Das Primat der Tarifeinheit im Betrieb
Das Primat der Tarifeinheit im Betrieb
Die nachgelagerten Zusatz-Geschäftsbereiche eines Unternehmens – falls man „hauseigene“ Informationstechnologie (IT) oder Vertriebsorganisation überhaupt als „Zusatzbereiche“ bezeichnen kann – werden punkto Kollektivvertragsgeltung vom „Kerngeschäft“ überlagert und miterfasst. Die Rsp anerkennt diese Rechtsfolge insb in drei höchstgerichtlichen Entscheidungen. Aus den Normzwecken der §§ 8 bis 10 ArbVG erhellt sich das Prinzip der fachlichen Adäquanz (Prinzip der Betriebsnähe), wonach der „prägende“ Wirtschaftsbereich bestimmend sein soll. Dazu verfasste die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien ein Gutachten, dessen Inhalt Grundlage für diesen Beitrag ist.
Von den „Cashcows“ eines Unternehmens sollen hinsichtlich fairer Entlohnung und Arbeitsbedingungen also auch die Hilfsfunktionen, die Nicht–Kernbereiche, profitieren. Das wird aus der sozialen Schutzfunktion und der Friedensfunktion, insb aber aus der Kartellfunktion des korporativen Normenvertrags, erkennbar.
Vom BR wurde der AK Wien folgender Sachverhalt zur rechtlichen Begutachtung dargelegt: Die Firma * GmbH verfügt laut einer Unternehmensdatenbank über folgende Geschäftsbereiche:
Hauptbranche: Drahtlose Telekommunikation (OENACE [statistische Erfassungseinheit] 61.20-0), Nebenbranche: Einzelhandel mit Telekommunikationsgeräten (47.42-0), Nebenbranche: Leitungsgebundene Telekommunikation (61.10-0), Nebenbranche: Datenverarbeitung, Hosting und damit verbundene Tätigkeiten (63.11-0).
Der Datenbank zu entnehmen sind folgende Dienstleistungen bzw Produkte des Unternehmens: Access Provider, Content Provider, Festnetzanbieter, Handys, Housing/Hosting, Internet-Services, Mobilfunkbetreiber, Mobiltelefone, Telekommunikation.
Das Unternehmen beschäftigt derzeit ca 1.500 AN, davon ca 320 AN im Shop-Bereich, also im sogenannten Business2Customer-Kontakt.
Folgende Gewerbeberechtigungen lagen zum Prüfzeitpunkt vor:
Handelsgewerbe (mit Ausnahme der bewilligungspflichtigen gebundenen Handelsgewerbe) und Handelsagenten (§ 124 Z10 GewO 1994);
Adressenverlag und Direktwerbeunternehmen;
Kartenbüro;
Ausschank von nichtalkoholischen Getränken und Verkauf dieser Getränke in unverschlossenen Gefäßen mittels Automaten;
Inkassoinstitute;
öffentliche Internet-Kommunikationsdienste;
öffentliche Telefondienste an festen Standorten bzw für mobile Teilnehmer;
öffentliche Kommunikationsnetze;
Anzeige Kabelrundfunkveranstaltung Hörfunk;
Anzeige Kabelrundfunkveranstaltung Fernsehen;
Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik;
öffentliche Mietleitungsdienste;
sonstige Weiterverbreitung von Rundfunk sowie Rundfunkzusatzdienste;
Namhaftmachung von Personen, die an der Vermittlung von Versicherungsverträgen interessiert sind, an einen Versicherungsvermittler oder ein Versicherungsunternehmen, ohne ständig vom selben Auftraggeber betraut zu sein, unter Ausschluss jeder einem zur Versicherungsvermittlung berechtigten Gewerbetreibenden vorbehaltenen Tätigkeit.
