.2.3 Auf den zukünftigen Weiterbezug von Rehabilitationsgeld darf der Leistungsempfänger auch deshalb nicht schon aufgrund der einmal gewährten Zuerkennung vertrauen, weil das weitere Vorliegen der vorübergehenden Invalidität (Berufsunfähigkeit) vom Krankenversicherungsträger gemäß § 143a Abs 1 Satz 2 ASVG jeweils bei Bedarf, jedenfalls aber nach Ablauf eines Jahres nach der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes oder der letzten Begutachtung im Rahmen des Case Managements (§ 143b ASVG) zu überprüfen ist […].
7.3 Aus diesen Gründen mag das Vertrauen des Leistungsempfängers darauf, dass ihm Rehabilitationsgeld rechtmäßig zuerkannt wurde, schützenswert sein. Ein […] schützenswertes Vertrauen darauf, dass der Leistungsbezieher diese Leistung auch in Zukunft erwarten kann, besteht jedoch nur in geringerem Ausmaß. […]
7.4.1 Die (materielle) Rechtskraft des Bescheids über die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld steht im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gemäß § 255b ASVG bei der Gewährung dieser Leistung einer späteren Entziehung gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann entgegen, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist.
7.4.2 Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgeldes eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG begründet haben […], so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt. […]
Im gegenständlichen Verfahren hatte sich der OGH mit der Frage zu beschäftigen, unter welchen Voraussetzungen bei ursprünglich unrichtiger Gewährung von Rehabilitationsgeld eine Entziehung gerechtfertigt ist. Insb die Frage der materiellen Rechtskraft der Gewährungsentscheidung und der Vertrauensschutz spielen dabei eine Rolle.
Nach § 99 Abs 3 Z 2 lit aa ASVG ist das Rehabilitationsgeld ua dann zu entziehen, wenn vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt. Wurde eine Leistung bereits ursprünglich zu Unrecht zuerkannt, kann diese bei unveränderter Sachlage 431 nicht entzogen werden, da die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung einer Entziehung entgegensteht. Die Beweislast, ob eine rechtlich relevante Besserung eingetreten ist, trifft den Versicherungsträger.
Der OGH hält nun aber fest, dass bei ursprünglich unrichtigen Gewährungsentscheidungen auch eine geringfügige Änderung des Sachverhalts ausreicht, um eine Durchbrechung der materiellen Rechtskraft des Gewährungsbescheids zu begründen. Nur bei unverändertem Sachverhalt stehe die Rechtskraft einer Entziehung entgegen.
Der OGH verweist dabei auf die E vom 23.10.2018, 10 Ob S 65/18h, sowie auf seine jüngste Rsp zur UV und zum Pflegegeld, wonach bei ursprünglich unrichtigen Entscheidungen schon geringfügige Änderungen wesentliche Bedeutung haben und deshalb eine Entziehung gerechtfertigt ist. Relevant ist hierbei insb, dass eine solche Änderung auch zu einer Entziehung von ursprünglich zu Recht gewährten Leistungen führen könnte. Dieser Grundsatz ist auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgeldes anzuwenden.
Zusätzlich argumentiert der OGH damit, dass ein schützenswertes Vertrauen darauf, dass die Leistung auch in Zukunft erwartet werden kann, beim Rehabilitationsgeld nur in geringerem Ausmaß bestehe. Der OGH verweist auch darauf, dass das Rehabilitationsgeld nicht den Zweck der Existenzsicherung nach Beendigung des Erwerbslebens habe.
Es ist richtig, dass dies nicht der vom Gesetzgeber angedachte Zweck dieser Leistung war. De facto kehren aber ein Großteil der RehabilitationsgeldbezieherInnen nicht wieder ins Erwerbsleben zurück. Die aktuellen Statistiken im Bericht des Rechnungshofes, Invaliditätspension Neu, Reihe BUND 2020/31 zeigen, dass im Durchschnitt nur 8,3 % der RehabilitationsgeldbezieherInnen wieder erwerbstätig werden. In der Praxis stellt das Rehabilitationsgeld somit in über 90 % der Fälle sehr wohl eine Existenzsicherung nach Beendigung des Erwerbslebens dar. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Argumentation des OGH zumindest kritisch zu betrachten.