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Gerechtfertigte Zurückbehaltung der Arbeitsleistung wegen nicht bloß geringfügigen Entgeltrückstands

MANFREDTINHOF

Der Kl war seit 1988 als Pilot bei einer Fluggesellschaft beschäftigt, welche 1994 ihre Tätigkeit einstellte. Im Jahr 2007 sprach der OGH aus, dass der Betrieb im Jahr 1994 auf die Rechtsvorgängerin der Bekl iSd § 3 AVRAG übergegangen ist. Aufgrund dieses Urteils forderte die Rechtsvorgängerin der Bekl den Kl zum Dienstantritt auf. Dieser kam der Aufforderung unter Hinweis auf ausständige Gehaltsansprüche nicht nach und wurde daraufhin entlassen. Der Kl übte zu diesem Zeitpunkt schon seit längerer Zeit eine Nebentätigkeit aus. Abgesehen von einer Einmalzahlung im Jahr 1998, welche zur Abgeltung der fehlerhaften Einstufung für die Vergangenheit geleistet wurde, erhielt der Kl in den 13 Jahren von 1994 bis 2007 kein Entgelt seitens des AG. Mit vorliegender Klage begehrte der Kl Entgeltdifferenzen seit dem Betriebsübergang und entlassungsabhängige (Beendigungs-)Ansprüche.

Das Erstgericht verpflichtete die Bekl zur Zahlung eines Teiles des geforderten Betrages inklusive der entlassungsabhängigen Ansprüche und stellte einen im Laufe der Jahre – unter Anrechnung von anderweitig ins Verdienen Gebrachtem – angefallenen ausständigen Gehaltsanspruch des Kl in Höhe von insgesamt € 28.938,23 fest. Das Berufungsgericht 406 bestätigte diese E. Der OGH wies die außerordentliche Revisionen der Streitteile zurück. Die Zusammenfassung der vorliegenden E beschränkt sich in der Folge auf die Ausführungen des OGH im Hinblick auf das Zurückbehaltungsrecht der Arbeitsleistung wegen Entgeltrückständen:

Ein AG ist berechtigt, seine Arbeitsleistung so lange zurückzuhalten, bis der AG einen bereits fällig gewordenen Lohnrückstand gezahlt hat. Nach § 1155 Abs 1 ABGB gebührt dem AN nämlich auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, das Entgelt, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des AG liegen, daran verhindert worden ist. Er muss sich jedoch anrechnen lassen, was er infolge Unterbleibens der Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat. Die Formulierung „zur Leistung bereit war“ in § 1155 Abs 1 ABGB stellt offensichtlich nur auf die grundsätzliche Leistungsbereitschaft des AN ab, wenn und solange der AG seine Lohnzahlungspflicht erfüllt. In diesem Sinn ist daher § 1155 ABGB teleologisch einschränkend auszulegen.

Diese Grundsätze werden von der Bekl auch nicht bezweifelt. Sie argumentiert jedoch, dass die Lohnrückstände nur geringfügig gewesen seien, weshalb der Kl nicht berechtigt gewesen sei, seine Arbeitsleistung zurückzuhalten. Dabei übergeht sie jedoch, dass sie offenbar von 1994 bis 2007 dem Kl, abgesehen von einer Einmalzahlung, überhaupt kein Entgelt bezahlt hat, also nicht nur geringfügige Beträge zurückgehalten hat. Dass daraus für manche Monate nur geringfügige Ansprüche resultieren, liegt ausschließlich daran, dass der Kl sich um einen anderweitigen Verdienst bemüht hat. Dementsprechend errechnen sich für unterschiedliche Perioden, gemessen am zustehenden Monatsentgelt, auch unterschiedliche Differenzbeträge. Eine Durchschnittsbetrachtung, wie sie offenkundig der Bekl vorschwebt, nach der Rückstände aus einzelnen Monaten auf längere Perioden umgelegt und damit „geringfügig“ werden, ist jedenfalls nicht vorzunehmen.

Die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass der festgestellte Gesamtanspruch des Kl von € 28.938,23 brutto weder bei einer Brutto- noch einer Nettobetrachtung noch periodenbezogen als geringfügig zu betrachten ist, hält sich im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraums. Die Frage, ob bei bloß geringfügigen Entgeltrückständen ein Zurückbehaltungsrecht des AN besteht, stellt sich daher im vorliegenden Fall nicht.

Allein, dass ein offener Anspruch strittig ist, kann nicht dazu führen, dass dem AN kein Zurückbehaltungsrecht zusteht, hätte es doch der AG sonst in der Hand, durch ein Bestreiten der Forderung den AN zu einer weiteren Vorleistung zu zwingen.

Inwieweit das Berufen des AN auf das Zurückbehaltungsrecht bei strittigen Forderungen missbräuchlich erfolgt, ist jeweils von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Dass im konkreten Fall die Verweigerung des Arbeitsantritts in Schädigungsabsicht erfolgte, wurde nicht festgestellt. Dem Kl kann auch nicht vorgeworfen werden, nach einem dreizehnjährigen Rechtsstreit, während dessen er genötigt war, eine Beschäftigung bei einem anderen DG anzunehmen, diese Tätigkeit ohne eine Einigung über seine finanziellen Ansprüche nicht sofort beendet zu haben.

Bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände liegt in der Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass der Kl zur Zurückbehaltung seiner Arbeitsleistung berechtigt war, jedenfalls keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung.