„Ein neuer Meilenstein auf dem Wege“ – 100 Jahre Angestelltengesetz in Österreich (1921-2021)

 SABINELICHTENBERGER (WIEN)

Am 1.7.1921 trat das österreichische Angestelltengesetz in Kraft. Seitdem sind fast 100 Jahre vergangen, in denen dieses Gesetz nur geringfügige Veränderungen erfahren hat. Ein Umstand, der – wie es im Kommentar des Angestelltengesetzes heißt – „nicht nur für den sozialpolitischen Rang, sondern auch für seine Qualität“* spricht. Anlässlich dieses Jubiläums soll ein Blick auf die Entwicklung dieses Sondergesetzes für die Angestellten geworfen werden.

1.
Die Keimzelle des Angestelltenbewusstseins

„Privatbeamte“, also höfische und landesfürstliche Kanzlisten, Diener und Amtsleute gab es bereits seit dem Spätmittelalter, das Berufsbeamtentum als solches entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts. Daneben entwickelte sich eine Reihe anderer „nichtpro- 156 letarischer Berufsgruppen“, womit höheres Verwaltungspersonal in Großbetrieben, „Handlungsdiener“, Bank- und Versicherungsbeamte und Bedienstete des Hofes und von Adelshäusern gemeint war. In Anlehnung an die öffentlichen Beamten, also die Beamten des Staates, der Länder und Gemeinden und deren Status nahmen sie den Begriff „Beamte“ oder „Privatbeamte“ für sich in Anspruch, um damit nicht zuletzt auch begrifflich den Unterschied zwischen Angestellten und ArbeiterInnen zu betonen.* Ein Unterschied, der sich in der Realität nicht so deutlich darstellte. Weder für ArbeiterInnen noch für Angestellte gab es Beschränkungen der Arbeitszeit, Ansprüche auf Überstundenentlohnung, klare gesetzliche Kündigungsfristen, gesetzliche Urlaubsansprüche, Ansprüche auf Weiterbezahlung des Gehalts während einer Krankheit, ein allgemeiner gesetzlicher KollV oder eine Versicherung für Invalidität und Alter. Besonders trist war die soziale Situation der „Handlungsgehilfen“, die um 1895 ein Durchschnittsalter von nur 37 Jahren erreichten. Rund 60 % der sterbenden Gehilfen erlagen den Folgen der Lungentuberkulose.*

Die Forderungen der Angestellten nach einer Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und zur Sicherung einer ihrer Vorstellungen nach „standesgemäßer“ Existenz wurden ab den 1890er-Jahren auf politischer Ebene vor allem von liberalen, der Großindustrie nahestehenden Politikern aufgenommen. Sie standen allerdings unter dem Eindruck sozialdemokratischer Forderungen und des Entstehens von freien, also sozialdemokratisch orientierten, Gewerkschaften. Auch christlich-soziale Politiker unterstützten die „Mittelstandspolitik“. Alles in allem sollte verhindert werden, dass sich die Angestellten sozialen und politischen Forderungen der Sozialdemokratie bzw der freien, sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften anschließen würden. Ein erster Erfolg dieser oft zitierten „Mittelstandspolitik“, also der Bevorzugung der Angestellten gegenüber den ArbeiterInnen, konnte mit dem Beschluss des Angestellten-Pensionsversicherungsgesetzes für die Privatangestellten 1906 erreicht werden.* Es wurde vor dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht im Mai 1907 beschlossen. Es wurde – wie es auch Ernst Lakenbacher (1891-1967) in der von ihm verfassten „Geschichte der österreichischen Angestelltengewerkschaften“ (1967) formulierte – als ein Mittel benutzt, „um die Angestellten dem bürgerlichen Lager zu erhalten“.* Auf Seiten der sozialdemokratischen Vertreter stießen diese Zugeständnisse an die Angestellten auch deshalb auf Skepsis, weil sie einerseits die Kluft zwischen ArbeiterInnen und Angestellten zu vergrößern schienen, vor allem aber auch deshalb, weil sie der Forderung nach einer allgemeinen PV (Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung) für alle AN im Wege standen.* Erste Erfolge im Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit konnten die kaufmännischen Angestellten, die 1892 den Verein der kaufmännischen Angestellten gegründet hatten, unter ihrem sozialdemokratisch orientierten Obmann Karl Pick (1867-1938)* erzielen. Einen ersten Teilerfolg im Kampf um die volle Sonntagsruhe gab es 1897, als durch Versammlungen und Demonstrationen erreicht werden konnte, dass einige Betriebe „freiwillig“ auf die Sonntagsöffnung verzichteten. 1903 konnte durch eine Verordnung der Statthalterei von Niederösterreich erstmals der freie Sonntag erreicht werden. Zu weiteren Forderungen der sozialdemokratischen Gewerkschaften zählten die 19 Uhr-Ladensperre an Werktagen und die Verbesserung der Dienstverhältnisse der Handlungsgehilfen.* Aus organisatorischer Sicht waren diese ersten Erfolge auch insofern von Bedeutung, als sie zum Zusammenschluss der freigewerkschaftlichen Verbände der Handlungsgehilfen, des Vereines der Buchhandlungsgehilfen, der Industrietechniker, der Versicherungs- und Sozialversicherungsangestellten, der Bankbeamten und der Angestellte von Advokaten und Notariaten führten. Sie gründeten eine „Koalition“, die „Ständige Delegation der freien Angestelltengewerkschaften“, um bei der Durchsetzung von konkreten Forderungen eine gemeinsame Beratungs-, Diskussions- und gegenseitige Informationsplattform zu haben.*