Das Unternehmen unterstellte bis vor etwa zehn Jahren unstrittig sämtliche AN, auch jene im Vertrieb und in den Shops, dem KollV für AN in Telekom-Unternehmen (Telekom-KollV). Seit einer Übernahme eines mittlerweile integrierten (durch Verschmelzung aufgenommenen) Unternehmens im Jahr 2013 ist die Unternehmensleitung dazu übergegangen, bei den in Shops beschäftigten AN den Umstieg auf den KollV für Handelsangestellte zu betreiben. Praktisch alle betroffenen Shop-MitarbeiterInnen gingen in dieser Drucksituation auf das „Angebot“ des AG ein. Die seit etwa 2013 neu aufgenommenen AN der Shops wurden sogleich dem Handelsangestellten- KollV unterstellt und das wurde auch so in den Dienstzetteln/Dienstverträgen festgehalten. Derzeit wendet die Firma * GmbH als AG auf fast alle Vertriebs- und Shop-AN (bis auf einige wenige, die sich weigerten, „umzusteigen“) den KollV Handelsangestellte an.
Das Unternehmen umfasst bloß einen Betrieb iSd § 34 ArbVG, demgemäß besteht unternehmensweit eine Betriebsratskörperschaft für den Betrieb und das Unternehmen zugleich. Ein Zentralbetriebsrat kann nicht gewählt werden (vgl § 80 ArbVG), dieser wäre aufgrund der unternehmensweiten einheitlichen Arbeitsorganisation innerhalb eines einzigen Betriebs auch nicht erforderlich.
Die betriebsorganisatorische Gliederung und Arbeitsorganisation des Unternehmens stellt sich 456 folgendermaßen dar: Es leiten in der ersten Managementebene vier GmbH-GeschäftsführerInnen die Unternehmensbereiche, nämlich ein CEO (Chief Executive Officer), eine CFO (Chief Financial Officer), ein CCO (Chief Customer Officer) und ein CTO (Chief Technology Officer). Da im gegenständlichen Gutachten nur die Frage des anzuwendenden KollV für Vertriebs- und Shop-MitarbeiterInnen zu begutachten sein wird, ist im Folgenden lediglich die Betriebsorganisation unter der Leitung des CCO näher aufzuschlüsseln.
Der CCO leitet einen Unternehmensbereich („Customer Relations“; grob gesprochen: Kundenbeziehungen, Vertrieb und Marketing), der sich in drei Bereiche gliedert, nämlich die Business Unit (BU) Consumer, die BU Business und „Brands & Communication“. Die BU Consumer ist der größte Bereich; dieser gliedert sich in neun Bereiche, wie etwa „Strategy & Marketing Consumer“ oder „Own Branded Retail“. Nur im Sub-Bereich „Own Branded Retail“, der in fünf Regionen aufgeteilt ist, wird auf die ca 320 beschäftigten AN der KollV Handelsangestellte angewendet. In anderen Retail- und Sales-Bereichen (dh Vertrieb, grob gesprochen), etwa im BU „3rd Party Retail“ oder in den (regional differenzierten) BU Business Sales, wird der Telekom-KollV angewendet.
In den Shops des gegenständlichen Unternehmens und (gleichzeitig) Betriebs werden zu mehr als 90 % Produkte dieses Unternehmens bzw des (globalen) Konzerns vertrieben, wie man bereits aus dessen Internetauftritt erkennen kann. Weniger als 5 %, gemessen am Umsatz, sind „Fremdprodukte“, etwa Giveaways oder kleine technische Zusatzgeräte zu Mobiltelefonen oder ähnliche geringfügige Hardware. Fast immer erfolgt der Verkauf in Verbindung mit einem Vertrag des Kunden mit dem gegenständlichen Telekommunikationsanbieter (vor allem Internet, Mobiltelefonie, Festnetztelefonie).
