EDITORIAL

DIE SCHRIFTLEITUNG

In den ersten Jahren der Ersten Republik gab es eine höchst produktive und erfolgreiche Sozialpolitik. Es sind viele bahnbrechende Gesetze beschlossen worden, die zT heute noch bestehen. 100 Jahre später haben wir daher viele Jubiläen zu feiern. Neben dem Betriebsrätegesetz 1919 und dem Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge, die das kollektive Arbeitsrecht mehr oder weniger begründet haben, kann man im Individualarbeitsrecht trotz der großen Bedeutung des Achtstundentagsgesetzes und des Arbeiterurlaubsgesetzes das Angestelltengesetz (AngG) als den „großen Wurf“ ansehen. Bedenkt man, wie sich die Zeiten, insb auch die Arbeitswelt, geändert haben, ist es schon beeindruckend, dass ein erheblicher Teil dieses Gesetzes noch in Kraft ist und keineswegs überholt oder unmodern wirkt. Sprachlich und legistisch scheint es ohnehin so zu sein, dass man bei Betrachtung neuerer Gesetze nicht unbedingt einen Fortschritt erkennen kann.

Bei der Konzeption dieses Schwerpunkthefts ist es uns einerseits darum gegangen, die Entstehung und die Entwicklung des Angestelltengesetzes nachzuzeichnen (insb im Beitrag von Lichtenberger zur Geschichte, aber auch in den Beiträgen zum geltenden Recht). Besonders interessant dabei ist, dass die Entwicklung eines eigenen Angestelltenrechts schon damals durchaus umstritten war. Trotz aller Bedenken hat man schließlich auch auf Gewerkschaftsseite akzeptiert, dass dem AngG die Rolle des Vorreiters im Arbeitsrecht zukommen kann. Tatsächlich sind im Laufe der Geschichte meist die Bestimmungen über die Arbeiter an das Angestelltenrecht herangeführt worden. Nach Anpassung der Kündigungsfristen fragt man sich aus juristischer Sicht, ob unterschiedliche gesetzliche Vorschriften überhaupt noch erforderlich sind. Die komplizierte Abgrenzung im persönlichen Geltungsbereich scheint nicht nur überflüssig, sondern auch überholt, wenn man bedenkt, dass viele Arbeitertätigkeiten mittlerweile mit hoher Qualifikation verbunden sind und in der Praxis immer mehr gemischte – nicht mehr eindeutig zuordenbare – Tätigkeiten auftreten.

Unabhängig davon wollten wir einige wichtige Themenfelder herausgreifen und damit beispielhaft die Aktualität bzw einen möglichen Novellierungsbedarf des AngG überprüfen. So zeigt Jabornegg auf, dass die Regelung der leistungs- und erfolgsorientierten Entgelte nicht nur unvollständig ist, sondern auch zT hinter dem Schutzniveau des HandelsvertreterG zurückbleibt. Seine Verbesserungsvorschläge sind sehr bedenkenswert.

Der Beitrag von Schindler behandelt die 2017 erfolgte Rechtsangleichung zwischen Arbeitern und Angestellten im Entgeltfortzahlungsrecht einschließlich der Entwicklung bis 2017. Dabei ist ausnahmsweise in Richtung Arbeiterrecht angeglichen worden. Schindler erläutert nicht nur die neue Rechtslage und spricht dabei die durch die Novelle entstandenen Rechtsprobleme an, sondern wirft auch einen Blick auf die vorangegangenen Sozialpartnerverhandlungen. Trotz einiger legistischer Unstimmigkeiten zieht er ein positives Fazit. Schließlich beschreibt Naderhirn Entwicklungstendenzen in ausgewählten Bereichen des Beendigungsrechts. Auch hier wird ein Bogen gespannt von der Entstehung des AngG einschließlich Vorgängerregelungen bis heute. Besonders bemerkenswert sind die Hinweise darauf, dass man in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, die nicht nur von großer Not, sondern auch von einer Pandemie (Spanische Grippe) geprägt war, auf Kündigungsbeschränkungen insb zum Schutz der Kriegsheimkehrer gesetzt hat. Letztlich beurteilt Naderhirn das Beendigungsrecht des AngG durchaus positiv mit partiellem Modernisierungsbedarf und würde ein Einfließen in eine einheitliche Arbeitsrechtskodifikation befürworten. 95