2.
Das Handlungsgehilfengesetz vom 16.1.1910

Gemeinsames Ziel der in der Privatwirtschaft tätigen Bankbeamten, Industrieangestellten und Handlungsgehilfen Ende des 19. Jahrhunderts war die arbeitsrechtliche Annäherung an die öffentlichen Beamten. Nach dem Pensionsversicherungsgesetz 1906 wurde dem Angestelltenkreis mit dem „Handlungsgehilfengesetz“ – am 16.1.1910 beschlossen und am 1.7.1910 in Kraft getreten – bald eine weitere Privilegierung gegenüber der Masse der ArbeiterInnen zuteil.* Das neue Gesetz brachte dieser Gruppe der Angestellten bezahlten Urlaub im Ausmaß 157 von zehn Tagen bis zu drei Wochen (je nach Anstellungsdauer), Entgeltfortzahlung bei Krankheit für sechs Wochen sowie bei Dienstverhinderung aus wichtigem Grund eine gegenüber der Gewerbeordnung verlängerte Kündigungsfrist und die Unwirksamkeit abweichender, schlechterer Vereinbarungen. Das Gesetz etablierte rechtliche Normen, die auch international Beachtung fanden.*

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren auch die Angestellten von Massenkündigungen und Lohnkürzungen und damit – wie die ArbeiterInnen in den Fabriken und Gewerbebetrieben – vom Verlust einer gesicherten Existenz betroffen. Die „Koalition“ der freien Angestelltenorganisationen forderte daher immer wieder Schutzmaßnahmen für die Angestellten. So etwa konnte mit der kaiserlichen Verordnung vom 29.2.1916 zwei Jahre nach Ausbruch des Krieges ein beiderseitiges Kündigungsverbot von Arbeitsverhältnissen, die vor dem 25.6.1914 abgeschlossen wurden, erreicht werden. Daneben fand sich auch die Bestimmung, dass „Angestellten-Heimkehrern“ unter bestimmten Voraussetzungen das vereinbarte Entgelt für die Dauer von sechs Wochen weiterbezahlt werden musste.* Mit diesen Bestimmungen wurden aus historischer Perspektive erste Schritte zur Entwicklung des Abfertigungsanspruches getan. Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte es mit sich, dass sich Angestellte vermehrt den Gewerkschaften zuwendeten. Auch die bereits 1907 errichtete „Ständige Delegation der freigewerkschaftlichen Angestelltenorganisationen“ bestand weiter.*