Aufgrund der oben aufgelisteten 14 Gewerbeberechtigungen und (teilweise nicht ausgeübten) Geschäftsbereiche ist das Unternehmen derzeit in acht Fachgruppen der Wirtschaftskammer (WK) Wien vertreten. Sieben Mal erfolgt die von der WK vorgenommene Einordnung in die Fachgruppe „Fachvertretung Wien der Telekommunikations- und Rundfunkunternehmen“, die in den Fachverband der Telekommunikations- und Rundfunkunternehmen der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) eingegliedert ist. Zwei Mal ist das Unternehmen in die Fachgruppe „Landesgremium Wien des Elektro- und Einrichtungsfachhandels“ (Teil der „Sparte Handel“, die auf AG-Seite den Handelsangestellten-KollV abschließt) eingereiht. Je einmal ist das Unternehmen Mitglied der Fachgruppen Gastronomie, Werbung/Marktkommunikation, Immobilien- und Vermögenstreuhänder, Kino- und Vergnügungsbetriebe, Unternehmensberatung und IT, Versicherungsagenten eingeordnet.
Welcher KollV ist bzw welche Kollektivverträge sind auf die AN des vorliegenden AG „* GmbH“ anzuwenden?
Für die Geltung eines oder mehrerer Kollektivverträge in den in Österreich gelegenen Betrieben und Arbeitsstätten eines Unternehmens sind die §§ 8 bis 10 ArbVG maßgeblich. § 8 ArbVG regelt den Grundsatz: Die Mitgliedschaft bei den am Kollektivvertragsabschluss beteiligten Parteien auf AG- und AN-Seite bestimmt den anzuwendenden KollV. Jene AN, die nicht Mitglieder der Kollektivvertragspartei ÖGB/Teilgewerkschaft sind, werden gem § 12 ArbVG (Außenseiterwirkung) dennoch vom KollV erfasst. Jene AG, die nicht Mitglied des AG-Verbands sind, können mittels Erklärung des KollV zur Satzung erfasst werden, was hier aber nicht erforderlich ist, da der AG Pflichtmitglied der WKO (bzw WK Wien) ist. Innerhalb der WKO bzw WK Wien sind nun die Fachorganisationen (gem § 47 WKG Fachverbände auf Bundesebene/WKO; auf Ebene der Bundesländer: Fachgruppen gem § 43 WKG) für die Bestimmung des KollV oder der Kollektivverträge von Relevanz. Grundsätzlich soll für einen AG ein KollV gelten, das wird als Grundsatz der Tarifeinheit bezeichnet.*
Auch die Gesetzesmaterialien zu § 9 ArbVG, insb die Erläuterungen der Regierungsvorlage vom 23.6.1973,* stärken zuerst einmal dieses vor allem in Deutschland damals schon heftig diskutierte Prinzip: „Unbestritten dürfte sein, dass auch in Österreich der Grundsatz der Tarifeinheit Anerkennung zu finden hat (vgl. OGH 1965 […]). Dieser besagt nicht nur, dass auf ein und dasselbe Arbeitsverhältnis nur ein Kollektivvertrag angewendet werden soll, sondern auch, dass für jeden Betrieb im allgemeinen nur ein Kollektivvertrag in Betracht kommt.“
Dann aber problematisieren die Erläuterungen die „Verwirklichung“
(Umsetzung, Anwendung) der Tarifeinheit in mehrfach kollektivvertragsangehörigen Unternehmen und Betrieben mit den Worten „Im übrigen muss gerade im Falle der
457Bejahung des Grundsatzes der Tarifeinheit klargestellt werden, welchem Kollektivvertrag der Vorrang einzuräumen ist. […] Die Vorschrift des § 9 Abs 1 [und Abs 2 …] bedeutet eine erhebliche Durchbrechung des Grundsatzes der Tarifeinheit und damit eine erhebliche Eingrenzung der echten Kollisionsfälle auf die sogenannten ‚Mischbetriebe‘ […]“
.
