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Kein Anspruch auf österreichisches Kinderbetreuungsgeld trotz Wohnsitzes in Österreich, wenn beide Elternteile nicht in Österreich beschäftigt sind

KRISZTINAJUHASZ
VO (EG) 883/2004; § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG

Art 45 AEUV räumt einem Wander-AN nicht das Recht ein, sich in seinem Wohnsitzstaat auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaats nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt. Eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaats würde das durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eingerichtete Gleichgewicht zerstören, weil eine solche 441Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet.

SACHVERHALT

Der Kl, seine Gattin und ihre Kinder sind deutsche Staatsangehörige und haben ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in Österreich. Der Kl ist seit 1.4.2017 im Fürstentum Liechtenstein, seine Gattin war bis 31.3.2017 in Deutschland beschäftigt und danach nicht mehr erwerbstätig. Sie erhält die Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Mit Bescheid lehnte die (damalige) Vorarlberger Gebietskrankenkasse den Antrag des Kl auf Zuerkennung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 16.7. bis 15.10.2018 iHv € 66,- täglich ab und begründete ihre Entscheidung damit, dass beide Elternteile nicht in Österreich beschäftigt seien, sodass Österreich für die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld nicht zuständig sei. Zudem handle es sich bei der Beschäftigung des Kl in Liechtenstein nicht um eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit iSd § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG.

Das Erstgericht sprach das Kinderbetreuungsgeld wie beantragt zu. Das Berufungsgericht gab der von der Bekl erhobenen Berufung nicht Folge und ließ die Revision nicht zu.

Gegen dieses Urteil richtete sich die außerordentliche Revision der Bekl. Auch in ihrer außerordentlichen Revision hielt die Bekl daran fest, dass sich aus der E des EuGH vom 20.5.2008, C-352/06, Bosman, ergebe, dass in einem Fall wie dem vorliegenden, die nationalen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sein müssen. Dies sei hier nicht der Fall, weil der Kl keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe. Österreich sei als Wohnsitzstaat zur Gewährung von Familienleistungen nicht zuständig, aus der unionsrechtlich geforderten Tatbestandsgleichstellung könne diese fehlende Zuständigkeit nicht begründet werden.

Dem kam im Hinblick auf die zu einem vollkommen vergleichbaren Sachverhalt, aber erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen OGH-E vom 19.11.2019, 10 ObS 120/19y, Berechtigung zu. Die Revision war daher zulässig und berechtigt. Die Entscheidungen der Vorinstanzen wurden abgeändert und das Klagebegehren auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens wurde somit abgewiesen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„1. Die Verordnung (EG) Nr 883/2004 […] findet ebenso wie die Verordnung (EG) Nr 987/2009 […] im Wege des EWR-Abkommens seit 1.6.2012 auch auf das Fürstentum Liechtenstein Anwendung […]. Der persönliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist für den Kläger, einen Grenzgänger im Sinn des Art 1 lit f VO 883/2004 eröffnet (Art 2 Abs 1 VO 883/2004). Ihr sachlicher Anwendungsbereich ist gemäß Art 3 Abs 1 lit j VO 883/2004 eröffnet, weil es sich beim Kinderbetreuungsgeld um eine Familienleistung nach dieser Bestimmung handelt (RS0122905 [T4]).

2. Personen, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, unterliegen gemäß Art 11 Abs 1 VO 883/2004 den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Grundsätzlich ist gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 das Recht des Mitgliedstaats maßgebend, in dem eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Für den Kläger ist demnach das Recht des Fürstentums Liechtenstein als seines Beschäftigungsstaats anwendbar.

3. Familienleistungen werden nach den Art 67–69 VO 883/2004 koordiniert. Gemäß Art 67 VO 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats. Der Kläger hat danach grundsätzlich Anspruch auf Familienleistungen nach liechtensteinischem Recht für seinen in Österreich lebenden Sohn als Familienangehörigen (Art 1 lit i VO 883/2004). Liechtenstein gewährt nach den Verfahrensergebnissen auch Familienleistungen, allerdings keine dem Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens vergleichbare Leistung.

4.1 Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelangen die Prioritätsregeln des Art 68 VO 883/2004 zur Anwendung. Das ist auch hier der Fall, weil für den Sohn des Klägers Leistungen sowohl nach liechtensteinischem Recht (Kinderzulage) als auch nach österreichischem Recht (Ausgleichszahlung zur Familienbeihilfe) gewährt werden.

4.2 Ebenso wie in dem zu 10 ObS 120/19y zu beurteilenden Sachverhalt gelangt auch im vorliegenden Fall nur Art 68 Abs 1 lit a VO 883/2004 zur Anwendung, weil ein Anspruch des Klägers mangels Beschäftigung in Österreich nur aufgrund des Wohnortes des Kindes in Österreich denkbar ist. Auch die Gattin des Klägers war nicht in Österreich beschäftigt, sodass auch hier nur ein über den Wohnort ausgelöster Anspruch in Frage käme. Eine der Entscheidung des EuGH, C-32/18, Moser, vergleichbare Konstellation liegt auch im vorliegenden Fall nicht vor. Insbesondere kann auch im vorliegenden Fall der Kläger seinen Anspruch nicht aus einer Beschäftigung seiner Gattin in 442 Österreich ableiten, wie es in der Entscheidung des EuGH zu C-32/18, Moser, der Fall war.