„Die Masse der Angestellten war am Kriegsende proletarisiert“, diagnostizierte Ernst Lakenbacher, ihre „mittelständische Lebensführung“ war unter der „lawinenartig angewachsenen Teuerung“ zusammengebrochen.* „Vor dem Krieg war es in ihren Kreisen üblich, daß die Söhne erst im angehenden Mannesalter, die Töchter womöglich überhaupt nicht in das Erwerbsleben eintraten; die Gattin führte den Haushalt, ohne einen Beruf auszuüben, wenn möglich mit einer Haushaltshilfe, die ihr die körperliche Arbeit abnahm. Der Aufwand für diese bürgerlichen Lebensgewohnheiten wurde, wenn nötig, selbst auf Kosten der Ernährung gedeckt. Die Angestellten, gewohnt, einen wesentlichen Teil ihres Einkommens für Zwecke der äußeren Repräsentation aufzuwenden, für Kleidung, Wohnung und Wohnungseinrichtung, für höhere Schulbildung ihrer Kinder, mußten nun Schritt für Schritt die mit Opfern erkaufte mittelständische Lebensführung aufgeben. Die Hausgehilfin wurde gekündigt, auf Nachschaffungen für Kleidung und Hausrat verzichtet, die Töchter mußten einen Beruf ergreifen, wozu der Mangel an Arbeitskräften im Krieg Gelegenheit bot; schließlich fand auch die Erwerbsarbeit der Ehefrau immer häufiger Eingang in die Angestelltenfamilien. Urlaubsreisen, Bücherkäufe, Theaterbesuche unterblieben.“*
3.
Auf dem Weg zu einem neuen AngG

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Errichtung der Ersten demokratischen Republik am 12.11.1918 gab es für die junge Republik zahlreiche wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Unter dem „Sozialminister“ Ferdi nand Hanusch (1866-1923) entstand in den Jahren von 1918-1920 eine Sozialgesetzgebung, die viele Forderungen der österreichischen ArbeiterInnenund Gewerkschaftsbewegung erstmals umsetzen konnte. Dazu zählten das Kollektivvertragsgesetz (Dezember 1919), das Betriebsrätegesetz (Mai 1919), das Gesetz zur Errichtung der Arbeiterkammern (Februar 1920), das Achtstundentagsgesetz (Dezember 1919), das Arbeiterurlaubsgesetz ( Juli 1919) und das Arbeitslosenversicherungsgesetz (März 1920). Am 18.11.1918 wurden für die Angestellten Sondermaßnahmen erlassen: Sie verpflichteten Unternehmen, von den Kriegsschauplätzen heimkehrende Angestellte mit um 60 bis 120 % erhöhten Bezügen wieder an ihren früheren Arbeitsplätzen aufzunehmen. Angestellte, die bei Kriegsende noch ihren Arbeitsplatz innehatten, durften nicht gekündigt werden. Generell wurde die Kündigungsfrist von vier auf sechs und später auf 20 Wochen verlängert. Zusätzlich wurden gekündigten Angestellten Ansprüche auf eine „Abfertigung“ zugesprochen, die je nach Dienstdauer ein bis vier Monatsbezüge betrug. Diese Maßnahmen konnten dennoch nur marginal dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit bei den Angestellten einzudämmen, Massenkündigungen und Entlassungen standen weiter auf der Tagesordnung.*

Der Weg bis zur Beschlussfassung eines „neuen Angestelltengesetzes“ dauerte von Herbst 1918 bis Frühjahr 1921. Wie Walter Peissl in seiner Studie über „Das ‚bessere‘ Proletariat“ feststellte, war er von nicht weniger als zehn Vollzugsanweisungen und Verordnungen begleitet, in denen immer wieder Änderungen, die das Arbeitsverhältnis von Angestellten betrafen, vorgenommen wurden, aber dennoch nicht zu befriedigenden Lösungen führten. Dafür waren sie vielmehr von heftigen Kontroversen begleitet. Besonders heftige Debatten etwa verursachte der Versuch seitens sozialdemokratischer Abgeordneter, im Zuge einer Novelle des Handlungsgehilfengesetzes im März 1919 ein gesetzlich festgelegtes Mindestentgelt einzuführen, 158 weil im Handlungsgehilfengesetz ohne weitere Definition nur von einem „angemessenen Entgelt“ die Rede war.*