Zwischenergebnis daher: Die Gesetzesmaterialien lassen beide Möglichkeiten zu, sie erläutern hier ja nur die (ein halbes Jahr später im Parlament wortident beschlossenen) verba legalia der §§ 9 und 10 ArbVG. Bemerkenswert ist dennoch, dass auf einer Halbseite der Gesetzeserläuterungen die Worte „(Grundsatz der) Tarifeinheit“
gleich fünf Mal gebraucht werden, der Begriff „Tarifvielfalt“ aber nie.*
Weiteres Zwischenergebnis: Die fachliche Separation ist in den § 9-Anwendungsfällen von deutlich höherer Bedeutung als die organisatorische. Und das mit gutem (sozialpolitisch-ausgleichendem) Grund, kann doch der Betriebsinhaber eine Organisationsänderung (Abgrenzung, Trennung, Neuordnung) kraft seines Eigentumsund Erwerbsfreiheitsrechts viel leichter einseitig gestalten als eine sachlich zu begründende „fachliche Änderung“; die Belegschaftsvertretung könnte hier im Wesentlichen nur mit Alternativvorschlägen oder Sozialplanverlangen nach den §§ 108 ff ArbVG hinterher„hinken“.
Speziell in einer E hat der OGH seine Beurteilungsmaßstäbe zu § 9 ArbVG näher erläutert:
„Für die Anwendung und Auslegung des § 9 ArbVG sind drei Prinzipien wesentlich, und zwar das soziale Schutzprinzip, das Prinzip der Tarifeinheit und das Prinzip der fachlichen Adäquanz (auch Spezialitätsprinzip oder Prinzip der Betriebsnähe genannt). Das soziale Schutzprinzip beherrscht die Bestimmungen des ArbVG im Bereich der kollektiven Rechtsgestaltung. Es soll […] kollektivvertragsfreie Räume vermeiden und für die Arbeitnehmer einen möglichst intensiven Schutz schaffen. Das Prinzip der Tarifeinheit kommt im Hinblick auf die organisatorische Einheit des Arbeitgebers in § 9 Abs 1 und 2 ArbVG bzw im Hinblick auf den einzelnen AN in § 10 ArbVG zum Ausdruck. Nach den Regelungen des § 9 ArbVG sollen für alle AN, die in einer Organisationseinheit – also einem Betrieb (Abs 1) oder einer Betriebsabteilung (Abs 2) – tätig sind, einheitliche Arbeitsbedingungen gelten. Hintergrund dafür ist vor allem auch die Wahrung des betrieblichen Friedens. Das Prinzip der fachlichen Adäquanz schließlich ist in Abs 3 erkennbar, worin jener KollV für anwendbar erklärt wird, der für den fachlichen Wirtschaftsbereich gilt, der für den Betrieb die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat.“*
Wenn jedoch ein AG in fachlich verschiedenen Bereichen unternehmerisch tätig und daher auch mehrfach kammerzugehörig (in verschiedenen Fachorganisationen der WKO bzw der WK eines Bundeslandes) ist, dann ist § 9 zu beachten, falls zumindest zwei der betreffenden Fachorganisationen einen KollV abgeschlossen haben.* § 9 ArbVG trifft also Kollisionsregeln für den Fall der mehrfachen Kollektivvertragsangehörigkeit, weshalb es „in manchen Fällen“ dazu kommen kann, dass statt des Prinzips der Tarifeinheit eine gewisse Tarifvielfalt im Unternehmen Geltung erlangt.*
Die beiden Anwendungsfälle für die Kollisionsregeln der Abs 1 bis 4 des § 9 ArbVG sind nach dem rechtswissenschaftlichen Meinungsstand* einerseits das Vorliegen getrennter Tätigkeitsfelder (fachlich-gewerbliche und organisatorische Trennung, geregelt in den Abs 1-2) oder die Gegebenheit eines „Mischbetriebs“ (Abs 3-4).
Sollte ein Mischbetrieb vorliegen, dann findet von den mehreren Wirtschaftskammer-Kollektivverträgen jener Anwendung auf alle AN dieses Betriebs, „der für den Betrieb die maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung hat“
(§ 9 Abs 3 ArbVG), womit das Primat der Tarifeinheit wieder hergestellt wäre. Wenn aber innerhalb eines Betriebs – und ein solcher liegt hier unstrittig vor, es besteht ein einziger BR für die Gesamtbelegschaft – gewisse Haupt- und Nebenbetriebe vorliegen oder organisatorisch und fachlich abgegrenzte Betriebsabteilungen, dann können die jeweils in fachlicher und örtlicher Beziehung entsprechenden Kollektivverträge zur Anwendung gelangen (§ 9 Abs 1 und Abs 2 ArbVG).