5.1 Bei der Anwendung österreichischen Rechts ist der Anspruch des Klägers aus dem von der Beklagten angeführten Grund des Fehlens einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit in Österreich (§ 24 Abs 2 KBGG) vor der Geburt des Sohnes zu verneinen. Dazu kann auf die ausführliche Begründung der Entscheidung 10 ObS 120/19y verwiesen werden (dort Pkt 4.). Daraus ist zusammengefasst hervorzuheben:

5.2 Nach dem Standpunkt des Klägers müsste im Rahmen der Koordinierung nicht nur das rein mitgliedstaatliche (österreichische) Recht angewendet werden, sondern dieses darüber hinaus unionsrechtskonform ausgelegt werden, indem generell auch Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Liechtenstein) zurückgelegt wurden, für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG heranzuziehen wären. Damit würde allerdings der Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verlassen werden. Art 45 AEUV räumt einem Wanderarbeitnehmer nicht das Recht ein, sich in seinem Wohnsitzstaat (hier: Österreich) auf dieselbe soziale Absicherung zu berufen wie die, in deren Genuss er käme, wenn er in diesem Mitgliedstaat arbeitete, falls er tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet (hier: Liechtenstein) und gemäß den Bestimmungen dieses (leistungszuständigen) Mitgliedstaats nicht in den Genuss einer solchen Absicherung kommt (EuGHC-95/18, van den Berg, C-96/18, Giesen und Franzen, Rn 58). Eine aus einer Beschäftigung in einem anderen Staat abgeleitete Leistungsverpflichtung des Wohnsitzstaats würde das durch den AEUV eingerichtete Gleichgewicht zerstören, weil eine solche Pflicht dazu führen könnte, dass nur das Gesetz des Mitgliedstaats, der die vorteilhaftere soziale Sicherung bietet, angewandt wird. Es bestünde die Gefahr der Beeinträchtigung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit desjenigen Mitgliedstaats, der die vorteilhafteste soziale Sicherung bietet. […]“

ERLÄUTERUNG

Familienleistungen werden nach den Bestimmungen des Kapitels 8 des Titels III der VO (EG) 883/2004 koordiniert. Art 68 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 legt für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind, Prioritätsregeln fest, und zwar in lit a für den Fall, dass Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind, und in lit b für den Fall, dass Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren sind. Gem Art 60 Abs 1 der VO (EG) 987/2009 ist bei der Anwendung von Art 67 und 68 der VO (EG) 883/2004 „insbesondere, was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen“. Nach dem EuGH gilt diese Bestimmung unabhängig davon, ob die Leistungen nach dem vorrangig anzuwendenden Recht zu gewähren sind oder nach anderen Rechtsvorschriften geschuldet werden (EuGH 18.9.2019, C-32/18, Moser, Rz 44 ff).

Der OGH bezog sich bei seiner Begründung auf seine E vom 19.11.2019, 10 ObS 120/19y, und verwies dabei auf den vollkommen vergleichbaren Sachverhalt für den vorliegenden Fall. Für den hier zu beurteilenden Sachverhalt kommt Art 68 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 in Betracht. Da der Kl seinen Anspruch im Wohnsitzstaat geltend machte, der weder sein noch der Beschäftigungsstaat seiner Ehefrau war, lag hier – nach Ansicht der OGH – keine der EuGH-E Rs Moser vergleichbare Konstellation vor.

Der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens setzt nach § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG eine durchgehende, der österreichischen KV und PV unterliegende Erwerbstätigkeit des Elternteils in den letzten 182 Kalendertagen unmittelbar vor der Geburt des Kindes voraus. Diese Voraussetzung erfüllte der Kl nicht. Der OGH hat in der E vom 22.10.2015, 10 ObS 148/14h, zum einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld ausgesprochen, dass die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung lediglich auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen ist.

In der vorliegenden E (wie auch in OGH vom 19.11.2019, 10 ObS 120/19y) relativierte der OGH diesen Rechtssatz dahingehend, dass allein der Wohnsitz des Kindes und seiner Eltern in Österreich kein ausreichendes Kriterium für einen Anspruch auf einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld darstellt, wenn beide Elternteile in einem anderen von der Sozialrechtskoordinierung erfassten Staat beschäftigt sind. Er begründete dies damit, dass die EU-Mitgliedstaaten, die EWR-Vertragsstaaten und die Schweiz im Rahmen der Ausgestaltung ihrer Sozialversicherungssysteme nicht zu einer Harmonisierung verpflichtet sind (Art 48 AEUV). Zwar dürfen Versicherte nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil sie das Recht der Freizügigkeit in Anspruch genommen haben (EuGH 11.7.2002, C-224/98, D‘Hoop, uva), dennoch kann aufgrund der Unterschiede der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit der Mitgliedstaaten eine Verlagerung der Erwerbstätigkeit je nach Einzelfall Vorteile 443 oder Nachteile in Bezug auf den sozialen Schutz haben (EuGH 14.3.2019, C-134/18, Vester, Rz 32; OGH 19.11.2019, 10 ObS 120/19y).

Fazit: In Konstellationen wie im vorliegenden Fall könnte die Heranziehung von Beschäftigungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat (bzw Vertragsstaat) für die Erfüllung der von § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG gestellten Voraussetzungen zurückgelegt wurden, das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit – in dem Fall von Österreich – gefährden.