„Leider gelang es nicht, die gesetzliche Festlegung eines Mindestlohnes zu erzielen. Der diesbezügliche sozialdemokratische Antrag im Nationalrat erfuhr im Laufe der Beratungen so viel Anfechtungen von den bürgerlichen Parteien, seine Durchsetzung begegnete solchen Schwierigkeiten, daß die Antragsteller bemüßigt waren, ihn mehrfach zu modifizieren. Um wenigstens dem Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen, begnügten sie sich schließlich mit einem Antrag, der nicht mehr als den für die erste Klasse des Personaleinkommensteuergesetzes festgelegten Betrag als gesetzlichen Mindestlohn bezeichnete, welcher außerdem nur in fabriksmäßigen Betrieben, in Unternehmen anderer Art, die mehr als zwei Angestellte beschäftigen, und in Unternehmungen aller Art in Orten über 5.0000 Einwohnern hätte gelten sollen.“*
3.1.
Die Anträge Fischer und Pick

Nach dem Bruch der Koalition im Frühjahr 1920 und den Oktoberwahlen im selben Jahr zogen die Christlich-Sozialen als die stärkste Fraktion in den Nationalrat ein. Bereits in der ersten Sitzung des neugewählten Nationalrates stellten die christlich-sozialen Abgeordneten Christian Fischer, Hermannn Kletzmayr und Hans Steinegger einen Antrag auf Schaffung eines zeitgemäßen Angestelltengesetzes. Der „Antrag Fischer“, wie der christlich- soziale Antrag in der Folge genannt wurde, deckte sich im Wesentlichen mit den Vorstellungen des Zentralverbandes der christlichen Angestellten Österreichs.* Er hatte vor allem das Ziel, das Handlungsgehilfengesetz auf ein allgemeines Angestelltengesetz auszuweiten und damit neben den bisherigen Angestelltenkriterien, dem „kaufmännischen“ und dem „höheren“ Kriterium, ein drittes Kriterium, nämlich das der „Kanzleiarbeit“, einzuführen. Auch sollte der Kündigungsschutz stark ausgebaut werden. Der Anspruch auf Abfertigung sollte nach diesem Antrag nach einem dreijährigen Dienstverhältnis entstehen, aber dafür der Anspruch auf Dienstverhinderung eingeschränkt werden. Fischers Antrag enthielt auch die Forderung nach Aufnahme des Schutzes von Schwangeren und WöchnerInnen vor und sechs Wochen nach der Entbindung (ohne dass das Arbeitsverhältnis beendet werden musste), analog zu den Beschlüssen der Washingtoner Arbeitskonferenz 1919/20.

Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass die weiblichen Angestellten vor der Geburt ihres Kindes keinen Entgeltanspruch hatten, aber krankenversichert blieben. In den sechs Wochen nach der Niederkunft hatten sie Anspruch auf Entgelt. Den Urlaub betreffend wurde im neuen Entwurf das Prinzip angewendet, dass mit dem Ansteigen der Dienstjahre auch der Urlaubsanspruch steigen sollte. Während der Angestellte bis dahin nach sechsmonatiger bzw zehn- oder 15-jähriger Dienstzeit zehn Tage bzw zwei und höchstens drei Wochen Urlaub erhalten konnte, so sollte er künftig schon nach sechsmonatiger Dienstzeit Anspruch auf zwei Wochen Urlaub haben, nach fünfjähriger Dienstzeit auf drei Wochen, nach zehn Jahren auf vier Wochen und nach 25 Jahren auf fünf Wochen.*