Der österreichische Gesetzgeber verlangt somit für die Tarifvielfalt als „Ausnahme“ alternativ
eine klare Trennung in Hauptbetriebe/Nebenbetriebe,* was im vorliegenden Fall auszuschließen ist, denn es gibt ja nur einen BR; 458
eine organisatorische (vor allem anhand der Leitungsstrukturen und Finanz- sowie Budgetverantwortung festzustellende) und gleichzeitig fachliche (etwas vom Haupt-Geschäftsfeld Getrenntes, dh etwas sachlich Differentes wird bearbeitet) Strukturtrennung in „abgegrenzte Abteilungen“.
Nähere Ausführungen zu diesen gesetzlichen Voraussetzungen für eine allfällige Tarifvielfalt finden sich bei Reissner, aaO Rz 8 ff und Pfeil, aaO § 9 ArbVG Rz 12 ff. Dort werden vor allem die Entscheidungen des OGH vom 2.9.1998 (9 ObA 234/98x) und vom 29.8.2002 (8 ObA 192/01w) sowie eine E des VwGH vom 12.5.1992 (92/08/0002) als einschlägig für einen Sachverhalt wie den hier vorliegenden beurteilt. Während die OGH-E aus 1998 vor allem die organisatorische Trennung zum Gegenstand hatte, ist jene aus 2002 besonders relevant, weil sie die „fachliche Abgrenzung der Betriebsabteilungen“ behandelte (und im Ergebnis verneinte). Aus der OGH-E 8 ObA 192/01w soll hier ein entscheidender Leitsatz zitiert werden:
„Produktion und Vertrieb bilden auch dann, wenn sie in organisatorisch voneinander getrennten Betrieben oder Betriebsabteilungen durchgeführt werden, eine fachliche Einheit im Sinn des § 9 ArbVG (Vorjudikatur: ArbSlg 9597). Nach den derzeit vorliegenden Feststellungen kann wohl nicht fraglich sein, dass dem Kaffeerösten [Haupt-Geschäftsfeld der Bekl; Anm] die für den Betrieb maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung zukam.“
In der erstgenannten OGH-E 9 ObA 234/98x wurde betont: „Die Frage, ob organisatorisch und fachlich abgegrenzte Betriebsabteilungen vorhanden sind (§ 9 Abs 2 ArbVG) – die Konsequenzen des § 9 Abs 3 und 4 ArbVG lassen wohl keinen Zweifel daran offen, daß hiemit nur konkrete und nicht theoretisch mögliche Verhältnisse gemeint sind –, läßt sich nur im Einzelfall beantworten, weil verschiedene, in einzelnen Betriebsabteilungen verrichtete Tätigkeiten jeweils quantitativ und qualitativ unterschiedlicher Organisationsformen bedürfen können.“
Mit E vom 29.6.2005* hielt der VwGH fest: „Ob die den Grundsatz der Tarifeinheit durchbrechende Voraussetzung einer fachlich und organisatorisch abgegrenzten Betriebsabteilung vorliegt, ist sohin eine Frage der rechtlichen Beurteilung der im Einzelfall getroffenen Feststellungen. […] Für die Beantwortung der Frage, ob eine organisatorische Selbständigkeit vorliegt, ist […] die Verkehrsauffassung entscheidend.“
Diese Judikatur wird auch im wissenschaftlichen Schrifttum, soweit überblickbar, einhellig geteilt. Sowohl Reissner als auch Pfeil (an den angeführten Stellen) und Strasser (in Jabornegg/Resch §§ 9, 10 Rz 6) vertreten zum hier relevanten Kriterium der „fachlichen Abgrenzung in Betriebsabteilungen“, dass der hauptsächliche und zentrale Geschäftsbereich des Unternehmens so lange für die Kollektivvertragsanwendung bestimmend bleibt, so lange der Vertrieb oder ein anderer Neben-Geschäftsbereich (zB Werbung) keine Selbstständigkeit dadurch erwirbt, dass dort wie bei einem „unabhängigen“ Händler oder Werber auch Produkte bzw Dienstleistungen anderer MarktteilnehmerInnen vertrieben/beworben werden (also eine im Einzelhandel übliche breite Warenpalette ein diverses Sortiment, eine für eine Werbeagentur typische Vielzahl an Kunden hat etc).
Solange aber ein „Neben-Geschäftsbereich“ dem Betrieb (§ 34 ArbVG) kein fachlich/sachlich differentes Zusatz-Gepräge verleiht, sondern hauptsächlich die Weiterbearbeitung der Produkte bzw Dienstleistungen des Hauptgeschäftsbereichs zum Gegenstand hat, soll auch nur ein KollV im Unternehmen gelten, nämlich jener, welcher der „maßgeblichen wirtschaftlichen Bedeutung“ entspricht (§ 9 Abs 3 ArbVG). Die maßgebliche Bedeutung ist in Form einer Gesamtbetrachtung anhand wirtschaftlicher Kennzahlen, insb Umsätze, Betriebsergebnisse und je Business-Unit (BU) eingesetztes Personal zu bestimmen.* Nach dem der AK Wien vorliegenden Sachverhalt bestimmen vor allem die für den Telekom-KollV maßgeblichen Geschäftsbereiche „Mobiltelefonie (Dienstleistungen, Infrastruktur)“, „Internet (Dienstleistungen, Infrastruktur)“ und „Festnetztelefonie (Dienstleistungen, Infrastruktur)“ die „maßgebliche wirtschaftliche Bedeutung“ des Betriebs und des Unternehmens.
Weil „organisatorische“ und „fachliche“ Abgrenzung von § 9 Abs 2 ArbVG kumulativ verlangt werden, ist auf das erstgenannte Kriterium nur am Rande einzugehen, weil es ja, wie im Sachverhalt dargelegt, bereits am zweitgenannten Kriterium mangelt. Zum Erfordernis einer organisatorischen Abgegrenztheit ist anhand des oben stehenden Sachverhalts nur Folgendes anzumerken: Hier wären nach herrschender Lehre und Rsp zum Betriebsbegriff* vor allem die 459 Kriterien „Leitungsstrukturen“ und „finanzielle Autonomie (Budgetautonomie)“ heranzuziehen, um feststellen zu können, dass neben der erforderlichen sachlichen Andersartigkeit des fraglichen Betriebsteils auch eine arbeitsorganisatorische Autonomie vorliegt. Da der CCO einen Bereich leitet, in dem „Sales-MitarbeiterInnen“ dem für das Unternehmen maßgeblichen Telekom-KollV unterstellt sind („3rd Party Retail“ oder „Business Sales“), wäre es für den AG (das Unternehmen) vor Gericht wohl schwierig zu argumentieren, warum sich im Geschäftsbereich des CCO eine BU befindet, die punkto Leitungsstruktur und Finanzautonomie so different und von den übrigen Einheiten des CCO-Gesamtbereichs organisatorisch abgegrenzt ist, dass ein separater KollV angewendet werden kann.
Was heißt nun in diesem Zusammenhang „fachlich abgegrenzt“? Das „Fach“ ist hier die „Sache“ des Unternehmensgegenstands, die tatsächlich „am relevanten Markt“ ausgeübten Geschäftsfelder samt Personal iSd Gewerberechts und sonstiger unternehmens- und wirtschaftsrechtlicher (gewerberechtlich iwS) Ausübungsvorschriften bzw Zulassungsregeln.