Der von den sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Pick, Heinrich Allina, Emil Baumgärt(e)l und Genossen eingebrachte Antrag, in der Folge als „Pick-Antrag“ bezeichnet, hatte vielmehr den Charakter einer Novelle zum Handlungsgehilfengesetz und behielt auch dessen Paragraphierung und Systematik bei.* Er schlug im Wesentlichen die gleichen Kategorien von DN und DG für die Einbeziehung in den Geltungsbereich des Gesetzes vor und beschränkte sich, abgesehen von einigen wenigen Neuerungsvorschlägen, darauf, bisherige Forderungen zu wiederholen: etwa jene nach einem Mindestlohn, die Änderung der Kündigungsverhältnisse, die Sicherstellung der Abfertigung und den Kampf gegen die Praktik der Unternehmer, Informationen über neu einzustellende Personen auszutauschen.*

Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Anträge setzte der Ausschuss für soziale Verwaltung, in dem der christlich-soziale Abgeordnete Richard Schmitz* zum Referenten gewählt wurde, einen Unterausschuss ein, dem auch die sozialdemokratischen Abgeordneten Heinrich Allina und Karl Pick, der Christlich-Soziale Matthias Partik und der Großdeutsche Viktor Zeidler angehörten. Erste Aufgabe war es, eine Enquete einzuberufen, die am 13.12.1920 und am 7./8.1.1921 abgehalten wurde. Laut dem Christlich-Sozialen Richard Schmitz gestalteten sich die Verhandlungen „sehr lebhaft, manchmal sogar etwas zu lebhaft“.*„Die Argumente, die bei der Enquete von den Vertretern der Dienstgeber vorgebracht wurden, wiederholten sich zumeist in den zahlreichen Beschlüssen, Zuschriften, Kundgebungen, Telegrammen und Vorsprachen von Abordnungen, die in der Folgezeit über den Referenten hereinbrachen. Sämtliche Handels- und Gewerbekammern, kaufmännische Gremien, Industriellenverbände usw. beschäftigten sich mit den Anträgen Fischer und159Pick. Eine Zeitlang sahen die Organisationen der Angestellten und ihrer Vertretungen dem Feldzug der Unternehmerschaft zu, dann aber regnete es auch von Seiten der Angestelltenorganisationen und Gehilfenausschüsse Telegramme, Kundgebungen und Deputationen“, so schilderte Schmitz die Stimmung der Enquete weiter.*

In den Debatten wiederholte sich auch oftmals die Position, dass sich das Angestelltenrecht weniger auf die gesetzliche Ebene, sondern vielmehr auf die kollektivvertragliche Ebene verlagern sollte, wogegen die Angestelltenvertreter argumentierten, dass sich die Unternehmen viel zu oft weigern würden, Kollektivverträge abzuschließen (wie etwa bei den Rechtsanwälten, Zahntechnikern und Zahnärzten) und daher immer wieder Sondervereinbarungen abgeschlossen werden müssten und daher eine Regelung auf gesetzlicher Ebene angestrebt werden müsse.*

Besonders heftige Debatten wurden über den Pick- Antrag geführt, der weiterhin die Forderung nach Einführung von Mindestgehältern beinhaltete. Zwar rechneten beigezogene Experten der Wiener kaufmännischen Krankenkassen vor, dass im Dezember 1920 in Wien ua 20.328 kaufmännische Angestellte ein monatliches Einkommen von bis zu 2.000 Kronen, 14.647 ein Einkommen von bis zu 1.600 Kronen, aber nur 2.500 ein Monatseinkommen von bis zu 700 Kronen und 207 Angestellte ein Einkommen von nur 300 Kronen monatlich erhielten, daher nur eine geringe Anzahl von AN Anspruch auf ein Mindestgehalt bekommen würde. Doch mit dem Zwischenruf „Es gibt überall Lumpen“ wurde seitens eines namentlich nicht genannten Vertreters dahingehend argumentiert, dass diese Zahlen, die aus den Anmeldungen der Krankenkassen hervorgehen würden, insofern nicht vollständig seien, weil darin weder die Naturalbezüge noch die Zahl der nebenbeschäftigten Angestellten aufscheinen würden.* Weitere schwere Bedenken seitens der Unternehmer betrafen die mögliche Gefahr des Simulantentums, das durch den Anspruch auf gesteigerte Dienstverhinderung ausgelöst werden würde. „Gegen diese Möglichkeit müsse ausreichende Vorsorge getroffen werden.“ Aber auch Themen wie die Bucheinsicht und die Berechnung der Naturalbezüge stießen auf Widerstand. Aufgrund der zeitaufwendigen Verhandlungen, die sich schließlich bis Ende Jänner 1921 hinzogen, sah sich der Christlich-Soziale Richard Schmitz, der – wie bereits erwähnt – im Sozialausschuss zum Referenten für die Anträge Fischer und Pick gewählt worden war, veranlasst, einen neuen Entwurf auszuarbeiten.*