Beachtlich werden sein:
Gewerbeberechtigungen, deren faktische Ausübungen einschließlich Nebenrechte-Ausübungen;
Drittvergleich (nimmt ein Außenstehender den Betrieb mit seinen unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern als „Gepräge gebenden“ Kerngeschäftsbereich mit Nebenbereichen wahr oder nimmt er hier unterschiedliche Geschäftsbereiche wahr);
Sicht aus Kunden- und Lieferanteperspektive;
Sicht aus Sozialpartnerperspektive (denn diese wollen interessenausgleichende und „kartellierende“ Regelungen etabliert wissen).
Im vorliegenden Fall ist daher § 9 ArbVG, wie von der Rsp betont, anhand der Verkehrsauffassung anzuwenden und zu beachten: Es soll grundsätzlich ein einziger KollV in einem Unternehmen gelten (Grundsatz der Tarifeinheit). Die in der Dienstleistungserbringung-Vermarktungs- Kette nachgelagerten Zusatz-Geschäftsbereiche des Unternehmens – falls man den „hauseigenen“ Vertrieb im betriebswirtschaftlichen Sinn überhaupt als solchen bezeichnen kann – werden punkto Kollektivvertragsgeltung vom „Kerngeschäft“ überlagert und miterfasst. Das entspricht den oben dargestellten Normzwecken der §§ 8 bis 10 ArbVG, insb des § 9.
Wie oben unter 1. festgehalten (Sachverhalt), verleiht dem vorliegenden Mobiltelefonieunternehmen die „drahtlose und Festnetz-Telekommunikation“ das wirtschaftlich-unternehmerische Gepräge. Mangels fachlicher Abgegrenztheit ist nicht Abs 2, sondern Abs 3 des § 9 ArbVG anzuwenden. Sämtliche AN des Unternehmens und Betriebs fallen somit in den Geltungsbereich des KollV für die AN in Telekom-Unternehmen (abgeschlossen zwischen dem Fachverband der Telekommunikations- und Rundfunkunternehmungen einerseits und dem ÖGB, Gewerkschaft der Privatangestellten sowie der Gewerkschaft der Post- und Fernmeldebediensteten andererseits).
Weil die ca 320 Shop-MitarbeiterInnen nicht bei einem nach der Verkehrsauffassung zu identifizierenden Einzelhändler arbeiten, der Waren unterschiedlicher Dienstleister verkauft, sondern zu mindestens 95 % die Dienstleistungen (oft in Verbindung mit Waren) des Telekommunikationsunternehmens vertreiben, müssen sie gem § 9 Abs 3 ArbVG auch unter dem für den Haupt-Geschäftsbereich bestimmenden (diesem entsprechenden) KollV eingereiht werden. Für dieses Ergebnis spricht zusätzlich zu den oben ausgeführten Argumenten die Tatsache, dass der Telekom-KollV in seinem § 1 (Abs 1 lit b) Z 5) auch Ausgliederungen von Telekom-Unternehmen erfasst. Würde nun die Inhouse-Erbringung des Geschäftsbereichs „Vertrieb“, anders als bei Ausgliederung oder Outsourcing (Outhouse-Erbringung), unter einem für das Unternehmen günstigeren und für die betroffenen AN ungünstigeren KollV erfolgen können, dann könnte das (gerichtlich) als Umgehung des § 1 Telekom-KollV beurteilt werden.
Die Gehaltstabelle und alle anderen Bestimmungen des KollV für AN in Telekom-Unternehmen sind somit auf die ca 320 AN der Shops ex lege und zwingend anzuwenden. Die im Jahr 2013 von zahlreichen AN (teilweise unter Druck) getroffenen „Umstiegsvereinbarungen“ auf den für sie ungünstigeren Handelsangestellten-KollV waren und sind als rechtsunwirksam und somit nichtig zu beurteilen.* Dem entsprechend sind auch rückwirkend die gesetzlich angeordneten Entlohnungsgrundlagen zu beachten, die Bezüge sind lohnverrechnungstechnisch „aufzurollen“ und nachzubezahlen. Etwaige Verfalls- und Verjährungsbestimmungen wären zu beachten. 460