3.2.
Der „Schmitz-Entwurf“

Der neue Entwurf behielt im Gegensatz zu Fischer die Systematik des Handlungsgehilfengesetzes aus dem Jahr 1910 bei – mit Ausnahme des § 23, der die Auswirkungen der Konkurseröffnung auf das Dienstverhältnis behandelt. In Anlehnung an den Pick-Entwurf ebenfalls beibehalten wurde die Paragraphierung des Handlungsgehilfengesetzes, um so die Handhabung für Laien wie auch für Fachleute zu gewährleisten. Geändert wurde die Benennung des Gesetzes, war doch nunmehr von „Angestellten“ die Rede und nicht mehr wie im Handlungsgehilfengesetz von einzelnen Berufsgruppen. Bis dahin waren für den Personenkreis, der unter dem Schutz des Handlungsgehilfengesetzes stand, zwei Kriterien maßgebend: das der Leistung kaufmännischer Dienste und das Kriterium höherer, nicht kaufmännischer Dienste. Das neue Gesetz sollte als drittes Kennzeichen die Kanzleiarbeit enthalten.* Die Tendenz ging also dahin, möglichst alle Angestellten unter den Schutz des neuen Gesetzes zu stellen, also auch jene Bereiche, auf welche die Gewerbeordnung nicht angewendet wurde, wie etwa Angestellte von Kreditanstalten, Schriftleitung, Verwaltung oder Verschleiß einer periodischen Druckschrift, Kanzleien der Rechtsanwälte und Notare, aber auch Unternehmungen von Vereinen (Verbänden) und Stiftungen jeder Art, des Weiteren von Angestellten von Ärzten, Zahntechnikern, Privatheil- und Pflegeanstalten, Kirchenanstalten und Angestellten im Bergbau.

Durch die Formulierung „sofern das Dienstverhältnis die Erwerbstätigkeit des Angestellten hauptsächlich in Anspruch nimmt“ (§ 1 des AngG), ergab sich allerdings die Tatsache der Ausgrenzung eines anderen Teils der Angestellten, also jener, die nur nebenberuflich als Angestellte tätig waren.*Peissl sieht in seiner Studie den Grund für diese Ausgrenzung in der Weiterführung des „Konzeptes der Mittelstandspolitik“. „Sachlich gerechtfertigt erscheint diese Beschränkung deshalb nicht, da nicht einzusehen ist, warum der Qualifikation der ‚kaufmännischen‘ oder ‚höheren‘ Dienste weniger Beachtung geschenkt werden sollte, wenn diese nicht dauernd ausgeübt werden. Viel mehr als das Kriterium der ‚höherwertigen‘ Tätigkeit scheint hier der Gedanke der ‚mittelständischen Lebenshaltung‘ vorrangig gewesen zu sein.“*

Dem neuen Entwurf zufolge sollte zum Schutze der Angestellten der Anspruch auf das Entgelt bei Verhinderung durch Krankheit oder Unglücksfall gegenüber dem bisherigen Recht auf sechs Wochen erhöht werden. Mit der Dauer der Dienstzeit sollte sich dieser Anspruch auf ein Entgelt für acht, zehn bzw zwölf Wochen erhöhen. Neu sollte auch sein, dass der Angestellte für weitere vier Wochen den 160 Anspruch auf das halbe Entgelt bekommen sollte. Im Wiederholungsfall innerhalb eines Jahres sollte dieser Anspruch auf die Hälfte reduziert werden. Auch wurden in den neuen Entwurf die einschlägigen Beschlüsse der Washingtoner Arbeitskonferenz des Völkerbundes betreffend den Schutz der weiblichen Angestellten während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgenommen. Den Urlaub betreffend wurde im neuen Entwurf das Prinzip angewendet, dass mit dem Ansteigen der Dienstjahre auch der Urlaubsanspruch steigen sollte. Während der Angestellte bisher nach sechsmonatiger bzw zehn- oder 15-jähriger Dienstzeit zehn Tage bzw zwei und höchstens drei Wochen Urlaub erhalten konnte, so sollte er künftig nach sechsmonatiger Dienstzeit bereits Anspruch auf zwei Wochen haben, nach fünfjähriger Dienstzeit auf drei Wochen, nach zehn Jahren auf vier Wochen und nach 25 Jahren auf fünf Wochen Urlaub.*

4.
„Ein neuer Meilenstein auf dem Wege“ – der „Schmitz- Entwurf“ wird angenommen

Nach der im Wesentlichen unveränderten Annahme des Entwurfes des christlich-sozialen Abgeordneten Richard Schmitzim Unterausschuss folgte von 7. bis 18.3.1921 die Beratung im Ausschuss für soziale Verwaltung, der an den Beschlüssen des Unterausschusses noch eine Reihe von Änderungen vornahm. Am 11.5.1921 schließlich wurde der Ausschussantrag aufgrund des Berichtes von Richard Schmitz mit geringen Änderungen im Nationalrat zum Beschluss erhoben. Mit diesem Tag erlosch auch die Wirksamkeit des Handlungsgehilfengesetzes vom 16.1.1910.* Seitens der christlich-sozialen Partei zeigte man sich höchst zufrieden. Der Abgeordnete Schmitz, federführend am Gesetzesentwurf beteiligt, meinte:

„Wenn man das Handlungsgehilfengesetz des Jahres 1910 mit Recht als einen bedeutsamen Fortschritt des sozialrechtlichen Schutzes der Angestellten, als einen mustergültigen Fortschritt der Angestellten- Sozialpolitik im Wege der Gesetzgebung bezeichnet hat, wenn man im Jahre 1910 das Handlungsgehilfengesetz als eine Ruhmesleistung Österreichs auf diesem Gebiete bezeichnet hat, dann bin ich so unbescheiden zu behaupten, daß auch dieses Gesetz die gleiche Charakterisierung verdient.“*

Weniger enthusiastisch über den Gesetzesentwurf zeigte sich Karl Pick, Obmann des Zentralvereines der kaufmännischen Angestellten und einer der Hauptstreiter für die Neugestaltung des Angestelltengesetzes auf sozialdemokratischer Seite. Trotzdem sah er in dem Gesetz einen wichtigen Schritt für die weitere Entwicklung des Angestelltenrechtes: „Trotz alledem sei wiederholt, daß dieses Gesetz von uns als eine brauchbare Basis für die weitere Entwicklung des Angestelltenrechtes angenommen wird.“* An anderer Stelle schließlich bezeichnete es Pick als einen „neuen Meilenstein auf dem Wege“ der „sich ihrer Würde und ihrer Rechte bewußten arbeitenden Menschen“.*

Das Angestelltengesetz von 1921 kann – abgesehen von einigen wenigen Novellierungen – nach wie vor als eines der „fortschrittlichsten Sozialgesetze der Welt“ bezeichnet werden.* Dennoch blieb es – wie Günther Löschnigg in der Einleitung zum Angestelltengesetz es formulierte – „ein Sondergesetz für eine Arbeitnehmergruppe, hat aber stets eine Vorreiterrolle für das gesamte Arbeitsrecht übernommen“.*161